Wir erinnern uns an die Unruhen in Budapest im Herbst 2006. Nach der Veröffentlichung einer Rede des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, in der dieser zugegeben hatte, das Volk vor der Wahl „morgens, mittags und abends belogen“ zu haben, gingen zahlreiche Anhänger der Opposition in Budapest auf die Straße, um für den Rücktritt des MP zu demonstrieren. Auch Rechtsradikale und Hooligans nutzten die Gelegenheit und verübten einen beispiellosen Angriff auf das Gebäude des ungarischen Radios, das teilweise in Brand gesetzt wurde. Zahlreiche Polizeibeamte und Randalierer wurden verletzt. Nach diesem Auftakt kam es in den folgenden Tagen fast täglich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Am 23. Oktober 2006, dem 50. Jahrestag des Volksaufstandes, wurden auch friedliche Demonstranten im Zuge übermäßiger Gewaltanwendung durch die Polizeibeamten verletzt.
Am Nachmittag des 23.10.2006 kam es am „Astoria“ zu einer Kundgebung der damals oppositionellen Partei Fidesz. Hierbei kam es zu einem folgenschweren taktischen Fehler der Polizei: Die Ordnungskräfte näherten sich von der Andrássy- und Bajcsy-Zsilinszky-Straße in Richtung Déák-Platz, an dem sich erneut rechtsradikale Randalierer versammelt hatten (das Bild eines alten Sowjetpanzers, der von einem Randalierer kurzgeschlossen wurde und ca. 50 Meter in Richtung Polizei fuhr, ging um die Welt…). Die Randalierer wurden von der Polizei nun just in die Richtung getrieben, in der die Fidesz-Veranstaltung stattfand, anstatt die beiden Mengen voneinander zu trennen. Das Ende des Polizeieinsatzes war, dass die Polizei, auf der Jagd nach den Randalierern, mit Tränengas in die sich auflösende friedliche Fidesz-Veranstaltung schoss. Der Hinweis auf diesen tragischen Ablauf wird von Frau Balogh als „propaganda campaign orchestrated by Zoltán Balog, the Hungarian Reformed minister and Fidesz member of parliament, and Krisztina Morvai, Jobbik member of the EU parliament„, kommentiert.
Seit 2006 versucht das linke Lager in Ungarn nebst seiner Sympathisanten zu suggerieren und Belege dafür zu finden, Viktor Orbán persönlich habe die gewalttätigen Demonstranten gelenkt. Bislang fehlen stichhaltige Beweise für derartige Behauptungen. Gleichwohl wärmt das betont Fidesz-kritische englischsprachige Blog „Hungarian Spectrum“ der ungarischstämmigen, in den USA lebenden Politologin Éva S. Balogh, die Thematik wieder einmal auf.
http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2011/01/was-viktor-orb%C3%A1n-behind-the-coup-attempt-on-october-23-2006.html
Unter Hinweis auf angebliche „Beweise“, nämlich die Mitteilungen zwischen der US-Botschaft in Budapest und dem US-Außenministerium, wird bereits im Titel suggeriert, Orbán könne persönlich hinter einem „Putschversuch“ gestanden haben. Die „Beweise“ erschöpfen sich in der Verlinkung eines Artikels der internationalen Online-Ausgabe des Spiegels. Dort werden zwei Dokumente der US-Botschaft wiedergegeben, in denen es heißt:
„5. (C) Comment: Although the ultimate disposition of the land around Parliament is an issue, the opposition’s latest actions add little to either the substance or the tone of the debate. With the recent release of a lengthy report on the fall demonstrations which highlights FIDESZ’s links to the violent protestors (ref b), their latest act of „civil disobedience“ will likely underscore questions regarding their commitment to the rule of law. Much as we saw Viktor Orban at his best in a recent meeting with Ambassadors (ref a), this escapade shows that he is still equally liable to play with fire. End Comment.“
„1. (C) SUMMARY. Opposition Fidesz party leader Viktor Orban is clearly confident of his victory in April’s upcoming national elections in which he hopes to crush the Socialist party. He is also confident that he can defeat any challenge by Jobbik, telling the Ambassador in their January 19 meeting that „The best defense against the extreme right is good governance by the center-right.“ The Ambassador welcomed the opportunity to work with Orban if his party wins the election as expected. END SUMMARY.“
Sowohl im Spiegel-Artikel als auch auf Hungarian Spectrum werden unter Hinweis auf das Botschafts-Telegramm „Verbindungen von Fidesz zu gewalttätigen Demonstranten“ behauptet. Näheres zum Vorwurf, Orbán stecke hinter einem gewaltsamen Putschversuch, erfahren wir jedoch aus der als „Comment“ bezeichneten Mitteilung des Botschaftsmitarbeiters nicht.
Die Kritik gegenüber Orbán im Jahre 2006 ging dahin, er habe sich nicht ausdrücklich von den radikalen Demonstranten distanziert. Dies wurde in den (damals) regierungsfreundlichen Medien als „Spiel mit dem Feuer“ bezeichnet. Auch die Abhaltung einer Veranstaltung in der Innenstadt trotz der Tatsache, dass sich zuvor mehrfach gewaltsame Auseinandersetzungen ereignet hatten und wieder drohten, kann man ohne weiteres sachlich kritisieren. Allerdings sind Vorwürfe, Orbán oder Fidesz hätten persönlich mit Gewalttätern in Kontakt gestanden und hätten diese gelenkt, bislang nicht erwiesen. Trotzdem scheint das Konzept der vielfachen Wiederholung nach wie vor en vogue und manch einem Orbán-Opponenten in Zeiten (nicht immer unberechtigter) Kritik an Ungarns Regierung im Zusammenhang mit dem umstrittenen Mediengesetz jedes Mittel recht, Orbán anzuschwärzen. Der Zweck heiligt offenbar jedes Mittel.
Die Frau Balogh wohlgesonnenen Kommentatoren ihres Beitrages sparen insoweit auch nicht mit Kritik:
Trotz aller Kritik an Orbán sind Versuche, ihn in die Richtung eines gewaltsamen Putschversuches zu drängen, auf Basis des bekannten Tatsachenmaterials neben der Sache. Der Mann wurde demokratisch gewählt.
„I have to agree with the critics this time.
1. There was no coup attempt, although the radical rightwingers attacking the TV building might have been so delusional to think they were staging a revolution.
2. There is not a shred of real evidence that Orbán was behind an attempted uprising at October 23, even though every sensible person (including it seems the US embassy in its cable) said that organising a meeting so close to the centre was playing with fire. Sure, he was condoning and even encouraging unrest in the streets hoping that would force the government to resign. But irrisponsible this may be, it is no coup attempt.
3.Even if some radical rioters were trying to lure the police towards the peacefull demonstration (and that is a big if) they could only do so because the police was foolish enough to let them. They could easily have cordonned off Parliament and leave it at that untill well after the Fidesz demo was over. But they didn’t because they had no clue about crowd control and dealing with riots.
Posted by: Hank | January 05, 2011 at 09:51 AM“
Und weiter:
„A coup attempt? Come on, let’s not follow the great Central-European tradition of conspiracy theories. I’m not an Orbán fan, and I’m sure he didn’t mind, and even considered there would be violence on October 23, as it would weaken the government. But this is ridiculous. Those extreme rightists had a revolution in mind, certainly, and it was a nasty afternoon. But in the end, they were a handful of people who dragged other people into the violence. Riots happen. But had Orbán planned a coup, he would have needed some support of armed forces, police or army, which he clearly didn’t have, and I doubt that he ever tried to get such support. Gosh, according to Wikileaks, the diplomats said that Orbán played with fire. Seems an absolute proof he attempted a coup. I think that many correspondents also wrote something along that line, but they were certainly not thinking about a coup. I like this blog, but please, get real.
Posted by: Leeflang | January 05, 2011 at 12:16 PM“
Quelle: http://esbalogh.typepad.com/hungarianspectrum/2011/01/was-viktor-orb%C3%A1n-behind-the-coup-attempt-on-october-23-2006.html