Der Blog der TAZ berichtet über eine Veranstaltung im „Haus der Kulturen der Welt“, bei der auch Ágnes Heller, weltweit bekannte ungarische Philosophin und Orbán-Kritikerin, sprach.
http://blogs.taz.de/hausblog/2011/04/09/niemand_wurde_erschossen_niemand_wurde_gefoltert/
In dem Blog-Beitrag wird erwähnt, dass einige Menschen am Haus der Kulturen anwesend waren, um mit Transparenten ihren Unmut über Ágnes Hellers Aussagen zu den Unruhen in Budapest im Herbst 2006 zum Ausdruck zu bringen.
Was war geschehen? Heller hatte auf Einladung der Grünen im EU-Parlament zur Situation in Ungarn aus ihrer Sicht gesprochen und Demokratie angemahnt. Auf die Frage einer EU-Abgeordneten (Krisztina Morvai von der rechtsradikalen Partei Jobbik), warum sie sich nicht zu Wort gemeldet habe, als 2006 – unter der Regierung von Sozialisten (MSZP) und Liberalen (SZDSZ) – die Polizei auf Demonstranten geschossen und Menschen gequält bzw. gefoltert worden seien, antwortete Heller, dass Krisztina Morvai „lediglich eine Fiktion präsentiere, nicht die Wahrheit“. Niemand sei erschossen, niemand sei gefoltert worden. Weitere Fragen zu diesem Thema, etwa der Fidesz-Abgeordneten Ágnes Hankiss, beantwortete Heller nicht, obgleich Hankiss darauf verwies, dass im Jahr 2006 zahlreiche friedliche Demonstranten zu Schaden gekommen waren.
Tatsächlich hat Heller die Frage von Morvai ganz bewusst nicht beantwortet, allerdings sehr wohl dazu Stellung bezogen, nämlich mit der Aussage, das, was Morvai sage, sei eine „Fiktion“. Leider war es jedoch keine Fiktion, wie man hier und auf zahllosen weiteren Videos auf You Tube sehen kann:
http://www.youtube.com/watch?v=H2pMVPk3j7w
Mehrere Menschen verloren durch Treffer von Gummigeschossen ein Auge, am Boden liegende Personen wurden mit Knüppeln malträtiert, Finger bereits fixierter Menschen wurden gebrochen, Verdächtige mussten auf der Polizeiwache stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stehen und sich beschimpfen lassen. Im Nachgang zu den Ereignissen wurde – ohne die Ermittlungen und die Aufklärung der Vorfälle abzuwarten – der Budapester Polizeipräsident vom Oberbürgermeister Gábor Demszky (SZDSZ) mit einem Orden ausgezeichnet. Das war sie, die Demokratie in 2006, zu der Ágnes Heller und viele andere seinerzeit schwiegen.
In Ungarn wurde die eindeutig verharmlosende Aussage Hellers in der rechten Presse zum Anlass für heftige (teils auch überzogene) Kritik genommen. Heller leugne die Vorfälle von 2006. Diese Bewertung ist im Hinblick auf die Behauptung Hellers, es handle sich um bloße „Fiktionen“ des rechten Spektrums, im Grundsatz korrekt. Im ungarischen Fernsehen rechtfertigte sich Heller damit: Wenn sie sich auf die Diskussion eingelassen hätte, wäre wohl der Eindruck entstanden, Ungarn sei wie Libyen. Jeder möge sich seinen Teil hierzu denken.
Was macht der TAZ-Blog aus dieser Chronologie?
Zunächst schreibt der Blog:
„Heller äußerte sich vor der Kommission in nur einem Satz zu diesen Ereignissen: „Niemand wurde erschossen, niemand wurde gefoltert.“
(…)
„Doch was hat es mit der Aussage Hellers zu den Demonstrationen von 2006 auf sich? „Als mich die ungarische Abgeordnete vor der EU-Kommission mit der Frage nach den Ereignissen von 2006 provozieren wollte, war ich nicht bereit, mich auf diese Diskussion einzulassen. Ich war da, um über das Mediengesetz zu sprechen. Und außerdem bin ich im Oktober 2006 gar nicht in Budapest, sondern in den USA gewesen. Ich habe nicht mit eigenen Augen gesehen, was passierte.“ Sie leugnet die brutale Gewalt gegen die Demonstranten nicht, sie will nur nicht Dinge kommentieren, die sie nicht beurteilen kann. Ihre Objektivität hatte fatale Konsequenzen, denn in der ungarischen Presse wurde jener Satz falsch übersetzt. Aus ihrer Aussage, es sei niemand erschossen worden, machten die Zeitungen: Auf niemanden wurde geschossen. Aus ihrer Aussage, dass niemand gefoltert wurde, machten die Zeitungen: Niemand wurde verprügelt. Ihre Aussage wurde also verfälscht, so dass sie als Lügnerin dastand.“
Zunächst einmal ist es einer Erwähnung wert, dass Heller nicht „vor der EU-Kommission“, sondern auf Einladung der Grünen im EU-Parlament erschienen, um vor interessierten Abgeordneten über die Situation in Ungarn zu sprechen. Sie äußerte sich auch nicht – wie der TAZ-Blog ausführt – in nur einem Satz zu den Vorkommnissen. Vielmehr sagt sie, der Vorhalt Morvais sei eine „Fiktion in Form einer Frage“. Sprich: Morvai erfinde etwas, was gar nicht stattgefunden habe.
Wurde wirklich falsch übersetzt, um die „objektive“ Frau Heller als Lügnerin darstellen zu können? Nicht wirklich. Denn Heller, die der damals noch in Regierungsverantwortung befindlichen SZDSZ nahestand, hat die Aussagen von Morvai tatsächlich als „Fiktion“ und damit unwahr bezeichnet. Dass jemand „erschossen“ worden sei, hatte niemand – auch nicht Morvai – behauptet.
Das Fazit Hellers verwundert nicht: Bei den Demonstranten vor dem Kulturhaus handele es sich „um ein paar Irre“. Und natürlich sei es die rechte Presse, die gelogen habe, um Heller als Verräterin darstellen zu können. Wie auch die Kritik an ihrer Person im Zusammenhang mit angeblich zweckwidriger Verwendung von Forschungsgeldern als Kritik „neidischer kleiner Philosophen“ abgebügelt wurde.
Was die Ereignisse von 2006 betrifft, versucht der TAZ-Blog ein wenig die Quadratur des Kreises: Die Übergriffe der Polizei von 2006 werden völlig zu Recht kritisiert, die verharmlosende Aussage Hellers hierzu aber irgendwie gerechtfertigt. Ob die Erklärung überzeugt, muss jeder Leser selbst beurteilen.
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