Der Entwurf der vierten Grundgesetzänderung liegt dem Parlament zur Beratung vor:
http://www.parlament.hu/irom39/09929/09929.pdf
Hintergrund der Vorlage ist – im wesentlichen – der Wille der Regierungsmehrheit, diejenigen Teile der Grundgesetz-Übergangsbestimmungen in die in den Kerntext aufzunehmen, die vom Verfassungsgericht im Dezember 2012 als unvereinbar mit dem Grundgesetz bewertetet wurden (HV berichtete).
Die Änderung enthält weitere Einschränkungen der Kompetenzen des Verfassungsgerichts. Mehr dazu als Kommentar in den kommenden Tagen.
Art. 24 Abs. 4 wird wie folgt formuliert:
„Az Alkotmánybíróság a jogszabály felülvizsgálni nem kért rendelkezését csak abban az
esetben vizsgálhatja, illetve semmisítheti meg, ha az a felülvizsgálni kért jogszabályi
rendelkezéssel szoros tartalmi összefüggésben áll .“
„Das Verfassungsgericht kann Vorschriften, deren Prüfung nicht beantragt wurde, nur dann prüfen oder für nichtig erklären, wenn sie mit den Vorschriften, deren Überprüfung beantragt wurde, in engem Zusammenhang stehen.“
Die erste Breitseite in Richtung Verfassungsgericht. In der Entscheidung zur Wahlordnung kritisierten einige Verfassungsrichter, dass das Gremium Vorschriften der Wahlordnung einer Prüfung unterzogen hätte, deren Prüfung vom Staatspräsidenten nicht beantragt worden sei. Nunmehr hat der Gesetzgeber – nach dieser „Gebrauchsanweisung“ – die beschränkte Prüfungsgewalt des Gerichts ausdrücklich festgeschrieben. Die Normenkontrolle durch Verfassungsorgane wird so zu einem Verfahren mit „Dispositionsmaxime“. Es gibt keinen Amtsaufklärungsgrundsatz mehr. Folge: Ein Staatspräsident, der den Prüfungsgegenstand eng fasst, wird fortan „unangenehme Antwoten“ des Gerichts umgehen können.
Art. 24 Abs. 5 lautet fortan:
„Az Alkotmánybíróság az Alaptörvényt és az Alaptörvény módosítását csak a
megalkotására és kihirdetésére vonatkozó, az Alaptörvényben foglalt eljárási követelmények
tekintetében vizsgálhatja felül .“
„Das Verfassungsgericht kann das Grundgesetz und seine Änderungen nur dahingehend prüfen, ob die im Grundgesetz vorgesehenen Vorschriften über das Zustandekommen und die Bekanntmachung eingehalten wurden.“
Breitseite Nr. 2 und eine klare Rückversicherung im Hinblick auf die Entscheidung des VerfG vom 28.12.2012. Fortan steht in der Verfassung, dass das Verfassungsgericht nicht befugt ist, die Verfassung inhaltlich zu prüfen. Nur die Frage der formellen Verfassungsmäßigkeit ist Prüfungsgegenstand.
Artikel 19 des Änderungsgesetzes sieht folgende Modifizierung der Schlussbestimmungen vor:
„5. Az Alaptörvény hatálybalépése előtt meghozott alkotmánybírósági határozat és anna kindokolása az Alaptörvény értelmezése során nem vehet ő figyelembe.“
„5. Vor Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassene Entscheidungen des VErfassungsgerichtes und deren Begründung dürfen bei der Auslegung des Grundgesetzes nicht beachtet werden.“
Breitseite Nr. 3 und zugleich die größte: Eine Regelung, die mehr als 20 Jahre Verfassungsgerichtsrechtsprechung auf einen Schlag tilgen soll. Kritikwürdig und sinnlos. Warum sollte bei Auslegung des Grundgesetzes nicht auf Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die zwar die alte Verfassung betrifft, aber nur solche Regelungen, die mit den neuen inhaltlich im Einklang stehen? Das VerfG sagte im vergangenen Jahr, dass es sich vorbehält, auf seine alte Rechtsprechung zurückzugreifen, so lange diese auch mit dem neuen Grundgesetz in Einklang zu bringen ist.
Gergely Gulyás bei ATV:
„Natürlich kann das Verfassungsgericht auch weiterhin auf seine früheren Entscheidungen Bezug nehmen. (…) Das Ziel des Gesetzesvorschlages ist, dass das Verfassungsgericht seine früheren Entscheidungen nicht in einer Art Automatismus verwertet (…)“
http://atv.hu/videotar/20130221_alkotmany_4_0
Vielleicht kommt es ja doch nicht zum „Urknall“. Besser wäre es.
Hier der zugehörige Änderungsvorschlag:
Klicke, um auf 09929-0046.pdf zuzugreifen
Gibt es dafür Beispiele in anderen EU-Ländern?
Da hier auch das Wort Verfassungsgericht auftaucht:
Gibt es nicht Staaten in der EU, die kein Verfassungsgericht haben oder sind meine Informationen veraltet?
Gibt es. Zum Beispiel England. Ich ziehe aber eine Verfassungskultur mit Verfassungsgericht vor. Wie auch Ungarn. Nur wenn man eins hat, sollte man ihm auch die Kompetenzen geben, die es für seine Arbeit braucht. Die o.g. Punkte sind gewichtig und kritikwürdig. Hier wird die Kontrollinstanz geschwächt, was gerade bei 2/3-Mehrheiten kein guter Ansatz ist. „Nemzeti együttmüködés“ hin oder her.
Nur kurz und ohne Bewertung der übertragenen Kompetenzen (bin kein Jurist): Seit 2009 gibt es einen „Supreme Court of the United Kingdom“ (http://en.wikipedia.org/wiki/Supreme_Court_of_the_United_Kingdom) und dass es diesen vorher nicht gab, heißt nicht, dass es kein entsprechendes Gremium gab. Es gab vorher ein Gremium von 12 Richtern im House of Lords. Spannend hierbei fand ich die gelebte Verfassungskultur: Auch ohne dass dies festgeschrieben gewesen wäre, verzichteten diese Lordrichter auf ihr Recht zur Abstimmung im Parlament, um legislative und judikative Funktion nicht zu vermischen.
Der Supreme Court ist allerdings überwiegend ein Oberstes Gericht in Zivilsachen und in Strafsachen. In diesem Punkt ähnelt es damit eher dem Bundesgerichtshof und (Beispiel Ungarn) der Kurie, weniger den Verfassungsgerichten.
Was die Thematik „legislative und judikative Funktion“ der Lordrichter angeht: Das halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Denn der Lordrichter, der im Rahmen eines anhängigen Verfahren ein englisches Gesetz auf Vereinbarkeit mit EU-Recht prüft, und in seiner Stellung als Mitglied des Oberhauses über dieses (mutmaßlich EU-rechtswidrige) Gesetz abgestimmt hat, wird kaum „objektiv“ urteilen können…:-)