Der Leser hat sich daran gewöhnt. Gerade am 15. März, dem Gedenktag an den ungarischen Freiheitskampf gegen die Habsburger 1848/49, sowie am 23. Oktober, dem Jahrestag des Beginns des Volksaufstands von 1956, kommt es regelmäßig zu Kundgebungen der beiden sich unerbittlich gegenüber stehenden politischen Lager. Regierung gegen Linksopposition, hinzu kommt eine rechtsradikale Partei Jobbik, die ihr eigenes Süppchen kocht und – das Blaue vom Himmel versprechend – nach allen Seiten austeilt.
Es wäre schön und zugleich ohne weiteres möglich, anhand dieser Phänomene die Spaltung der ungarischen Gesellschaft und die diesbezügliche Verantwortung aller Seiten für diese zu erklären. Auch es wäre möglich und wünschenswert, sachgerecht über die Großveranstaltungen zu berichten und – wo es angemessen ist – Kritik an der Regierungspolitik zu üben. Man könnte sogar – betrachtet man Auftritte von Politikern wie Ferenc Gyurcsány – über die Scheinheiligkeit manch eines Oppositionspolitikers berichten.
Die ZEIT verfehlt dieses Ziel leider. Der Beitrag „Zehntausende demonstrieren gegen Präsident Orbán“
http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-10/ungarn-demonstration-orban
reiht sich nahtlos in die einseitigen Berichte ein, die der Ungarninteressierte seit dem Frühjahr 2010 zu lesen bekommt.
Die Kernaussage, dass 50.000 Menschen gegen „Präsident“ Viktor Orbán (der eigentlich Ministerpräsident ist…) auf die Straße gingen, ist – wie so oft – nur die halbe Wahrheit. Und auch die Zitate, mit denen die ZEIT versucht, Regierungschef Viktor Orbán zum Anti-Europäer zu stilisieren, sind aus dem Zusammenhang gerissen. Ein Hoch auf die Pressefreiheit, wie sie manch ein Berichterstatter versteht!
Tatsächlich fanden sich auf der friedlich verlaufenden Großdemonstration der Zivilorganisation MILLA nach Berichten ungarischer Medien zwischen einigen Zehntausend und (so das oppositionelle Klubrádió) 100.000 Menschen ein. So weit, so gut: Ein echtes Zeichen für wachsende zivile Organisationen, die einer Gesellschaft auch gut tun. Auch die Pro-Regierungsdemo mit einer Teilnehmerzahl von 100.000-150.000 Menschen wird immerhin genannt. Doch die ZEIT kann es nicht lassen, dieses recht deutliche Zeichen der Unterstützung für Orbán zu diffamieren, indem sie suggeriert, es handelte es sich um eine Versammlung von bezahlten Regierungsanhängern, die „mit Bussen aus dem ganzen Land“ nach Budapest gebracht wurden. Warmes Bier und kalte Würstchen wohl inklusive. Freiwillige Anreise als Zeichen der Unterstützung? Undenkbar. Weil es für den einen oder anderen Journalisten undenkbar scheint, dass Menschen eine Regierungspolitik unterstützen, die er – der Verfasser von Ungarnberichten – selbst ablehnt.
Auch die von der ZEIT abgedruckten Auszüge aus Orbáns Rede verzerren, wie üblich. Zwar fielen auch EU-kritische Worte, der Satz „Andere können uns nicht sagen, was wir tun oder lassen sollen in unserem Heimatland“ hört sich jedoch ein wenig anders an, wenn man ihn vollständig wiedergibt:
„Sehr geehrte Damen und Herren,
in Brüssel findet man ziemlich viele solche Personen, die anstelle der Erneuerung der europäischen Wirtschaft dem darnieder liegenden Geld- und Bankkapitalismus neue Lebenskraft eintauchen wollen, die anstelle einer auf Arbeit basierenden Wirtschaft das System der Spekulanten stützen möchten, die wollen, dass anstelle einer gerechten Lastenverteilung wieder nur die Menschen die Lasten der Krise tragen. Das können wir nicht akzeptieren! Wir akzeptieren die für alle geltenden Vorschriften. Aber wir können es nicht akzeptieren, dass andere anstelle von uns selbst sagen, was wir in unserem Land tun dürfen und was nicht. Wir akzeptieren die für alle geltenden Regelungen der europäischen Zusammenarbeit, aber wir können nicht akzeptieren, dass – auf welche ausgeklügelte Art und Weise auch immer – Fremde uns regieren. Wir akzeptieren den gemeinsamen moralischen Maßstab der europäischen Kulturnationen, aber wir akzeptieren keine doppelten Maßstab. Wir akzeptieren und erfüllen alle Verpflichtungen, die Ungarn übernommen hat, aber wir akzeptieren nicht, dass man in Brüssel auch heute noch ein ganzes Land für die Fehler der sozialistischen Vorgängerregierungen bestraft. Wir akzeptieren, dass die europäischen Institutionen Respekt verdienen, aber wir nehmen es nicht hin, das irgend eine Institution der EU respektlos mit den Ungarn umspringt.“
Diese Passage enthält zwar immer noch deutliche Kritik in Richtung Brüssel (über die man durchaus diskutieren kann, gerade im Hinblick auf die Strenge Brüssels im Bezug auf die Defizitziele gegenüber Ungarn bei gleichzeitiger Milde gegenüber Spanien und Portugal), jedoch besagt sie ein ganzes Stück mehr als das, was uns die ZEIT präsentiert. Gekoppelt mit den üblichen Phrasen von der Wirtschaftskrise – ohne Aussagen zu deren Beginn und Hintergründen – entsteht beim uninformierten Leser wieder einmal der Eindruck, eine nationalistische, EU-feindliche und noch dazu wirtschaftspolitisch inkompetente Regierung würde hier versuchen, Macchiavellismus zu befeuern.
Der letzte Satz spricht Bände: Die Sozialisten können die Regierung voraussichtlich nur mit starken Koalitionspartnern ablösen – klingt fast wie ein „Wunsch“ in der ZEIT-Redaktion. Immerhin können wir jetzt erahnen, wo die ZEIT steht. Wer nicht mehr überrascht ist, erwacht wohl aus seinem Tiefschlaf.