Die Budapester Zeitung berichtet unter Bezugnahme auf das Online-Portal feketelista.hu über die Rekordzahl der Unternehmenspleiten in Ungarn im 1. Halbjahr 2012:
Die Budapester Zeitung berichtet unter Bezugnahme auf das Online-Portal feketelista.hu über die Rekordzahl der Unternehmenspleiten in Ungarn im 1. Halbjahr 2012:
Herr Kálnoky, it’s your turn…
(die eigentliche „Marktbereinigung“ hat meines Erachtens schon stattgefunden, mit Beginn der intern. Krise eingesetzt und sich 2010/11 stark ausgelebt im KMU-Bereich).
Wenn man durchs Land fährt hört man viel Pessimismus, wenig Mut geschweige denn Aufbruchstimmung. Auch nach Abzug des typisch ungarischen Schwarzsehens. Trotz Orbán? Gerade wegen Orbán?
Lieber Peter K.,
Alles ist relativ. Rechnen Sie selbst: 640.000 Unternehmen, bei weniger als 10 Mio Einwohnern. 1 Unternehmen auf 15 Einwohner. Wieviele existieren wirklich? Meine Schwiegermutter hat eine Firma und diverse Bekannte und Verwandte , und nichts davon existiert. Viele haben nur deswegen (Stroh)Firmen, um als Ausländer Immobilien in exklusiven Bezirken oder Agrarland besitzen zu können. Das ist nun teurer gemacht worden.
Es sind keine rosigen Zeiten, nirgendwo in Europa ausser vielleicht in Deutschland. Und Ungarn könnte vieles besser machen, gerade im Bereich der Unternehmenssteuern.
Aber die Staatsschuld sinkt absolut und in Relation zum GDP, die Zahl und die Rate der Beschäftigten wächst (leider nicht im privaten Sektor), Zinsen für Staatsanleihen sinken (mehrere Euroländer stehen schlechter da), und das Risiko eines Staatsbankrotts ist endlich gringer als in manchen anderen EU-Ländern.
Das Pressing und Gegenpressing zwischen Ungarn und der EU hat aufgehört. Gegenwärtig ist es Frankreich, nach diversen anderen, das ungarische „Erfindungen“ übernimmt und protektionistische Steuern gegen ausländische Grossunternehmen erheben will. In der EU werden „Schuldenbremsen“ in den Verfassungen verbindlich gemacht mit einer Grenze von 60 Prozent – lange nachdem Ungarn 50 Prozent eingeführt hatte.
Ungarns Störfaktor, der ein Grund war für den Mediensturm gegen das Land, bestand darin, dass Matolcsy – um der Krise Herr zu werden – auf Etatismus und nationale Machtzentralisierung setzte, während in der EU der Versuch startete, bürokratische Zentralisierung transnational zu bewerkstelligen. Beides ist wenig demokratisch, beides aus demselben Grund: Weil liberale Demokratie Schulden bringt.
Nun haben aber alle ein wenig Angst vor dieser transnationalen Zentralisierung. Die weniger soliden Länder fürchten, dass Deutschland sie über Brüssel regieren wird, und Deutschland hat Angst, dass die Ärmeren per Mehrheitsbeschluss in einem zentalisierten Europa das Geld der Deutschen plündern werden.
Ungarn scheint da gar nicht mehr so schlimm: Es will nationale Verantwortung für die eigenen Finanzen übernehmen und ist eines der wenigen Länder der Peripherie, das seine Rettung nicht im Geld der Deutschen erblickt.
Insofern hat auch der Druck nachgelassen.
Danke für die ausführliche Stellungnahme, lieber Herr Kálnoky. Es tut gut hier seit längerem mal wieder (Ausnahmen bestätigen die Regel, bspw. Ungarnfreund) einen substantiellen Kommentarbeitrag erhalten zu haben. Sie tun dies mit viel Hintergrund (den ich in dieser Tiefe und Breite nicht habe), interessanten Querverweisen und einer sichtbaren eigenen Meinung. Eben deshalb habe ich Sie hier ganz bewusst herausgefordert, Stellung zu nehmen.
Ich frage mich noch ein wenig grundsätzlicher und anhand kleiner Beispiele, wie es weitergehen soll bzw. wo der Weg Ungarns hinführen soll.
Mir ist als jemand, der bis vor kurzem sein ganzes bisheriges Arbeitsleben in Ungarn verbracht hatte, einiges wohl bekannt. Dass es nur wenige gibt, die nicht zumindest eine Bt. haben. Dass das Lange die von beiden Seiten irgendwie als pragmatischer Ansatz akzeptierte Notlösung war, ein quasi bewusst gelassenes Schlupfloch für Scheinselbständigkeit, das angesichts viel zu hoher Lohnnebenkosten und einer zu gering ausgebildeten Steuerzahlmoral notwendig war – und eigentlich noch ist. Denn daran hat sich ja bislang nichts geändert, sieht man mal von der jüngsten Initiative ab (für -25 und +55 Jährige). Dieses Notgebilde wurde über die Jahre hinweg immer unattraktiver gemacht, gleichzeitig immer weitere Hilfskonstrukte als Ausweichoption in den Angebotskorb gelegt (Stichwort EVA), um nun in Zeiten der Krise einen Sargnagel draufzuschlagen (EVA-Erhöhung).
Es bleibt vielen Unternehmen, und da gibt es sicher viele gut meinende, willige, selbst oder vielleicht gar mehr unter den ausländischen, nichts anderes übrig, als sich mit irgendwelchen Hilfskonstrukten durchzuwerkeln.
Substanz für eine nachhaltige Entwicklung sieht anders aus. Vielleicht ist das zu viel verlangt, nach gut zwei Jahren Regierungszeit. Aber es bleibt nur noch ein knappes, ehe man dann wieder voll in den Wahlkampf einsteigt. Und man hat viel unnütze Energien verschwendet mit etlichen hurrapatriotischen Aktionismen. Fakt ist doch: auf sich selbst gestellt und auf sich zurück geworfen, ein autopoietisches System, eine nationale Insel der Glückseligen kann und wird es in unserer Zeit nicht geben.
Wo aber soll der Weg hinführen? Wo soll Ungarn eigene Stärke entwickeln, etwa nachhaltig über einen substantiellen KMU-Sektor verfügen? Wo, in welcher Branche, in welchen Branchen? Wo kann Ungarn echten Mehrwert bieten und wie kommt man da durch entsprechende Förderung hin Ich tue mir da schwer, etwas skizzieren zu können. Und Fakt ist ja auch, dass man in manchen Bereichen die Verstaatlichung wieder gestartet hat. So kann kein privatwirtschaftliches Pflänzchen zu sprießen beginnen, geschweige denn irgendwann einmal blühen…
Lieber Peter K,
Ich denke Ihre Kritik trifft zu: Zu viel Energie wurde zu Beginn in die falschen Dinge gesteckt. Und speziell bei den KMU wurde und wird zu umständlich herumgedoktort.
Das Gesamktkonzept is mE immer noch ein Work in Progress 🙂 Aber einige Eckpunkte scheinen zu sein:
1) selektiv protektionistische Wirtschaftspolitik, um ungarische Unternehmen zu stärken (Beispiel CBA versus multinationale Handelsketten wie Tesco)
2) Dennoch gleichzeitig selektiv globalistische Politik, teilweise sehr erfolgreich (Man will Deutschlands Fabrikhalle sein und das klappt bislang auch), teilweise weniger erfolgreich („logistische Drehscheibe“ für China)
3) Selektiv etatistische Arbeitsmarktpoitik, dh man traut dem Privatsektor nicht zu, schnell genug genügend Arbeitsplätze speziell für die Roma zu schaffen
4) „Öffnung nach Osten“, also Geschäfte mit zB Russland und China und den arabischen Ländern.
Es zeichnet sich eine Mischform aus etatisisch/protektionistisch und liberal.marktwirtschaftlich ab. Die Frage ist, wie sehr das protektionistische Element mit dem EU-Regelwerk kollidiert, und ob (flexibler) Protektionismus überhaupt Sinn machen kann. Es widerspricht der „reinen Lehre“ und hat viel zur grossen Depression 1929-31 beigetragen
Andererseits – ohne Protektionismus wäre historisch gesehen die Industrialisierung in Kontinentaleuropa, aber auch in vielen Schwellenländern nur schwer auf die Beine gekommen. Ich denke, es kann in Schwächesituationen Sinn machen, darf aber nie zum Selbstzweck werden.
Hierzu vielleicht noch:
Ungarn vollbringt aus eigener Kraft die größte Schuldenverringerung aller 27 EU -Länder
(Betonung leigt auf „eigener Kraft“, denn Griechenlands Schulden sanken durch den mit EU/IMF ausgehandelten Schuldenschnitt – eigentlich ein kaschierter Bankrott – mehr als jene Ungarns.
http://www.portfolio.hu/gazdasag/kiveteles_helyzetbe_kerult_magyarorszag.170473.html
Hier der passende Artikel im Standard mit einer idiotensicheren Grafik:
http://derstandard.at/1342947343577/Schuldenberge-in-Europa-wachsen
Leider nur kurz, lieber Herr Kálonky,
und ich habe leider nur mangelhaften Internetzugang derzeit und bin den Links nicht gefolgt: ich bin grundsätzlich kein Fan von Toplisten. Aber unabhängig davon, sind hier die aus der Verstaatlichung der Privatrente gewonnenen Gelder auch in die Betrachtung eingeflossen?
Lieber Peter K.,
Es handelt sich um das 1. Quartal 2012 im Vergleich zu 4/2011, der Effekt beruht vor allem wohl auf dem (im Vergleich zu Dezember) erstarkten HUF-Wechselkurs. Der war im Dezember freilich katastrophal gestiegen, netto ist es also weniger eine große Sparleistung als nur eine Normalisierung des Wechselkurses.
Die Verstaatlichung der nur relativ privaten (weil gesetzlich vorgeschriebenen) „Privat“renten schlug früher zu Buche, weshalb ja mittlerweile die Staatsschulden mit gegenwärtig weniger als 78 % insgesamt mehr als 4 Prozentpunkte niedriger liegen als gegen Ende der sozialistischen Regierung (da waren es 82 wenn ich mich recht entsinne.) Diese 4 Prozentpunkte sind wesentlich eine Folge des Renten-Verstaatlichung.
Lieber Herr Kálnoky,
vielen Dank für die ergänzenden Informationen. Auch wenn es kleinlich erscheinen mag, würde ich Ihnen doch in der Relativierung der „Privatheit“ der verstaatlichten Renten widersprachen, da die Konsequenzen meiner Meinung nach nicht unerheblich sein werden. Die Abführung der Beiträge in diese Säule der Rente war zwar staatlich vorgeschrieben, der Charakter der Renten selbst war (soweit ich es verstanden habe) durchaus privat, dh (den Anspruchsberechtigten) individuell zurechenbare Kapitalrücklagen bei privaten Rentenversicherungsunternehmen. Die Kapitalrücklagen sowie die Rentenansprüche darauf sind nun zum Staat gewandert. Die Rücklagen wurden zur Schuldentilgung eingesetzt und sind damit (größtenteils) weg; was bleibt sind die Rentenansprüche, die der Staat eines Tages erfüllen muss. Man könnte also durchaus argumentieren, dass die implizite Staatsverschuldung (die glaub ich bei allen Ländern deutlich höher liegt als die offizielle und ich noch nirgends gehört habe, wie mit diesem Problem umgegangen werden soll) im Gegenzug gestiegen ist. Ein Versteckspiel auf Zeit…
Ich gebe T.Sanyi hier Recht. Hinzu kommt, dass der mit der Rentenverstaatlichung erzielte Einmaleffekt nicht „nachhaltig“ ist, an diesem Punkt machte die EU-Kommission auch ihre Kritik fest (obwohl ich den Standpunkt der Kommission im Hinblick auf ihre Milde gegenüber anderen Mitgliedstaaten für fadenscheinig hielt). Natürlich ist ohne diesen Einmaleffekt die Verschuldung höher.
Mein Cousin, selbst nicht Anhänger der heutigen Opposition, hat übrigens das „Angebot“ zum Umstieg in die staatliche Kasse nicht angenommen. Er riskiert lieber die Konsequenzen und behält sein privat angespartes Rentenkonto.
…“Er riskiert lieber die Konsequenzen und behält sein privat angespartes Rentenkonto….“
Welche Konsequenzen lieber HV ?Sollte die 75% staatliche Rente + die völlig unbekannte Private-Rente nicht für das Leben ausreichen, ist wieder der Staat zahlungspflichtig . Ja, in Ungarn gibt es auch Sozialhilfe. Sicher gibt es Leute, die heute das sich leisten können, aber morgen ? Genau da war der Hund begraben . Das volle Rentenrisiko ist beim Staat geblieben und der Gewinn ist in die (eigene) Tasche geflossen! Diese “ Rentenkassen“ sind privatwirtschaflich organisiert und könnten pleite gehen. Wer zahlt dann ?
Leider 100% Rente für die Mehrheit der Bevölkerung in Ungarn kaum zum Leben ausreicht, dann 75 % ?
In Deutschland sind n u r als zusätzliche Rentenversicherung zugelassen. Jeder , oder fast jeder, zahlt 100 % in die Pflichtversicherung und darüber hinaus macht was er kann.
Meine Meinung ist : das Geld für die privaten “ Rentenversicherungen“ ist in die Genossen-Taschen verflossen und für die staatlichen Rentenkassen musste Staatsverschuldung her. Das soll aber Orban zurückzahlen.
Eine aktuelle Meldung zum Thema:
http://www.hirado.hu/Hirek/2012/08/03/10/Csaknem_900_ezer_cegtulajdonos_van_Magyarorszagon_.aspx
Demnach gibt es in Ungarn ca. 560 000 Firmen mit ca. 890 000 Eigentümern. Aktienbesitz ist in diese Statistik offensichtlich nicht eingeflossen. Das heisst, fast jeder zehnte Ungar ist Firmeninhaber. Wenn man aus dieser Statistik Minderjährige herausrechnet, ist der Anteil der „Firmeninhaber“ in der ungarischen Bevölkerung deutlich über 10 %. Da ist noch viel Raum für Bereinigung. Die ungarische Statistiken sind also mit denen aus Ländern mit konsolidierten Unternehmensstrukturen nicht zu vergleichen.
Gerade ergänzende Infos dazu gelesen: http://budapost.eu/2012/08/no-individual-accounts-in-state-pension-fund/
@terrier: Ich denke die zukünftigen Rentner tragen ein enormes Risiko. Zumindest wenn man davon ausgeht, das die meisten von denen im Alter nicht von Sozialhilfe leben wollen.