Seit Januar 2016 ist sie, obwohl keiner der Berichterstatter sie gelesen hat, in aller Munde: Die sechste Änderung des ungarischen Grundgesetzes. Ausweislich der – neudeutsch: „geleakten“ – Informationen soll sie der Regierung für den Fall einer nicht näher umschriebenen „Terrorgefahr“ oder im Fall eines Terroranschlages die Befugnis einräumen, den Ausnahmezustand auszurufen und mittels Regierungsverordnungen elementare Grundrechte und europäische Grundfreiheiten zu suspendieren. In zahlreichen Punkten soll, so das Online-Portal Origo.hu, eine solche Beschränkung möglich sein. Auszüge:
- Verpflichtung der staatlichen Medien, amtliche Stellungnahmen zu veröffentlichen
- Beschränkung und Reglementierung des Warenumschlages mit Güter, die für die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit bedeutsam sind
- Beschränkung der Tätigkeit von Radio- und Fernsehanstalten
- Beschränkung des Luftverkehrs
- Einsatz der Armee im Inland
- Beschränkung und Pfändung von Vermögenswerten von natürlichen und juristischen Personen, die die nationale Sicherheit gefährden
- Anordnung von Reservehaltungen, Exportbeschränkungen, Handelsquoten und Aussetzung von Ausschreibungen
- Einführung besonderer Maßnahmen der Terrorabwehr
- Grenzkontrollen und Grenzverkehrsbeschränkungen, auch unter Missachtung internationaler Abkommen
- Anordnung von Kontrollen des Internet-, Brief-, Paket und Postverkehrs
- Einführung von Beschränkungen und Genehmigungspflichten des Aufenthaltsrechts an bestimmten Plätzen
- Anordnung von Ausgangsverboten
- Verbot von Demonstrationen und Zusammenkünften im öffentlichen Raum
- Nutzung der Einrichtungen der Radio- und Fernsehanstalten, sowie das Verbot ihrer Nutzung
- Beschränkung und Einstellung der elektronischen Kommunikation, Nutzung der Telekommunikationsnetze sowie diesbezügliche Verbote
- Verkehrsbeschränkungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft
- Beschlagnahme von Fahrzeugen
- Einreiseverbote für Ausländer
- Beschränkung des Kontaktes von Inländern zu Ausländern (inkl. ausländische Unternehmen und Einrichtungen)
- Aufenthaltsverbote für Ausländer, Ausweisungen, Meldepflichten
- Anordnung von zeitweisen Umsiedlungen der Bevölkerung
- Abweichungen von den Regelungen des Haushaltsrechts, Umverteilung von Haushaltspositionen, Beschränkung und Ausweitung von Ausgaben, Einführung neuer Bußgeldtatbestände und diesbezüglche Modifikationen
Die obigen Punkte würden, sollten sie tatsächlich eingeführt werden, zwischen den verfassungsrechtlich verankerten Begriffen des „Notstands“ (szükségállapot, Art. 50 Grundgesetz) und der (u.a. bei größeren Unglücksfällen einschlägigen) „Gefahrensituation“ (veszélyhelyzet, Art. 53 Grundgesetz) das teilweise Kriegsrecht für den Fall von Terrorgefahren- und -anschlägen einführen. Dies auf Verfassungsebene, d.h. eine Kontrolle durch das Verfassungsgericht wäre nicht möglich. Die von der Regierung getroffenen Regelungen sollen, soweit sie vom Parlament nicht bestätigt oder verlängert werden, auf 60 Tage befristet sein. Die Regierung ist lediglich verpflichtetm den Staatspräsidenten und den zuständigen Parlamentsausschuss laufend zu informieren.
Besonders bedrohlich scheint, dass der das Verordnungsrecht auslösende Zustand der „Terrorgefahr“ keine nähere Definition enthält, was die Kontrolle faktisch nur schwer bis überhaupt nicht möglich machen würde. Zusätzlich obliegt die Ausrufung des Sonderzustands – abweichend von dem für den Not- und Ausnahmezustand geltenden Art. 48 des Grundgesetzes – nicht dem Parlament (zusätzlich haben der Staatspräsident, der Präsident des Verfassungsgerichts und der Ministerpräsident zuzustimmen), sondern der Regierung. Diese Grundlage ist insoweit angelehnt an die bereits heute existierende „Gefahrensituation“.
Artikel 53. (1) Die Regierung kann im Falle von Naturkatastrophen oder Industrieunfällen, die die Lebens- und Vermögenssicherheit gefährden, sowie im Interesse der Abwendung von deren Folgen eine Gefahrensituation ausrufen und durch ein Schwerpunktgesetz festgelegte außerordentliche Maßnahmen ergreifen.
(2) Die Regierung kann im Falle der Gefahrensituation Verordnungen erlassen, mit denen sie – wie durch ein Schwerpunktgesetz festgelegt – die Anwendung einzelner Gesetze aussetzen, von gesetzlichen Bestimmungen abweichen sowie sonstige außerordentliche Maßnahmen treffen kann.
(3) Eine Verordnung der Regierung gemäß Absatz 2 bleibt fünfzehn Tage lang in Kraft, es sei denn, die Regierung verlängert – aufgrund der Ermächtigung der Nationalversammlung – die Gültigkeit der Verordnung.
(4) Eine solche Verordnung der Regierung tritt mit der Aufhebung der Gefahrensituation außer Kraft.
Wesentlich ist somit, dass die Regierung eine gegenüber Art. 53 Grundgesetz deutlich weiterreichende Form der Gefahrensituation, jenseits von Industrieunglücken und Umweltkatastrophen, einführen will, dabei aber das Parlament und die sonstigen Staatsorgane (Präsident, Vorsitzender des Verfassungsgerichts) nicht eingebunden werden sollen.
Oppositionelle Medien nahmen diesen Umstand zum Anlass, die Maßnahmen mit dem Ermächtigungsgesetz des Deutschen Reichs („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich„, verkündet am 24.3.1933) zu vergleichen. Das Gesetz erlaube die Einführung der Willkürherrschaft in Ungarn, sagte der Universitätsprofessor und ehemalige Ombudsmann für Datenschutz, László Majtényi:
„Das Volk soll blind, taub und stumm gemacht werden.“
Problematisch ist in diesem Zusammenhang nicht nur die außerordentlich große Reichweite der angedachten Maßnahmen, sondern dass der Begriff der Terrorgefahr – blickt man aktuell nach Frankreich (es befindet sich derzeit im Ausnahmezustand) und auch in die USA – beliebig dehnbar ist. Nach den Anschlägen vom 11. September in New York und andernorts hielten Fernsehsender wie Fox News ihre Zuseher mit „Terrorbarometern“ oder ähnlichen Verängstigungsmeldungen in Atem. Die Masche zieht hüben wie drüben. Sieht man sich die von der ungarischen Regierung bewusst und aktiv geschürten Ängste vor Terror im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise an, so kommt die Befürchtung auf, die ungarische Bevölkerung könnte in Teilen „bereit“ sein, die eigene Sicherheit über die gewohnten Freiheitsrechte zu stellen. Die Erkenntnis, dass absolute Sicherheit vor Terroranschlägen gerade in freien Gesellschaften nicht darstellbar ist, könnte in den Hintergrund geraten.
Ein grusliges Szenario also, allein: Es wird sich, so wie es derzeit aussieht, nicht bewahrheiten. Aufatmen?
Die Oppositionsparteien – einschließlich Jobbik – haben den Entwurf wegen seiner weitreichenden Befugnisnormen abgelehnt, wenn auch Jobbik die Einführung eines Terrornotstands grundsätzlich befürwortet. Jobbik kritisiert allerdings die Reichweite der Regierungsbefugnisse.
http://hirtv.hu/reggelijarat/terrorveszelyhelyzet-alkotmanymodositas-1324950
Die Verfassungsänderung müsste durch 2/3 aller Abgeordneten des Parlaments verabschiedet werden , d.h. auch fehlende oder sich enthaltende Abgeordnete der Opposition könnten nichts daran ändern, dass die Regierungsparteien nicht über die notwendige Mehrheit verfügen, den Entwurf passieren zu lassen.
Dies weiß auch Fidesz und versucht seit einigen Tagen, den Gesetzentwurf wenigstens noch im Rahmen der maximalen Publicity für sich zu verwerten. Der Kabinettschef des Ministerpräsidenten, Antal Rogán, betonte, der Gesetzentwurf würde unverändert vorgelegt.
„Es geht hier nicht nur von einer Verfassungsänderung, sondern um mehr, um einen Vorschlag, der den Alltag sicherer macht. Wir vertrauen darauf, dass das Parlament eine verantwortungsvolle Entscheidung trifft, wenn nicht, werden wir uns an das Volk wenden.“
Will heißen: Die Regierung möchte die Opposition vorführen und die eigene Position als „law and order“ Partei stärken. Wer nicht für den Entwurf stimmt, setzt die Sicherheit der Bevölkerung aufs Spiel. Sogar die Durchführung einer Volksabstimmung steht im Raum.
http://www.origo.hu/itthon/20160206-nepszavazast-lengetett-be-rogan-antal-a-terrorkockazat-miatt.html
Einen nicht geringen Teil der Bevölkerung wähnt sie hierbei – ausweislich jüngerer Umfragen – parteiübergreifend hinter sich: Die Mehrheit der Ungarn ist zwar nicht der von der Regierung verbreiteten Ansicht, die Menschen aus dem arabischen Raum seien mehrheitlich „Wirtschaftsflüchtlinge“, steht ihnen wegen der kulturellen Unterschiede und (auch) der von der Regierung in direkte Kausalität zum Flüchtlingsstrom gestellten Terrorgefahr aber deutlich ablehnend gegenüber (näheres hier). Obwohl der ungarische Justizminister László Trócsányi – in Gegenwart des Verfassers dieser Zeilen – bei einer Veranstaltung der deutsch-ungarischen Juristenvereinigung am 14.11.2015, nur einen Tag nach den Anschlägen in Paris, ausdrücklich betonte, man müsse gerade in schwierigen Zeiten die Freiheitsrechte verteidigen und dürfe diese nicht der Angst vor Terror opfern, scheint diese Ansicht aber nicht der vorbehaltlosesn Mehrheitsmeinung in der Regierung zu entsprechen.
Die Botschaft der Terroristen, die die freiheitlichen Gesellschaften in Angst versetzen und als heuchlerische „Schönwetterdemokraten“ darstellen wollen, welche die lautstark propagierten Rechte sofort opfern, wenn es ungemütlich wird), droht sich jedenfalls in Teilen zu bewahrheiten. Jedenfalls dann, wenn wir bei Bedrohungen unserer Sicherheit als erstes jene Freiheitsrechte opfern, zu deren Verteidigung wir vorgeben, Kriege in allen Ecken der Welt zu führen. Jahrelange Internierung in Gefängnissen, Folter von Verdächtigen, die gezielte Tötung von Terrorverdächtigen ohne Gerichtsurteil – der so genannte „Krieg gegen den Terror“ hält freiheitlichen Gesellschaften den Spiegel vor.
Wenn die maximale Einräumung von Befugnissen ohne Kontrolle unsere Antwort auf die aktuell drängenden Fragen sein soll, wird die weitere Frage erlaubt sein, worin wir uns noch von unfreien Gesellschaften unterscheiden. Sicherheit statt Freiheit? Die Geschichte des – ach, so kultivierten – Europa sollte uns gelehrt haben, dass es nicht so einfach ist.