Ungarn bekommt ein neues Grundgesetz. Ab dem 1. Januar 2012 tritt die bisherige, formell noch aus dem Jahr 1949 stammende Verfassung außer Kraft und wird durch das neue Grundgesetz abgelöst.
Wer sich an die Jahre 1998-2002 erinnert, der konnte kaum überrascht sein, dass in Anbetracht der internationalen Skepsis gegenüber der Regierung Orbán auch die Verfassungsgebung keine große Gegenliebe im oppositionellen Lager und bei ihren Sprachrohren im In- und Ausland auslösen würde. Jenes oppositionellen Lagers, das sich – offenbar aus Stolz und der Angst, von der 2/3-Mehrheit der nationalkonservativen Fidesz/KDNP-Mehrheit vorgeführt und zermahlen zu werden – bei der Verfassungsgebung durch Abwesenheit glänzte und nicht nur den eigenen Wählerauftrag missachtete, sondern es auch versäumte, eigene (Wert-)Vorstellungen in das neue Grundgesetz einzubringen. Gerade so, als ob der bloße Hinweis auf die Uneinnehmbarkeit der Fidesz-Festung jegliche Untätigkeit entschuldigen könnte. Eine Opposition makuliert sich selbst.
Statt wenigstens den Versuch einer konstruktiven Oppositionsarbeit zu wagen und die Opposition wieder zu beleben, sprechen Vertreter der Sozialisten, der grün-alternativen LMP und oppositionsnahe Journalisten seit Monaten gebetsmühlenartig von einer Autokratie, in der Homosexuelle, Atheisten und Alleinerziehende „an den Rand der Gesellschaft gedrängt“ würden. Die Nennung des Christentums in der Verfassung wird als Angriff auf Atheisten und Andersgläubige, bisweilen gar als Verrat an europäischen Werten bezeichnet. Von dieser Sichtweise lassen sich die Kritiker auch nicht durch den Gesetzestext abbringen, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert und schon in der Präambel ihre Ehrerbietung gegenüber anderen Religionen zum Ausdruck bringt. Auch dass die „Ehe“ Mann und Frau vorbehalten bleibt, hat das demokratische Gerüst – etwa in Deutschland oder Österreich – nicht zum Einsturz bringen können. Auch in Ungarn wird es nicht anders sein. In diese Wertedebatte mischen sich, wie schon beim Mediengesetz, Halbwahrheiten und Falschinformationen: Das „ZDF-Heute-Journal“ vom 18.04.2011 behauptete etwa, dass die Bürger fortan nicht mehr das Verfassungsgericht anrufen könnten. Und ARD-Kommentator Rolf-Dieter Krause erklärte Ungarn sogar kurzum zu einer „Schande für Europa“…
Ist also die Demokratie in Ungarn nach etwas mehr als 20 Jahren am Ende? Ist das Land, dessen Jugend sich zuletzt 1956 erfolglos in dem Kampf um seine Freiheit und vor den Augen der untätigen Weltöffentlichkeit von Sowjetpanzern niederrollen ließ, dazu verdammt, einem – so die oppositionelle Lesart – machthungrigen Autokraten bedingungslos zu folgen? Wohl kaum. Anders als manch ein Philosoph behauptet, sind die Ungarn nicht sonderlich obrigkeitstreu. Allerdings muss man sich in der Tat davor hüten, „europäische Werte“ mit „linken europäischen Werten“ gleichzusetzen.
Doch auch von der Regierung Orbán hätte man etwas mehr Ruhe und etwas weniger Ehrgreiz darin erwarten können, die eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen schnellstmöglich umzusetzen. Da wurde der aufkeimende Wunsch nach einem Verfassungsreferendum durch eine „nationale Konsultation“ ruhig gestellt, die aus einem Fragebogen bestand, der den Wahlberechtigten zugesendet wurde – 800.000 kamen ausgefüllt zurück, überprüfbar waren diese Ergebnisse freilich nicht. Und der Sündenfall, die Beschränkung des Verfassungsgerichts bei der Prüfung von Steuergesetzen, wurde trotz weitreichender Proteste (u.a. vom ehemaligen Staatspräsidenten László Sólyom) nicht aus dem Entwurf gestrichen. Ein Verfassungsgericht, das Steuergesetze nicht am Grundrecht auf Eigentum prüfen darf? Undenkbar. Da hilft es kaum, dass das Gericht die volle Befugnis zurückerhalten soll, sobald die Staatsverschuldung auf unter 50% des BIP gesunken ist. Derjenige, der unter solchen Umständen Schuldenabbau betreibt, muss verrückt sein. Der Passus versetzt Ungarn in den Dauerzustand einer Finanz-Notstandsgesetzgebung, was gerade bei internationalen Investoren wenig Freude auslösen dürfte.
Darüber hinaus hat die Regierung im ersten Jahr ihres Wirkens weniger den Eindruck einer „Regierung der nationalen Einheit“ erweckt. Vielmehr wurde nicht selten schnell und ohne Rücksicht auf Verluste „durchregiert“. Dies mag in dem einen oder anderen Punkt inhaltlich gerechtfertigt sein. Ein Referendum über die Verfassung lehnte Fidesz dann aber, offenbar vom Misstrauen gegenüber den Wählern getrieben, unter Hinweis auf seine 2/3-Mehrheit ab. Juristisch korrekt, politisch bedauerlich. Die neue Verfassung enthält zudem einige Rettungsanker für Fidesz für den Fall, dass die Regierung (z.B. 2014) wechseln sollte – zahlreiche Gesetzesänderungen bedürfen ab 2012 einer 2/3-Zustimmung, die zukünftige Regierungen kaum erreichen dürfte.
Dass diese Zeichen von Hochmut in der Bevölkerung schlecht aufgenommen werden, zeigen jüngste Umfragen: Die Beliebtheit der Regierung ging zuletzt relativ stark zurück, das Lager der Nichtwähler wächst unaufhörlich. Eine Regierung der nationalen Einheit sieht wahrlich anders aus. Integration müsste vor Konfrontation stehen, die Verantwortung, ein zerstrittenes Land zu einen, könnte größer nicht sein. Ungarns Parlamentsmehrheit ist dabei, diese Chance leichtfertig u verspielen. Ein erfolgreiches Referendum hätte ein wahres Zeichen und ein Neubeginn nach Jahrzehnten der Zerstrittenheit werden können. Das Risiko des Scheiterns wollte Fidesz aber nicht eingehen und hat sich damit gegen wahre Größe entschieden. Die Menschen werden das kaum vergessen. Sollten sich die Wähler weiter abwenden und die Arroganz der Macht durch über 40 Jahre Kommunismus angeeignete stille Obstruktionstaktik einbremsen, wäre niemandem geholfen. Am wenigsten dem Land. Denn nationale Einheit entsteht erst, wenn auch diejenigen, die der Regierungspolitik nicht zustimmen, diese wenigstens in Grundzügen akzeptieren und sich am Diskurs beteiligen. Im Moment werden Gräben weiter vertieft.