Das ungarische Verfassungsgericht hat mit heute gefasstem Beschluss das europaweit in die Kritik geratene ungarische Mediengesetz in Teilen für verfassungswidrig erklärt.
Aus der Pressemitteilung des Verfassungsgerichts:
„1. Inhaltliche Regulierung
Das Verfassungsgericht hat zunächst festgestellt, dass das Presse- und Mediengesetz den Rechtsrahmen bei der gedruckten Presse, deren Einhaltung die Medienbehörde kontrollieren kann, in verfassungswidriger Weise festlegt. Es ist zwar grundsätzlich mit der Verfassung vereinbar, auch im Fall der gedruckten Presse eine inhaltliche Kontrolle auszuüben, allerdings hat der Gesetzgeber besonders darauf zu achten, dass für unterschiedliche Medien jeweils unterschiedliche verfassungsrechtliche Maßstäbe gelten. Das Verfassungsgericht hat – für den Fall der gedruckten Presse – die Prüfungsbefugnis der Medienbehörde im Hinblick auf Menschenrechte, die Menschenwürde, das Privatleben bzw. das Recht zur Meinungsäußerung als verfassungswidrig erachtet und hierbei auch in seine Bewertung einbezogen, dass es im Rechtssystem Möglichkeiten zur Durchsetzung dieser Rechte gibt. Um zu verhindern, dass die Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit sich auf die audiovisuelle Medienaufsicht erstreckt, hat das Verfassungsgericht nicht die inhaltlichen Regelungen für nichtig erklärt, sondern ausgesprochen, dass das Mediengesetz sich in diesen Punkten nicht auf die gedruckte Presse bezieht. Im Hinblick darauf, dass durch die Nichtigkeit auch die verfassungskonformen Regelungen betreffend gedruckter und Internetpresse, so zum Beispiel das Verfahren zur Durchsetzung von Gegendarstellungen, außer Kraft gesetzt würden, hat das Gericht als Zeitpunkt des Nichtigkeitseintritts den 31. Mai 2012 festgelegt, sodass der Gesetzgeber die Gelegenheit hat, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
2. Quellenschutz
Das Verfassungsgericht erachtete auch die Regelungen betreffend Quellenschutz als verfassungswidrig. Für nichtig erklärt wurde die Regelung, der zufolge sich ein Journalist in Gerichts- oder Verwaltungsverfahren nur dann auf Quellenschutz berufen kann, wenn die Veröffentlichung der Information im öffentlichen Interesse lag. Diese Regelung eröffnet – ohne Begründung – weitreichende Möglichkeiten, die Pressefreiheit zu beschränken (…)“ .
Weiterhin für verfassungswidrig erachtet das Gericht die Reichweite der Pflicht, Daten zu verarbeiten und der Medienbehörde zur Verfügung zu stellen. Das Gleiche gilt für einige Vorschriften betreffend den Medien- und Nachrichtenkommissar: Dessen Befugnis, nicht nur bei Rechtsverletzungen, sondern bereits bei Interessenverletzungen einzuschreiten, sei zu weitreichend.
Der Beschluss wurde bereits von dem auf 15 Richter erweiterten Verfassungsgericht gefasst. Er enthält Sondervoten von drei Richtern (Balsai, Lenkovics und Pokol).
Die Pressemitteilung:
http://www.mkab.hu/index.php?id=2011__december_20
Der Beschluss im Volltext:
Sehr interessant, besonders, dass es nur drei abweichende Meinungen gab. Ich ärgere mich sehr, dass ich nicht ungarisch spreche, weil mich insbesondere Pokols Dissent interessiert, der ja in den 1990er Jahren ein Buch über die Macht der Presse schrieb. Wenn ich den Wortsalat, den mir Google Translator ausspuckt, richtig deute, sagt er:
– die Unterscheidung der verschiedenen Pressearten sei Unfug, weil die moderne Techonologie diese längst obsolet gemacht habe
– es sei eine Zumutung, dass das Gericht jetzt noch auf Grund der alten Verfassung entscheide, wo diese in ein paar Tagen die Gültigkeit verliere
– dann kommt irgend etwas über die Macht der Presse, vor der man die Gesellschaft schützen müsse (und nicht die Presse vor dem Staat)
Habe ich das richtig verstanden?
Ich versuche, mich am späteren Abend damit zu beschäftigen, leider bin ich gerade auf dem Sprung.
Es gibt übrigens hervorragende ungarisch-Lehrbücher. Und es lohnt sich m.E. IMMER, diese Sprache zu lernen. Packen Sie´s an, Herr Boulanger! 🙂
Ich hatte sogar zwei Semester einmal die Woche Ungarischunterricht und war sogar schon einmal soweit, mit Wörterbuch und Grammatikfibel Texte zu entziffern (wie früher im Lateinunterricht). Leider habe ich fast alles wieder vergessen!
Ich schaffe es leider zeitlich nicht, mich umfassend mit dem Sondervotum auseinander zu setzen.
Kurz nur so viel: Pokols Sondervotum bezieht sich nur auf Ziffer 1. und 5. des Tenors.
Pokol kritisiert in der Tat (zu Ziffer 1.), dass das VerfG wenige Tage vor dem Inkrafttreten des neuen Grundgesetzes einen solchen (Zitat: radikalen) Schritt vollzieht, und betont, dass es unter der Geltung des neuen Grundgesetzes gerade die Aufgabe des VerfG wäre, Verfassungsverstöße im Rahmen der Kontrolle von Verwaltungsakten zu bewerten. Pokol wünschte sich hier also wohl eine einzelfallbezogene Betrachtung, keinen „Rasenmäher“.
Im Rahmen seiner Begründung zu Ziffer 5. betont Pokol die Macht der Medien und sieht die Gefahr nicht in staatlicher Macht, sondern in den global agierenden Medienkonzernen und dem von ihnen ausgehenden Meinungsmonopolen.
Ich selbst will Pokols Sondervotum nicht kommentieren, nur so viel: Es ist sehr viel ideologischer als juristisch. Da Pokol eine Mindermeinung darstellt und er als Kritiker zu großer Medienmacht bekannt ist, überrascht mich der Inhalt seines Votums aber nicht sonderlich.
Was mich interessieren würde: Wo sind eigentlich die Stimmen, die das Verfassungsgericht – das mit 12:3 Stimmen entschied – als Veranstaltung von Orbán-Bütteln geschmäht hatten? Der angebliche „Nichtjurist“ István Stumpf war übrigens abermals einer derjenigen, die der Mehrheitsmeinung zustimmten. Irgendwelche Meinungen hierzu?
„Ungarisches Verfassungsgericht als Veranstaltung von Orbán-Bütteln“ wurde nur zu oft und mit erhobenem Zeigefinger zitiert. Der Fidesz-Einfluss auf das VG ist aber gering und die Richter könnten – nicht nur theoretisch -die neue Verfassung Schritt für Schritt wieder umschreiben und wir wären wieder dort wo wir waren 🙂
Paul Krugmann bzw Kim Lane Scheppele in der NYT: Ungarns Verfassungsgericht ist tot (und andere Klagen). Angesichts der Ereignisse scheint die Todesanzeige rückblickend gesehen etwas verfrüht. Vermutlich 1 Tag vor den jüngsten Urteilen geschrieben.
http://krugman.blogs.nytimes.com/2011/12/19/hungarys-constitutional-revolution/
Totgesagte leben bekanntlich länger.
Zwar bin ich kein Jurist, aber ich finde dieses Nachfeilen und nachträgliche Ändern bedenkenswert.
Die Entscheidungen der Richter sind unanfechtbar und alle anderen Staatsorgane unterstehen ihrer Rechtssprechung. Das VG hat eine einzigartige Legitimation um die verfassungsmäßige Arbeit der Staatsorgane zu überwachen. Aber in der Rangordnung steht es über der gewählten Volksvertretung, wird somit also unangreifbar und es kann machen was es will – ein eindeutiges Manko an Demokratie. Oder sehe ich das falsch?
Frau Széchenyi, ich möchte Ihnen widersprechen. Ich glaube nämlich in der Tat, dass Sie in diesem Punkt falsch liegen.
Ich vertrete die Auffassung, dass ein Rechtsstaat dann dieser Bezeichnung würdig ist, wenn er sich der Rechtsprechung eines VerfG unterstellt, das – unabhängig von politischen Modeerscheinungen und kurzzeitigen Strömungen – die Politik und die „einfachen Gesetze“ an dem misst, was eine verfassungsändernde, demokratisch legitimierte Mehrheit als „Grundgesetz“ oder „Verfassung“ vorgesehen hat. Die Volksvertretung gibt dem Land also ein Grundgesetz – wie wir sehen, ging das in Ungarn – und gibt dann die Deutungshoheit an diejenigen, die etwas von Recht verstehen, ab. Diese entscheiden dann unabhängig, wie das Recht auszulegen ist. Ich nenne das demokratische Selbstbeschränkung. Ich bin ein großer Befürworter eines solchen Systms, gerade weil wir in Deutschland ganz hervorragende Erfahrungen damit gemacht haben. Für mich ist der Souverän also auch ein Rechtssubjekt, das der Überwachung bedarf. Jedenfalls am Maßstab des Grundgesetzes, der Menschenrechte usw. Nicht zuletzt deshalb, weil es auch in der Mehrheitsdemokraie schützenswerte Minderheitenrechte gibt und geben muss.
Danke für die Erklärung. Zwei kurze Frage habe ich noch: wer kontrolliert in Ungarn das VerfG und wer oder was garantiert dass die Verfassungsrichter tatsächlich unabhängig von politischen Modeerscheinungen und kurzzeitigen Strömungen sind?
Eine sehr gute Frage, Frau Széchenyi. Hat man die Richter einmal berufen, endet der „Einfluss“. Und das ist aus historischen Gründen gut so, das wissen Deutsche und Ungarn gleicher Maßen. Und das ist auch beim heutigen VerfG so, der Einfluss des Fidesz ist offenkundig viel kleiner, als uns der eine oder andere Schreihals einreden wollte.
Eine „Garantie“ gibt es natürlich nicht. Die Zusammensetzung – die heute tätigen Richter wurden von Regierungsseite und Opposition nominiert – ist es, die am ehesten eine „Mischung“ gewährleistet, die unabhängig von kurzfristigen Strömungen ist. Ich denke, die meisten Verf-Richter in Europa haben diese Erwartungen nicht enttäuscht. Aber wahrscheinlich habe ich Ihre Frage nicht ganz beantwortet. 🙂
Schön zu sehen dass die Gewaltenteilung in Ungarn weiterhin funktioniert. Neugierig wie das weitergeht.
Frau Szechényis Punkt wird in den USA sehr häufig ins Feld geführt und ist rein theoretisch nicht von der Hand zu weisen. Niemand ist je in der Lage gewesen, einen Mechanismus zu erfinden, der garantieren könnte, dass das Verfassungsgericht sich an die – vielleicht irgendwann wie in den USA 200 Jahre alte – Verfassung hält, statt de facto per Interpretation neue Richtwerte zu schaffen, die eigentlich dem Parlament vorbehalten bleiben sollten.
Ich verstehe auch nicht ganz, welcher Mechanismus Verfassungsrichter davor bewahren kann, Menschen ihrer Zeit zu sein (dem Zeitgeist statt dem Geist des Grundgesetzes zu folgen, insofern sich da Widersprüche auftun, also frei von politisch-gesellschaftlichem Mentalitätswandel zu bleiben.)
Natürlich hat Deutschland damit gute Erfahrungen gemacht, aber England ist ohne Verfassung das Land mit den demokratischeren Reflexen. Vielleicht gehört gerade der Verzicht auf ein richterliches-grundgesetzliches Diktat dazu.
Ich spreche natürlich als Nicht-Experte, bin aber wißbegierig: Angenommen, ein Verfassungsgericht überschreitet per gedehnter Interpretation des Grundgesetzes seine enge Kompetenz, es nur anzuwenden: Wer pfeift es zurück? Ist das wirklich so problemlos, oder sehen kontinentale Juristen das Privileg der Judikative, politisch das letzte Wort zu haben, durch die rosa Brille?
Ich muss in wenigen Tagen meine Doktorarbeit zu genau diesem spannenden Thema abgeben (Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit, in D und U) und kann deswegen nicht posten, obwohl es mich in den Fingern juckt! Vielleicht entspannt in einigen Tagen…
Kein Problem, Herr Guttenberg 😀 😀 😀 😀
Christian Boulanger, freut mich, daß Sie wieder da sind und nach über zehn Jahren Promotion ihre Dissertation endlich mit dem Doktorhut gekrönt wird.
HV, die Auslegung und die Nichtanwendung sind aber zwei Paar Schuhe!
Die „Deutungshoheit“ liegt ganz unbestritten bei den Gerichten, das ist gewissermassen Teil der job description…
Die Entscheidung, ein Gesetz nicht anzuwenden, geht aber weiter. Wenn wir den Weg der Verfassungsgebung in Ungarn für ausreichend demokratisch legitimiert halten, stellt sich fast von selbst die Frage, warum das Verfassungsgericht die Anwendung der Gesetze, die auf dem gleichen legitimierten Wege erlassen worden sind, verweigern sollte. Zudem hat auch das Verfassungsgericht keine höhere demokratische Legitimation als manche Gesetze.
Den Rechtsstaat in allen Ehren, aber das ungarische System ist eines der vielen, welche tatsächlich darauf aufgebaut sind, dass es im Staate keine (im demokratischen Sinne) mündigen Bürger geben kann. Repräsentative Demokratie und dann auch noch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit… Ein besseres Mittel, das Volk vom politischen Prozess fern zu halten, gibt es gar nicht. Ich verstehe die Argumentation, die grob vereinfacht besagt, dass alles andere zum Völkermord führt. Erstens hat aber eine Volksabstimmung noch nie zu einem Völkermord geführt (die repräsentative Demokratie schon…) und zweitens gibt es da noch eine schöne Sache, die sich zwingendes Völkerrecht nennt.
Es gibt auch Länder auf der Welt, die ohne eine Verfassungsgerichtsbarkeit (oder sogar ohne Verfassung…) auskommen. Das sollte man nie vergessen.
Ich schliesse mich Frau Széchényis Punkt daher grundsätzlich an.
PS:
Es mit einer stärkeren Gewichtung des Demokratieprinzips nicht einmal zu versuchen, kommt einer Bankrotterklärung gleich. Die minimalen Mitwirkungsrechte des Volkes sind kaum erwähnenswert. Mir ist klar, dass das ungarische politische System so ist wie es ist, aber es stimmt mich traurig, dass wieder eine Chance zur Demokratisierung (oder der Wiedereinführung der Monarchie) vergangen ist und wir statt eines klaren Bekenntnisses zur Souveränität des Volkes oder der Souveränität der Krone einen Flickenteppich bekommen haben. (FYI, ich bevorzuge erstere.)
http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/medien/420432_Mediengesetz-in-Ungarn-dauerhaft-entschaerft.html
„Die Medienaufsicht überprüft auch, ob Medien durch die Veröffentlichung bestimmter Inhalte gegen ihre gesetzliche Verpflichtung zu einer ausgewogenen Berichterstattung verstoßen und kann gegebenenfalls drastische Bußgelder verhängen.“
Meine Güte, wie lange hält sich dieser Quatsch noch? Selbst der Standard scheint es mittlerweile kapiert zu haben…
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