Ungarische Moralapostel: Dichtung und Wahrheit

Eine derjenigen oppositionsnahen Personen des öffentlichen Lebens, die sich seit Anbeginn mit großem Impetus gegen das Mediengesetz wenden und Ungarns Regierung kritisieren, ist Tibor Bakács. Der 1959 geborene Journalist arbeitete unter anderem für die linksliberale Zeitung Élet es Irodalom (ÉS), Tilos Rádió und die Zeitschrift Magyar Narancs. Zuletzt arbeitete er bei der auf Facebook intiierten Kampagne „1 Million für die Pressefreiheit“ mit, wo sich Gegner des ungarischen Mediengesetzes vernetzten. Zudem ist er Moderator bei Klubrádió.

Das Image der moralisch integeren Person des öffentlichen Lebens erhielt bereits im Jahr 2004 erste Kratzer, als sich herausstellte, dass Bakács über einen Zeitraum von sechs Jahren Steuern und Sozialabgaben hinterzogen hatte. In der vergangenen Woche nun ein erneuter Schlag: Bakács wurde beim Ladendiebstahl in einem Tecso-Markt nahe Budapest erwischt. Er hatte eine Salami eingesteckt.

Viel interessanter als ein einfacher Ladendiebstahl eines Prominenten ist der peinliche pseudointellektuelle Versuch der Bakács-Verteidiger, die Tat des Kollegen und Freundes in höhere moralische Sphären zu heben. Zwei Kostproben:

Verebes István: „Er glaubt, dass er ohne nachzudenken eine Stange Salami gestohlen hat. Ich glaube hingegen, dass Bakács nur unterbewusst gegen das Elend derer, die in seiner Situation sind, protestieren wollte.“

Iván Andrassew: „In Wirklichkeit ist er verarmt. Warum er die Grenze überschritt, weiß ich nicht. Er könnte ja auch wütend gewesen sein. Verreckt doch, ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, ich bin wahnsinnig berühmt, und kann mir nicht einmal eine Salami leisten.“

Der unbedeutende Fall der Bakács-Salami zeigt eine bemerkenswerte Eigenschaft in den politischen Lagern Ungarns. Man ist bereit, alles zu bagatellisieren, wenn der Täter einem nur politisch nahesteht. Das kann einmal ein Salamidiebstahl, ein anderes Mal ein gegen die Gesetze verstoßendes Großprojekt sein.

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Korruptionsverdacht gegen hochrangige Politiker und Beamte der Vorgängerregierung

Die Zentrale Ermittlungsstaatsanwaltschaft untersucht derzeit ein während der Vorgängerregierung Gyurcsány initiiertes Immobiliengeschäft, welches dem Staat einen Schaden in zweistelliger Millionenhöhe verursacht haben könnte.

Es geht um das ungarische Außenhandelsbüro in Moskau. Dieses war 2008 vom ungarischen Botschafter in Moskau – nach Presseberichten ohne entsprechende Vollmacht – zu einem Preis von knapp 13 Mio EUR (3,5 Mrd. Forint) an eine in Luxemburg registrierte Offshore-Gesellschaft namens „Diamond Air“ mit unbekanntem Eigentümerkreis veräußert worden. Der tatsächliche Wert des Objektes soll mehr als das Dreifache dieses Wertes (11 Mrd. Forint) betragen haben.

Die Veräußerung der Immobilie erfolgte nach bisherigen Erkenntnissen unter Verletzung der einschlägigen Vorschriften, da eine  ordnungsgemäße Ausschreibung nicht erfolgt ei. Man habe vielmehr die Ausschreibung erst nachträglich durchgeführt, um den falschen Eindruck zu erwecken, dass die Verwertung noch nicht stattgefunden habe.

Ermittlungen wurden eingeleitet gegen den früheren Leiter der Privatisierungsbehörde, Miklós Tátrai, die ehemalige Staatssekretärin im Außenministerium Márta Fekszi Horváth and den damaligen Botschafter Ungarns in Moskau, Árpád Székely. Die Verdächtigen befinden sich derzeit wieder auf freiem Fuß, ein Haftgesuch der Staatsanwaltschaft wurde vom zuständigen Budapester Gericht vorerst mangels Flucht- und Verdunkelungsgefahr abgelehnt.  Zuvor waren die Privatwohnungen der Verdächtigen, die jede strafbare Handlung bestreiten, durchsucht worden.

Die luxemburgische Offshore-Gesellschaft soll das Gebäude zwischenzeitlich an die russische Staatsverwaltung eiter veräußert haben. Nach einem Bericht der russischen Zeitung Vedomosti soll der gezahlte Kaufpreis das Siebenfache des von Ungarn erzielten Kaufpreises betragen haben.

Der Außenamts-Staatssekretärin Fekszi Horváth wird vorgeworfen, trotz Wissens um die Umstände des Immobiliengeschäfts dieses „gedeckt“ zu haben. Dokumenten zufolge  hat sie – den Botschafter über den „außergewöhnlich niedrigen Kaufpreis“ informiert, ihn aber um „absolutes Stillschweigen“ gebeten.

Links:

http://www.politics.hu/20110209/former-ambassador-state-secretary-national-asset-manager-detained-over-sale-of-state-property-in-russia

http://www.themoscowtimes.com/news/article/ex-envoy-in-real-estate-swindle/430729.html

http://index.hu/kulfold/2011/02/11/moszkvaban_is_all_a_bal_a_volt_kulugyi_kirendeltseg_miatt/

Esztergom: „Schwarze Liste“ mit vermeintlichen Gegnern des ehemaligen Stadtrates entdeckt

Wie das Online-Newportal politics.hu berichtet, wurde in einem Safe im Büro des ehemaligen Vizebürgermeisters von Esztergom, József Németh (Fidesz), eine Liste von 50 „missliebigen“ Personen entdeckt, die in Streitigkeiten mit dem früheren Stadtrat verwickelt waren.

Die Liste enthält unter anderem die Namen von Staatssekretär Pál Völner (Fidesz), seiner Stabschefin und ihres Ehemanns, eines Lehrers am Esztergomer Szent István Gymnasium, das von der Stadtverwaltung geschlossen worden war. Vertreten sind auch die stellvertretende Direktorin der Schule und ihr Ehemann, die beide kritische Artikel über den ehemaligen Bürgermeister Tamás Meggyes verfasst hatten, sozialistische Abgeordnete aus dem Komitat Kómárom-Esztergom, Unternehmer, Sportfunktionäre, Leiter kirchlicher Schulen und Mitglieder der Anti-Meggyes-Zivilbewegung.

Eine Bürgermeisterkette im Wert von 825.000 Forint (ca. 3.000 EUR), die bereits seit Jahren als verschollen galt, wurde ebenfalls in dem Safe entdeckt, wie die unabhängige Bürgermeisterin von Esztergom, Éva Tétényi, dem Radiosender Infórádió am Donnerstag berichtete.

Laut Tétényi wurde der Safe im Büro des Fidesz-Vizebürgermeisters Németh seit der Übergabe der Verwaltung im Oktober 2010 nicht geöffnet, da die Schlüssel nicht auffindbar gewesen seien.

Németh zufolge gehöre der Safe nicht ihm, sondern sei Teil des Büros. Der Schlüssel sei im Sekretariat verwahrt worden, er wisse nicht, welche Dokumente gefunden worden seien.

Der frühere Bürgermeister Meggyes (Fidesz) war im Oktober 2010 abgewählt worden, nachdem er wegen seiner autoritären Amtsführung und Vorwürfen der Vetternwirtschaft bereits mehrfach in die Kritik geraten war. Erst vor kurzem wurde bekannt, dass die Stadt zahlreiche Prozesse von Meggyes und dem Publizisten Zsolt Bayer finanziert. In den meisten Fällen geht es um den Vorwurf der Verleumdung. Bayer hatte Meggyes mehrfach die Möglichkeit gegeben, Anschuldigungen gegen seine Person in seinen Sendungen zurückzuweisen.

Der Stadtrat von Esztergom wird nach wie vor mehrheitlich durch Fidesz bestimmt. Tétényi bemängelt die Blockadepolitik der Mehrheit und plädiert für Neuwahlen.

Der Meggyes-kritische Blog „Meggyes a hibás“ („Meggyes ist schuld“), dessen Macher ebenfalls auf der Liste steht, formuliert es trefflich mit den Worten: Willkommen in den 50er Jahren. Eine passende Anspielung auf die Spitzelmethoden der finsteren Rákosi-Ära.

Esztergom ist die ehemalige Krönungsstadt des Königreichs Ungarn. Sie liegt am Donauknie an der ungarisch-slowakischen Grenze und ist Heimat der größten Kathedrale des Landes (St. Stephan). Die auf der anderen Donauseite gelegene Stadt Štúrovo (ung. Párkány) wird seit dem Jahr 2001 wieder durch eine Brücke mit Esztergom verbunden. Die Brücke (Maria-Valeria-Brücke) war im 2. Weltkrieg zerstört und fast 60 Jahre lang nicht mehr aufgebaut worden; ihre Wiederrichtung wurde maßgeblich mit EU-Darlehen aus dem PHARE-Programm finanziert. An die gespenstisch anmutende unterbrochene Brücke erinnern sich die Bürger beider Städte und viele Besucher noch heute.

Links:

Paul Lendvai kritisiert „Ungarns Marsch nach rechts“

Der ungarischstämmige österreichische Publizist Paul Lendvai hat in einem längeren Beitrag in der WELT die Entwicklungen in Ungarn kritisiert.

http://www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article12515720/Ungarns-Marsch-nach-rechts.html

Bereits in der Einleitung behauptet Lendvai, die Fidesz-Partei Orbáns habe „jahrelang nichts gegen Judenhass“ unternommen und verhalte sich auch jetzt passiv. Dass die Stärkung der rechtsradikalen Partei Jobbik gerade in der Zeit der sozialliberalen Koalition erfolgte und sich die Wähler dieser Strömung in der Gesellschaft nach überwiegender Auffassng gerade aus dem sozialistischen Lager rekrutieren, ist Lendvai – wie schon in der Vergangenheit – keiner Betonung wert. Ebenso wenig der Umstand, dass seit Antritt der Regierung Orbán Aufmärsche der rechtsradikalen „Ungarischen Garde“ nicht mehr zum alltäglichen Bild gehören und die Jobbik seit Mitte 2010 deutlich in der Wählergunst abgenommen hat.

Zutreffend ist Lendvais Analyse im Hinblick auf die „kollektive Amnesie“ Ungarns im Hinblick auf den 2. Weltkrieg und den Holocaust. Bis heute wird die eigene Geschichte verharmlost und die Verantwortung auf die Deutschen abgeschoben, obgleich es in Ungarn zahlreiche Profiteure und Kollaborateure Hitlerdeutschlands gab. Diese kollektive Amnesie, die schon kurz nach dem 2. Weltkrieg begann und darauf aus war, das „Volk“ zu entlasten und Feindbilder anderswo zu suchen, wurde jedoch gerade im Kommunismus gepflegt. Gemeinsam mit einer betont propagandistischen Sichtweise auf das autoritäre Horthy-System („Horthy-Faschismus“) bildete gerade diese Phase in der ungarischen Geschichte die Grundlage des bis heute vorherrschenden „kollektiven Vergessens“.

Darüber hinaus vergisst Lendvai, dass es dieses „Vergessen“ nicht nur im Hinblick auf die Holocaust-Opfer gibt. Teile der ungarischen Gesellschaft (insbesondere linke Kreise) kritisieren etwa bis heute, dass den Opfern des Kommunismus mit der Erweiterung des „Holocaustleugnungsparagraphen“ auf die Verbrechen des Kommunismus ein ebenbürtiger Schutz vor Verharmlosung und Verleumdung gewährt wurde. So wurde im liberalen Klubrádió die These vertreten, eine Erweiterung des Paragraphen sei inakzeptabel, denn anders als Juden hätten die Opfer des Kommunismus ja die Wahl gehabt, sich der Bewegung anzuschließen. Somit sei jeder, der Opfer des Kommunismus wurde, in gewisser Weise selbst dafür verantwortlich. Dass durch die Strafbarkeit beider Tatbestände gar keine Gleichsetzung erfolgt, sondern nur ebenbürtiger Schutz der Opfer gewährt wird, wird dabei fast routinemäßig verschwiegen.

Die Analyse Lendvais ist in vielen Punkten korrekt (vor allem im Hinblick auf das unsägliche Schweigen des Fidesz zu den antisemitischen Auswürfen des Fidesz-nahen Publizisten Zsolt Bayer), jedoch – wie gewohnt – lückenhaft und sehr einseitig. Die Botschaft ist klar: Verantwortlich für Judenhass muss Fidesz sein. Es werden nur wenige Tage vergehen, bis im liberalen TV-Sender ATV die Aussagen Lendvais unter der Einleitung „die konservative WELT schrieb…“ multipliziert werden wird.

Immerhin verkündet Lendvai ganz offen, dass auch er diejenigen, die heute in Ungarn das Sagen haben („regieren“?), als „Gesindel“ betrachtet („Wie Schiff treffend formulierte, sei es das große Glück des Gesindels, das derzeit das Sagen hat, dass nur wenige Beobachter in Europa ungarisch verstehen.“). Über die Motive des einen oder anderen Beitrags dürfte somit ab heute kein Zweifel mehr bestehen.

Als Ausgleich sei der Beitrag von Andreas Oplatka empfohlen.

Staatspräsident ruft alle Parteien zur Teilnahme am Verfassungsgebungsprozess auf – MSZP bleibt bei „Nein“

Das ungarische Staatsoberhaupt hat die im Parlament vertretenen Parteien zur Teilnahme am Verfassungsgebungsprozess aufgefordert. Wie Pál Schmitt nach den Gesprächen mit den Fraktionsvorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien gegenüber MTI verlautbarte, enthielten alle von den Parteien eingebrachten Verfassungsentwürfe wichtige und wertvolle Elemente. Er habe die Vertreter der Fraktionen deshalb zu sich gerufen, um sich über die Vorstellungen der Parteien und über den Ablauf des Verfassungsgebungsprozesses zu informieren.

Pál Schmitt rief alle Parteien dazu auf, sich am Verfassungsgebungsprozess, so auch an der Parlamentsdebatte, zu beteiligen. Keine Partei dürfe sich dem laufenden Verfahren entziehen.

Attila Mesterházy, der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten, hat indessen die Teilnahme seiner Partei ausgeschlossen. Man werde den „Systemwechsel à la Orbán“ nicht unterstützen. Zoltán Balczó (Jobbik) sagte zwar die Teilnahme seiner Partei an der Debatte zu, die neue Verfassung würde man jedoch nicht mittragen. Die ebenfalls oppositonelle LMP will sich über die Art und Weise der Mitarbeit am Wochenende entscheiden; man sehe aber die grundsätzliche Gefahr, dass Fidesz weitere Verfassungshürden, die der Regierung entgegenstehen, abbaue.

Der Vorsitzende der Fidesz-Fraktion, János Lázár, teilte in einer Pressekonferenz mit, er wünsche sich, dass alle Parteien ihre Verfassungsvorschläge bis zum 15. März 2011 fertig- und sodann zur Debatte stellen. Man plane keinen „Verfassungspakt“, sondern eine in aller Öffentlichkeit abgehaltene Parlamentsdebatte. Eine Volksabstimmung ist für Fidesz nach wie vor kein Thema.

Derzeit ist geplant, die neue Verfassung am 18.04.2011 zu beschließen.

http://tv2.hu/tenyek/video/elobbre-hozott-alkotmanyozas-tenyek-riport

Fidesz-Fraktionschef verzichtet auf Luxuslimousine

János Lázár, Vorsitzender Fidesz-Parlamentsfraktion und Bürgermeister von Hódmezövásárhely, verzichtet auf die von ihm bislang dienstlich genutzte Luxuslimousine des Typs Audi S8 (hungarianvoice berichtete). Lázár teilte auf einer Pressekonferenz mit, er werde das Fahrzeug innerhalb von zwei Wochen zurückgeben und in Zukunft keinen Dienstwagen mehr in Anspruch nehmen. Die Entscheidung, die nach einer gemeinsamen Sitzung der Fidesz-KDNP-Fraktion in Siófok fiel, begründete er mit dem Willen, das Vertrauen der Bürger in die Handlungen der Politik zu stärken.

Das Thema hatte in den vergangenen Wochen für einige Irritationen gesorgt, da Fidesz – noch in der Opposition – das Thema „Luxusdienstwagen“ als ein „Reizthema“ gegen die bis 2010 regierenden Sozialisten einsetzte. Es ist nicht auszuschließen, dass der Aufruhr um das 450 PS starke Fahrzeug auf der Fraktionssitzung thematisiert und Lázár zur Rückgabe bewegt wurde.