Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte in ihrer Online-Ausgabe vom 08.04.2011 ein Interview mit dem in Italien lebenden Pianisten András Schiff. Das Gespräch mit dem gebürtigen Ungarn führte Alex Rühle.
http://www.sueddeutsche.de/kultur/ungarn-andrs-schiff-im-gespraech-leute-werden-kaltgestellt-1.1082634
Der Geist des Interviews spiegelt sich am besten in folgender Passage wider:
„SZ: Am 18. April bekommt Ungarn eine neue Verfassung. Die Präambel heißt „Nationales Glaubensbekenntnis“, darin werden der ungarische Nationalstolz und der Stolz auf das tausendjährige ungarische Reich beschworen.
Schiff: Hm, tausendjähriges Reich, da war doch was. Ich komm‘ nur gerade nicht darauf. Nein, ernsthaft: Mir wird übel, wenn ich das höre. Das passt nicht zu Europa. Ich glaube an Europa, nicht an ein tausendjähriges Reich. Und Ungarn ist ein Schmelztiegel aus Asiaten, Juden, Slawen, Balten, Mitteleuropäern. Ich verstehe diesen Nationalismus nicht. Wir sind doch nicht beim Hundezüchter.“
Die SZ bleibt ihrem Stil in der Ungarn-Berichterstattung treu. Tatsächlich beschwört das „Nationale Glaubensbekenntnis“ nicht das „tausendjährige ungarische Reich“. Es verweist jedoch auf die Gründung Ungarns vor tausend Jahren durch den Staatsgründer, den Heiligen Stephan, und darauf, dass dieser den Staat auf ein „solides Fundament gestellt hat“. Zu diesem soliden Fundament gehörten übrigens alle damals im Land lebenden Volksgruppen und Nationalitäten: Ungarn war zu diesem Zeitpunkt ein multikultureller Staat. Den Begriff „Tausendjähriges Reich“, einen klaren Nazi-Vergleich, nimmt Schiff trotzdem fast dankbar auf und spielt damit („Tausendjähriges Reich, da war doch was?“).
Es ist vor dem Hintergrund der – hinreichend bekannten – Zustände in Ungarn zur Zeit der Staatsgründung auch völlig überflüssig, dass Schiff darüber belehrt, Ungarn sei ein Schmelztiegel aus vielen unterschiedlichen Völkern und Ethnien. Schiff sagt nur das, was jeder weiß. Anstatt Allgemeinplätze als Neuigkeit zu verkaufen, könnte Schiff ein Scherflein zur Versachlichung des Diskurses beitragen, indem er unsägliche Nazivergleiche unterlässt. Verärgerung in Ungarn über derartige Aussagen ist verständlich, ebenso darüber, dass Schiff am 01.01.2011 (wohl rein zufällig am Tag der Übernahme des Ratsvorsitzes durch Ungarn) einem Artikel in der Washington Post Beifall klatschte, in dem von einer „Putinisierung Ungarns“ gesprochen wurde und er das Recht Ungarns (nicht Orbáns!), den EU-Vorsitz zu halten, in Abrede gestellt hat. Selbstverständlich sind Auswüchse wie die antisemitischen Tiraden eines Zsolt Bayer als Reaktion hierauf völlig inakzeptabel und durch nichts zu rechtfertigen. Es gibt – neben Bayer – jedoch auch berechtigten Ärger über Schiffs inhaltliche Aussage.
Zum Niveau des Diskurses in Ungarn und diejenigen, die ständig neues Öl ins Feuer gießen, hat die ungarische HVG vor nicht allzu langer Zeit einen sehr lesenswerten Beitrag verfasst, der von Hungarian Voice übersetzt wurde.
Leider kommen die Süddeutsche und ihr Interviewpartner nicht über die Zwangsneurose, Begriffe aus den dunkelsten Diktaturen zu auf eine demokratisch gewählte Regierung eines EU-Mitgliedstaates übertragen zu wollen, hinweg. Dies belegt auch die Behauptung Schiffs, das laufende Ermittlungsverfahren gegen Ágnes Heller und andere wegen des Verdachts zweckwidriger Verwendung von Fördermitteln an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) erinnere an „stalinistische Schauprozesse“. Oben wird mit dem Stilmittel des Nazivergleichs operiert („Tausendjähriges Reich“), weiter unten kommt Stalin zum Zuge. Besser könnten es auch die ungarischen Sozialisten nicht, die jüngst von „Rechtsradikalen Stalinisten“ sprachen. Jeder Massenmörder hat offenbar neben Orbán Platz. Das unsägliche und nicht besonders intellektuelle Fazit: Orbán ist eine schlimme Kreuzung aus beidem. Haben sich die SZ und Schiff gefragt, wie sich Opfer der beiden genannten Diktaturen – insbesondere Naziopfer – und deren Nachkommen fühlen, wenn man diese Zeiten zum heutigen Ungarn in Bezug setzt?
Und man muss hinzufügen: Dieser Ton wird angeschlagen nach jahrelangem Schweigen und damit jedenfalls konkludenter Zustimmung gegenüber der Wirtschafts-, Sicherheits-, Sozial- und Innenpolitik der Vorgängerregierungen seit 2002, die die heutige Situation in Ungarn – einschließlich einen mit 2/3 regierenden Viktor Orbán – überhaupt erst möglich gemacht haben.
Der Gedanke, dass Ungarns Regierung demokratisch gewählt wurde und – trotz aller Fehler und etwas rückläufiger Umfragewerte – immer noch haushoch vor den Sozialisten führt (die Liberalen haben sich nach der verlorenen Wahl von 2010 praktisch aufgelöst), spielt in dem Beitrag keine Rolle. Auch über die Gründe für das Erstarken der Rechtsradikalen wird nicht gesprochen. Im Hinblick darauf, dass Schiff seit Jahren in Italien lebt und die Zustände in Szabolcs-Szatmár und andernorts überhaupt nicht kennt, ist das jedoch wenig überraschend. Was Schiff weiß, hat er – ausweislich der von ihm genutzten Stichworte – ebenfalls der Presse entnommen. Und weiß daher natürlich auch, dass im allzu bekannten Postengeschachere nur die zum Zuge gekommen sind, „fünftklassige Niemande“ sind.
Der nächste Beitrag der SZ über die Reaktionen in Ungarn auf dieses Interview ist bestimmt schon reserviert. Ein wahres perpetuum mobile des Journalismus. Murdochs Fox News könnte es nicht besser.
Nachtrag:
In dem Beitrag spricht Schiff auch davon, dass Róbert Alföldi, der Direktor des Budapester Nationaltheaters, „wegen seiner Homosexualität“ groben Angriffen ausgesetzt sei. Das ist leider richtig. Zum Gesamtbild gehört aber auch hier, dass man auf das Jahr 2010 zurückschaut, namentlich auf eine Ausstellung, die im Eingangsbereich des von Alföldi geführten Nationaltheaters stattfand. Da war auf großen Tafeln die Aufschrift „Nobody knows that I am gay“ („Keiner weiß, dass ich schwul bin“) zu sehen. Insgesamt zwölf dieser Tafeln waren mehr oder weniger unübersehbar im Nationaltheater aufgestellt. Die Ausstellung wurde komplettiert durch ein Kreuz, auf dem Jesus und Maria abgebildet waren. Empörte Beobachter deuteten diese Ausstellung als Hinweis auf Jesus und seine zwölf „schwulen“ Apostel und damit als grobe Provokation gläubiger Christen.
Ist so etwas denn wirklich nötig? Kann man die dringend nötige Akzeptanz Homosexueller durch so eine – von der Kunstfreiheit zweifellos gedeckte, aber gleichwohl geschmacklose Ausstellung – wirklich verbessern? Wieder einmal scheint die Forderung nach „Respekt gegenüber dem Anderen“ merkwürdige Auswüchse an den Tag zu fördern.