„Weihnachts“geschenk für Fidesz: Gergely Karácsony wird gemeinsamer Kandidat von MSZP und DK

Die ungarische Linksopposition hat der regierenden Fidesz-Partei von Premier Viktor Orbán am heutigen Tage ein politisches Weihnachtsgeschenk – in Bezug auf die Parlamentswahl im Frühjahr 2018 – beschert: Gergely Karácsony, Ehemaliger LMP-Abgeordneter und Co-Chef der LMP-Abspaltung „Párbeszéd Magyarországért“ (Dialog für Ungarn), wird gemeinsamer Kandidat der Solzialisten (MSZP) und der Demokratischen Koalition (DK) für das Amt des Premiers.

MSZP und die von Ex-Premier Ferenc Gyurcsány geführte DK wollen sich zudem für alle 106 Direktwahlkreise auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Die Listen bleiben aber getrennt. Interessant: Nach einem Bericht des Nachrichtenportals 444.hu wird Karácsony weder als Direktkandidat antreten, noch scheint „seine“ Partei an der Wahl teilnehmen zu wollen. Ob dies allerdings so bleiben wird, ist fraglich.

Die aktuelle Entwicklung zeigt die seit Jahren katastrophale Personalsituation der Linken: Gyurcsány ist, bis auf seine wenigen Förderer und (meist jenseits des 70. Lebensjahres befindlichen) Bewunderer kein tragbarer Kandidat, weil er Stimmen des Mitte-Rechts-Lagers nicht vereinnahmen kann. Die Sozialisten hingegen haben ihren ursprünglichen Hoffnungsträger László Botka, den für MSZP-Maßstäbe sehr beliebten Bürgermeister von Szeged, durch dessen Verzicht auf die Spitzenkandidatur verloren. Also alles wieder zurück auf Los.

Nun scheint Karácsony, der in aktuellen Umfragen immerhin als beliebtester Politiker Ungarns gilt, die „letzte Hoffnung“ zu sein, um eine neuerliche 2/3-Mehrheit des Rechtsbündnisses aus Fidesz und Christdemokraten (KDNP) zu verhindern. Die Chancen stehen allerdings denkbar schlecht: Fidesz steht nach einer aktuellen Republikon-Umfrage in der Wählergunst besser denn je (57%), die Opposition siecht dahin. Weder programmatisch noch personell gibt es mehrheitsfähige Angebote. Nur die mit ihrem Zugang zur schreibenden Zunft gesegneten Orbán-Kritiker im In-und Ausland schreien wie eh und je und werden versuchen, das Ruder herum zu reissen: Im Ergebnis wohl so erfolgreich wie 2010 und 2014…

Die von der Holocaust-Überlebenden Ágnes Heller als potenzieller Kooperationspartner der Linken ins Spiel gebrachte rechtsradikale Jobbik und ihr Vorsitzender Gábor Vona stehen ihrerseits wegen angeblich illegaler Parteienfinanzierung unter Druck und scheiden wohl als Zünglein an der Waage aus; Jobbik dürfte dem Kandidaten Karácsony zudem die Gefolgschaft verweigern. Alles sieht somit – jedenfalls derzeit – danach aus, als ginge es der Opposition zum dritten Mal in Folge wieder nur darum, den bevorstehenden Wahlverlust zu verwalten, den Schaden zu begrenzen. Nichts eignet sich besser als Indiz hierfür als der Umstand, dass Gyurcsány offenbar nicht Spitzenkandidat werden will. Der Politiker, der fernab des Verdachtes steht, auch nur leiseste Selbstzweifel zu hegen, und sich seit je her als einziger aussichtsreicher Herausforderer Orbáns sieht, weigert sich wohl nur, das Ruder der bereits auf den Eisberg zurauschenden Titanic zu übernehmen. Er übernimmt nur den (sicheren) Listenplatz 1.

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Ungewohnte Milde: Keno Verseck bezeichnet Jobbik als „ehemals“ rechtsradikale Partei

In einem Spiegel-Beitrag befasst sich Keno Verseck mit dem Vorschlag der ungarischen Philospohin Ágnes Heller, bei der Wahl im kommenden Jahr solle die Linksopposition erwägen, mit der rechtsradikalen Partei Jobbik zu paktieren.

http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-wahlkampf-teufelspakt-gegen-viktor-orban-a-1182352.html

Es gehe – so Heller – um die Ablösung des Fidesz, und da scheint jedes Mittel Recht. Verseck scheint sich dem jedenfalls nicht kategorisch zu verschließen, bezeichnet er deoch Jobbik als „ehemals rechtsradikale“ Partei. Ganz so, als ob das jahrelange verbale Weichspülen aus ehemaligen offenen Nazis Demokraten oder jedenfalls tolerable Kooperationspartner gemacht hätte. Wir erinnern uns lebhaft an Aussagen des Jobbik-Abgeordneten Márton Gyöngyösi im Parlament, in denen er forderte, Listen über die im Parlament und in der Regierung tätigen Juden aufzustellen – nur um ein Beispiel zu nennen. Sei es drum: Wenn Orbán abgewählt werden muss, sind auch solche Spielkameraden Recht, nicht wahr?

Der Philosoph Gáspár Miklós Tamás hat berechtigte Bedenken angemeldet. „Um jeden Preis“ gehe nicht.

Noch deutlicher wird der Rabbiner Slomó Köves, was Jobbik betrifft: Köves bezeichnete Grüße von Seiten Jobbiks zum jüdischen Chanukka-Fest als zynisch, weil die Partei jahrelang antisemitische Äußerungen in ihren Rehen geduldet und kein Politiker solche Äußerungen jemals zurückgenommen habe.

Umfrage: Wer ist am ausländerfeindlichsten? Und wem gegenüber?

Heute bin ich auf eine – im Ergebnis furchteinflößende – Umfrage gestoßen. Ein Meinungsforschungsinstitut befasst sich in einer aktuellen Erhebung mit der Frage, unter welchen Parteianhängern die Ausländerfeindlichkeit bzw. der Rassismus am größten ist. Doch nicht nur das: Auch die Frage, wem gegenüber Vorbehalte bestehen, wurde gestellt. Das Ergebnis:

Gestellt wurde folgende Frage: „Wen würden Sie als Ihren Nachbarn dulden?“

Die Antworten fallen höchst unterschiedlich, aber im Grundsatz gleichermaßen bedrückend aus. Im Einzelnen:

1. Fidesz 

Die Anhänger der Regierungspartei würden am ehesten eine Familie mit vier Kindern (87% Akzeptanz) oder Einwanderer aus Siebenbürgen (80%) dulden. Einen Rocksänger immerhin zu 59%. Nur knapp mehr als die Hälfte würde sich mit einem jüdischen Nachbarn wohl fühlen (53%) – was nichts anderes bedeutet, als dass knapp die Hälfte der befragten Fidesz-Wähler sich als offen antisemitisch zu erkennen gaben. Noch geringer ist die Akzeptanz gegenüber Amerikanern (43%), Studenten aus Afrika (42%), Chinesen (40%), Homosexuellen (35%), Zigeunern (31%), Syrern mit christlichem Glauben (30%) und Arabern (ganze 10%, was die geringste Akzeptanz unter allen Befragten darstellt).

2. Sozialisten

Bei den Sozialisten ist die Akzeptanz gegenüber Großfamilien und siebenbürgischen Einwanderern geringer als bei Fidesz (70 bzw. 73%), auch die Akzeptanz gegenüber Rockmusikern ist geringer (53), dafür würden Juden (ebenfalls nur 60%), Homosexuelle und afrikanische Studenten eher geduldet; etwa die Hälfte ist auch hier ablehnend. Araber würden von nur 26% der MSZP-Wähler geduldet. 

3. Jobbik

Die Wähler der rechtsradikalen Jobbik mögen Großfamilien (92%), Siebenbürger (81%) und Rockmusiker (70%, wahrscheinlich denkt man an Kárpátia…), Amis gehen gerade noch durch (58), wohingegen Juden mit 51% nur von der Hälfte akzeptiert würden. Zigeuner werden abgelehnt (22%, schlechtester Wert), Homosexuelle stehen besser da als bei Fidesz-Wählern (41), ebenso die – noch immer überwiegend negierten – Araber (18).

4. Demokratische Koalition 

Und die Wähler der „politisch korrekten“ DK? Als Jude hat man auch dort keinen echten Stein im Brett, die Akzeptanz liegt mit 53% nur zwei Punkte über der bei Fidesz. Nur 47% würden afrikanische Studenten dulden – und damit weniger als die Jobbik-Anhänger! Etwas besser stehen Araber und Zigeuner da. Und: Chinesen sollen nach DK-Lesart beliebtere Nachbarn sein als Amerikaner – vielleicht hatte man Trump vor sich.

Prost Mahlzeit…

SPON: Keno Verseck und das Ritterkreuz für Zsolt Bayer

Lange, lange durfte die seit einigen Monaten unterbeschäftigte Armada der Ungarn-Berichterstatter ausharren, sich langweilen, nach Themen suchen. Die Suche nach aktuellen Beiträgen von Gregor Mayer, Stephan Osváth und anderen ergab kaum Erfrischendes, schon gar nichts Empörendes.

Am 20. August 2016 war es dann soweit, die ungarische Regierung gab eine echte Steilvorlage für ihre Kritiker. Zsolt Bayer, hier im Blog oft behandelter Journalist mit zweifelhafter Wortwahl und offen rassistisch-antiziganistisch-antisemitischer Einstellung (siehe Suchfunktion unter „Zsolt Bayer“), erhielt das Ritterkreuz des ungarischen Verdienstordens. Die Empörung hierüber ist – auch unter ehemaligen Preisträgern – so groß, dass bislang mehr als 30 der Ausgezeichneten ihre Orden zurückgaben. Sie wollen nicht einmal zufällig mit Bayer in einem Boot sitzen.

So weit, so schlecht. Der Autor dieser Zeilen hält die Auszeichnung Bayers für einen beispiellosen Fehlgriff, ein fragwürdiges Zeichen in Richtung jener Wählergruppen, die in Bayers verbalen Ausfällen Mut und Geradlinigkeit zu erkennen meinen. Der Kampf mit Jobbik scheint immer noch zu schwelen.

Traurig jedoch auch hier: Keno Verseck, der für Spiegel Online die Preisverleihung zerreißen darf, schafft es selbst bei einem praktisch auf dem Elfmeterpunkt liegenden Ball nicht, in seinem Beitrag bei den nackten Fakten zu bleiben. Zu groß scheint die Versuchung zu sein, den Worten Bayers Dinge hinzuzudichten oder dem Leser wichtige Informationen vorzuenthalten. Warum, wird nur der Autor beantworten können – ich vermute aber, es wird schon dem guten Zweck dienen…

„Er ruft dazu auf, Roma-Kinder mit dem Auto zu überfahren.“ Später im Text: „Im Oktober 2006 schrieb er nach einem grausamen Lynchmord an einem Lehrer, der von einem wütenden Roma-Mob begangen worden war: „Wenn jemand ein Zigeunerkind überfährt, handelt er richtig, wenn er nicht anhält. Wenn es darum geht, Zigeunerkinder zu überfahren, sollten wir kräftig aufs Gaspedal treten.“

Nun, nicht ganz. Tatsächlich schrieb Bayer in seinem Beitrag aus dem Jahr 2006:

„Mindezen tények ismeretében pedig vonjuk le a legalapvetőbb következtetéseket. 1. Bárki, aki ebben az országban elgázol egy cigány gyereket, akkor cselekszik helyesen, ha eszébe sem jut megállni. Cigány gyerek elgázolása esetén tapossunk bele a gázba. Ha időközben körbeállják autónkat a cigányok, még inkább tapossunk bele a gázba. Akit még elütünk, annak pechje van. A lehető legnagyobb sebességgel továbbhajtva, autónkból hívjunk mentőt, és a legközelebbi rendőrőrsön álljunk csak meg, ahol adjuk fel magunkat.“

(„In Kenntnis all dieser Tatsachen sollten wir folgende Erkenntnisse ableiten: 1. Jedermann, er in diesem Land ein Zigeunerkind anfährt/überfährt, handelt richtig, wenn er nicht einmal daran denkt, anzuhalten. Wenn er ein Zigeunerkind anfährt/überfährt, sollte er aufs Gas treten. Wenn die Zigeuner das Auto umstellt haben, sollte er erst Recht aufs Gas treten. Wer angefahren wurde, hat eben Pech gehabt. Während wir mit maximaler Geschwindigkeit weiterfahren, sollten wir aus dem Auto den Notarzt rufen, und an der nächsten Polizeistation anhalten, um uns zu stellen.“)

Was war der Hintergrund dieses gruseligen Beitrags? Ein gruseliger Vorfall. Der Lehrer Lajos Szögi wurde im Ort Olaszliszka, nachdem er ein plötzlich über die Straße laufendes Roma-Mädchen angefahren hatte (das Kind wurde leicht verletzt und lief davon), anhielt und sich um das Kind kümmern wollte, von einem Mob der örtlichen Roma-Bevölkerung vor den Augen seiner beiden Töchter so lange geschlagen und getreten, bis er tot war. Während des Angriffs wurde von mehreren Tätern „Bring den Ungarn um“ („Öldd a magyart„) gerufen – was nach ungarischem Recht den Tatbestand einer „Straftat gegen eine Gemeinschaft“ (worunter Mehrheiten wie Minderheiten gleichermaßen fallen) erfüllt.

Bayer verstieg sich in seinem Beitrag zwar – wie fast immer – in der Wortwahl und in seinen Thesen, doch hat er zu keinem Zeitpunkt dazu aufgerufen, Zigeuner Roma-Kinder mit dem Auto zu überfahren. Diese Aussage, Herr Verseck, ist also schlichtweg frei erfunden. Bayer zog in der von Spiegel Online verdrehten Passage vielmehr den (traurigen!) Schluss, dass man, wenn man in Ungarn nach einem Verkehrsunfall Gefahr läuft, von einem wütenden Mob totgeschlagen zu werden, man wohl besser weiterfährt, den Notarzt ruft und sich an die Polizei wendet.

Zsolt Bayer, den ich hier einmal als den von der ausländischen Presse meistüberschätzten ungarischen Publizisten bezeichnet habe (Grund, diese Meinung zu ändern, habe ich nicht), ist und bleibt der Gummiknochen für die Orbán-Kritiker. Vielleicht ist genau das einer der Gründe für seine Auszeichnung?

Sechste Grundgesetzänderung: Reale Gefahr oder Werbebotschaft der Regierung?

Seit Januar 2016 ist sie, obwohl keiner der Berichterstatter sie gelesen hat, in aller Munde: Die sechste Änderung des ungarischen Grundgesetzes. Ausweislich der – neudeutsch: „geleakten“ – Informationen soll sie der Regierung für den Fall einer nicht näher umschriebenen „Terrorgefahr“ oder im Fall eines Terroranschlages die Befugnis einräumen, den Ausnahmezustand auszurufen und mittels Regierungsverordnungen elementare Grundrechte und europäische Grundfreiheiten zu suspendieren. In zahlreichen Punkten soll, so das Online-Portal Origo.hu, eine solche Beschränkung möglich sein. Auszüge:

  • Verpflichtung der staatlichen Medien, amtliche Stellungnahmen zu veröffentlichen
  • Beschränkung und Reglementierung des Warenumschlages mit Güter, die für die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit bedeutsam sind
  • Beschränkung der Tätigkeit von Radio- und Fernsehanstalten
  • Beschränkung des Luftverkehrs
  • Einsatz der Armee im Inland
  • Beschränkung und Pfändung von Vermögenswerten von natürlichen und juristischen Personen, die die nationale Sicherheit gefährden
  • Anordnung von Reservehaltungen, Exportbeschränkungen, Handelsquoten und Aussetzung von Ausschreibungen
  • Einführung besonderer Maßnahmen der Terrorabwehr
  • Grenzkontrollen und Grenzverkehrsbeschränkungen, auch unter Missachtung internationaler Abkommen
  • Anordnung von Kontrollen des Internet-, Brief-, Paket und Postverkehrs
  • Einführung von Beschränkungen und Genehmigungspflichten des Aufenthaltsrechts an bestimmten Plätzen
  • Anordnung von Ausgangsverboten
  • Verbot von Demonstrationen und Zusammenkünften im öffentlichen Raum
  • Nutzung der Einrichtungen der Radio- und Fernsehanstalten, sowie das Verbot ihrer Nutzung
  • Beschränkung und Einstellung der elektronischen Kommunikation, Nutzung der Telekommunikationsnetze sowie diesbezügliche Verbote
  • Verkehrsbeschränkungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft
  • Beschlagnahme von Fahrzeugen
  • Einreiseverbote für Ausländer
  • Beschränkung des Kontaktes von Inländern zu Ausländern (inkl. ausländische Unternehmen und Einrichtungen)
  • Aufenthaltsverbote für Ausländer, Ausweisungen, Meldepflichten
  • Anordnung von zeitweisen Umsiedlungen der Bevölkerung
  • Abweichungen von den Regelungen des Haushaltsrechts, Umverteilung von Haushaltspositionen, Beschränkung und Ausweitung von Ausgaben, Einführung neuer Bußgeldtatbestände und diesbezüglche Modifikationen

Die obigen Punkte würden, sollten sie tatsächlich eingeführt werden, zwischen den verfassungsrechtlich verankerten Begriffen des „Notstands“ (szükségállapot, Art. 50 Grundgesetz) und der (u.a. bei größeren Unglücksfällen einschlägigen) „Gefahrensituation“ (veszélyhelyzet, Art. 53 Grundgesetz) das teilweise Kriegsrecht für den Fall von Terrorgefahren- und -anschlägen einführen. Dies auf Verfassungsebene, d.h. eine Kontrolle durch das Verfassungsgericht wäre nicht möglich. Die von der Regierung getroffenen Regelungen sollen, soweit sie vom Parlament nicht bestätigt oder verlängert werden, auf 60 Tage befristet sein. Die Regierung ist lediglich verpflichtetm den Staatspräsidenten und den zuständigen Parlamentsausschuss laufend zu informieren.

Besonders bedrohlich scheint, dass der das Verordnungsrecht auslösende Zustand der „Terrorgefahr“ keine nähere Definition enthält, was die Kontrolle faktisch nur schwer bis überhaupt nicht möglich machen würde. Zusätzlich obliegt die Ausrufung des Sonderzustands – abweichend von dem für den Not- und Ausnahmezustand geltenden Art. 48 des Grundgesetzes – nicht dem Parlament (zusätzlich haben der Staatspräsident, der Präsident des Verfassungsgerichts und der Ministerpräsident zuzustimmen), sondern der Regierung. Diese Grundlage ist insoweit angelehnt an die  bereits heute existierende „Gefahrensituation“.

Artikel 53. (1) Die Regierung kann im Falle von Naturkatastrophen oder Industrieunfällen, die die Lebens- und Vermögenssicherheit gefährden, sowie im Interesse der Abwendung von deren Folgen eine Gefahrensituation ausrufen und durch ein Schwerpunktgesetz festgelegte außerordentliche Maßnahmen ergreifen.

(2) Die Regierung kann im Falle der Gefahrensituation Verordnungen erlassen, mit denen sie – wie durch ein Schwerpunktgesetz festgelegt – die Anwendung einzelner Gesetze aussetzen, von gesetzlichen Bestimmungen abweichen sowie sonstige außerordentliche Maßnahmen treffen kann.

(3) Eine Verordnung der Regierung gemäß Absatz 2 bleibt fünfzehn Tage lang in Kraft, es sei denn, die Regierung verlängert – aufgrund der Ermächtigung der Nationalversammlung – die Gültigkeit der Verordnung.

(4) Eine solche Verordnung der Regierung tritt mit der Aufhebung der Gefahrensituation außer Kraft.

Wesentlich ist somit, dass die Regierung eine gegenüber Art. 53 Grundgesetz deutlich weiterreichende Form der Gefahrensituation, jenseits von Industrieunglücken und Umweltkatastrophen, einführen will, dabei aber das Parlament und die sonstigen Staatsorgane (Präsident, Vorsitzender des Verfassungsgerichts) nicht eingebunden werden sollen.

Oppositionelle Medien nahmen diesen Umstand zum Anlass, die Maßnahmen mit dem Ermächtigungsgesetz des Deutschen Reichs („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich„, verkündet am 24.3.1933) zu vergleichen.  Das Gesetz erlaube die Einführung der Willkürherrschaft in Ungarn, sagte der Universitätsprofessor und ehemalige Ombudsmann für Datenschutz, László Majtényi:

„Das Volk soll blind, taub und stumm gemacht werden.“

Problematisch ist in diesem Zusammenhang nicht nur die außerordentlich große Reichweite der angedachten Maßnahmen, sondern dass der Begriff der Terrorgefahr – blickt man aktuell nach Frankreich (es befindet sich derzeit im Ausnahmezustand) und auch in die USA – beliebig dehnbar ist. Nach den Anschlägen vom 11. September in New York und andernorts hielten Fernsehsender wie Fox News ihre Zuseher mit „Terrorbarometern“ oder ähnlichen Verängstigungsmeldungen in Atem. Die Masche zieht hüben wie drüben. Sieht man sich die von der ungarischen Regierung bewusst und aktiv geschürten Ängste vor Terror im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise an, so kommt die Befürchtung auf, die ungarische Bevölkerung könnte in Teilen „bereit“ sein, die eigene Sicherheit über die gewohnten Freiheitsrechte zu stellen. Die Erkenntnis, dass absolute Sicherheit vor Terroranschlägen gerade in freien Gesellschaften nicht darstellbar ist, könnte in den Hintergrund geraten.

Ein grusliges Szenario also, allein: Es wird sich, so wie es derzeit aussieht, nicht bewahrheiten. Aufatmen?

Die Oppositionsparteien – einschließlich Jobbik – haben den Entwurf wegen seiner weitreichenden Befugnisnormen abgelehnt, wenn auch Jobbik die Einführung eines Terrornotstands grundsätzlich befürwortet. Jobbik kritisiert allerdings die Reichweite der Regierungsbefugnisse.

http://hirtv.hu/reggelijarat/terrorveszelyhelyzet-alkotmanymodositas-1324950

Die Verfassungsänderung müsste durch 2/3 aller Abgeordneten des Parlaments verabschiedet werden , d.h. auch fehlende oder sich enthaltende Abgeordnete der Opposition könnten nichts daran ändern, dass die Regierungsparteien nicht über die notwendige Mehrheit verfügen, den Entwurf passieren zu lassen.

Dies weiß auch Fidesz und versucht seit einigen Tagen, den Gesetzentwurf wenigstens noch im Rahmen der maximalen Publicity für sich zu verwerten. Der Kabinettschef des Ministerpräsidenten, Antal Rogán, betonte, der Gesetzentwurf würde unverändert vorgelegt.

„Es geht hier nicht nur von einer Verfassungsänderung, sondern um mehr, um einen Vorschlag, der den Alltag sicherer macht. Wir vertrauen darauf, dass das Parlament eine verantwortungsvolle Entscheidung trifft, wenn nicht, werden wir uns an das Volk wenden.“

Will heißen: Die Regierung möchte die Opposition vorführen und die eigene Position als „law and order“ Partei stärken. Wer nicht für den Entwurf stimmt, setzt die Sicherheit der Bevölkerung aufs Spiel. Sogar die Durchführung einer Volksabstimmung steht im Raum.

http://www.origo.hu/itthon/20160206-nepszavazast-lengetett-be-rogan-antal-a-terrorkockazat-miatt.html

Einen nicht geringen Teil der Bevölkerung wähnt sie hierbei – ausweislich jüngerer Umfragen – parteiübergreifend hinter sich: Die Mehrheit der Ungarn ist zwar nicht der von der Regierung verbreiteten Ansicht, die Menschen aus dem arabischen Raum seien mehrheitlich „Wirtschaftsflüchtlinge“, steht ihnen wegen der kulturellen Unterschiede und (auch) der von der Regierung in direkte Kausalität zum Flüchtlingsstrom gestellten Terrorgefahr aber deutlich ablehnend gegenüber (näheres hier). Obwohl der ungarische Justizminister László Trócsányi – in Gegenwart des Verfassers dieser Zeilen – bei einer Veranstaltung der deutsch-ungarischen Juristenvereinigung am 14.11.2015, nur einen Tag nach den Anschlägen in Paris, ausdrücklich betonte, man müsse gerade in schwierigen Zeiten die Freiheitsrechte verteidigen und dürfe diese nicht der Angst vor Terror opfern,  scheint diese Ansicht aber nicht der vorbehaltlosesn Mehrheitsmeinung in der Regierung zu entsprechen.

Die Botschaft der Terroristen, die die freiheitlichen Gesellschaften in Angst versetzen und als heuchlerische „Schönwetterdemokraten“ darstellen wollen, welche die lautstark propagierten Rechte sofort opfern, wenn es ungemütlich wird), droht sich jedenfalls in Teilen zu bewahrheiten. Jedenfalls dann, wenn wir bei Bedrohungen unserer Sicherheit als erstes jene Freiheitsrechte opfern, zu deren Verteidigung wir vorgeben, Kriege in allen Ecken der Welt zu führen. Jahrelange Internierung in Gefängnissen, Folter von Verdächtigen, die gezielte Tötung von Terrorverdächtigen ohne Gerichtsurteil – der so genannte „Krieg gegen den Terror“ hält freiheitlichen Gesellschaften den Spiegel vor.

Wenn die maximale Einräumung von Befugnissen ohne Kontrolle unsere Antwort auf die aktuell drängenden Fragen sein soll, wird die weitere Frage erlaubt sein, worin wir uns noch von unfreien Gesellschaften unterscheiden. Sicherheit statt Freiheit? Die Geschichte des – ach, so kultivierten – Europa sollte uns gelehrt haben, dass es nicht so einfach ist.

Áldott és békés karácsonyi ünnepeket! Oder einfach: Frohes Fest!

Verehrte Leserinnen und Leser, liebe Freunde des Blogs,

ich möchte mich, zum Ende des Jahres, abermals für das Interesse und die Kommentare bedanken! 

2015 war für mich, vorwiegend aus beruflichen Gründen (HV ist und bleibt ein Freizeitprojekt), ein im positiven Sinne sehr bewegtes und arbeitsreiches Jahr, was zu meinem Bedauern die ohnehin begrenzte Zeit für die Pflege des Blogs weniger, zu wenig werden ließ. Die Zuschriften und Rückmeldungen aus Ungarn, Deutschland und anderen Ländern, die ihr Bedauern über das weniger aktive Jahr zum Ausdruck brachten, haben mich überwältigt und sind mir Motivation, 2016 wieder mehr zur Debatte beizutragen. Natürlich sind Befürchtungen, man hätte mich „zum Schweigen“ gebracht oder gar unter Druck gesetzt, ebenso unbegründet wie die Furcht (bei einigen: Hoffnung 🙂 …), ich hätte die Lust verloren.

Das Jahresende soll also vom Vorsatz geprägt, sein, neben Beruf und Familie wieder mehr Zeit für meine Leser zu investieren. Nochmals Dank an alle, die dem Blog in diesem „ruhigeren“ Jahr die Treue gehalten haben. 

Ich wünsche Ihnen/Euch ein frohes Fest, ein gesundes und erfolgreiches Jahr 2016 oder Áldott Karácsonyi ünnepeket és BUÉK! 

Beste Grüße

Euer/Ihr Hungarian Voice

Ákos vs. Magyar Telekom: Opium fürs Volk

Die politische Debatte im vorweihnachtlichen Ungarn ist seit einigen Tagen um ein Thema reicher: Dem Streit zwischen der Regierung und der Magyar Telekom rund um die Äußerung des beliebten ungarischen Sängers Ákos Kovács zur Rolle der Frau.

Zur Chronologie: Kürzlich vertrat der ungarische Parlamentspräsident László Kövér auf dem Fidesz-Parteitag die Auffassung, Frauen sollten es als „höchste Form der Selbstverwirklichung“ betrachten, Kinder zu bekommen. Die „Genderverrückten“ lehne er ab.

http://444.hu/2015/12/13/kover-nem-akarunk-genderoruletet

Die Äußerung löste erhebliche Kritik und Spott in Teilen der Gesellschaft und Medien aus. Wobei Kövérs Ansichten heute wohl kaum jemanden überraschen dürften.

Wo ein erster Akt, da auch ein zweiter: Am 13.12.2015 sendete der rechtskonservative Privatsender EchoTV, in dessen Sendungen bisweilen auch offen antiziganistische und antisemitische Äußerungen fallen, ein Interview mit Ákos. 

http://www.echotv.hu/video/109378/20151213_ArcKep

Hierbei wurde auf Kövérs Äußerungen Bezug genommen und der Sänger um seine Meinung hierzu gebeten. Ákos vertrat die Ansicht, es sei „nicht die Aufgabe der Frauen, genau so viel Geld zu verdienen wie die Männer“. Auf die Rückfrage des Interviewers, was denn die Aufgabe der Frau sei, Ákos weiter: „Nun, das weibliche Prinzip zu erfüllen, oder? Zu jemandem zu gehören, jemandem ein Kind zu gebären. Mutter zu sein.“

Im Original: 

„Ákos: A nőknek nem az a dolguk, hogy ugyanannyi pénzt keressenek, mint a férfiak – én így érzem.

Riporter: Nem az a dolguk? Mi a dolguk a nőknek?

Á: Hát, mondjuk a női princípiumot beteljesíteni, nem? Hogy mondjuk, valakihez tartozni. Valakinek gyereket szülni. Anyának lenni.

Auch diese Äußerungen – die Frau als Anhängsel des Mannes, die ihm ein Kind gebärt… – riefen die zu erwartende Empörung in Teilen der Öffentlichkeit hervor. Dies veranlasste den Hauptsponsor des Sängers, das Telekommunikationsunternehmen Magyar Telekom, Tochter der Deutschen Telekom, dazu, sämtliche Verträge mit dem als fidesznah geltenden Ákos wegen dessen Ansichten, die mit den Leitlinien und dem Rollenverständnis des Unternehmens nicht in Einklang stünden, zu beenden. 
Bis zu diesem Punkt könnte man meinen, es handle sich um bloße Belege für das überkommene Weltbild zweier Prominenter und einen privaten Vorgang, der das Verhältnis zweier Vertragspartner betrifft. 

Wäre da nicht die ungarische Regierung. Diese empörte sich postwendend über den Eingriff der Telekom in die Meinungsfreiheit, warf dem Unternehmen gar vor, Ákos zu „diskriminieren“ und „auszugrenzen“, und forderte öffentliche Stellen (Ministerien, Kommunen usw.) auf, ihre Verträge mit der Magyar Telekom zu beenden. Fidesz-Politiker Bence Rétvári wurde die zweifelhafte Ehre zu Teil, diese nur noch als Blödsinn zu bezeichnende Auffassung im oppositionsnahen Fernsehsender ATV bei der zu Höchstform auflaufenden Olga Kálmán zu rechtfertigen. Das Produkt kann man – hier ist ausschließlich Rétvári gemeint – nur noch als Politkabarett bezeichnen…

http://www.atv.hu/videok/video-20151218-retvari-a-szerzodesbontasrol-akostol-fuggetlen-a-kormanyzati-lepes

Ganz gleich, welches Weltbild man zu Karrierefrauen, dem hohen Ziel der Selbstverwirklichung, der lächerlich niedrigen Frauenquote im ungarischen Parlament und dem Fehlen von Frauen in der Orbán-Regierung vertreten mag. Ganz egal, was man von gender mainstreaming halten möge, ob man einen Zusammenhang zwischen immer älteren Müttern und dem Rückgang der ungarischen Bevölkerung erkennt oder diesen negiert. Ob man denkt, Frauen sollten sich, wenn sie die Möglichkeit haben, die Erziehung ihrer Kinder in den Vordergrund stellen. Ob man das Rollenverständnis von Schlagersängern nun für prägend oder bedeutungslos halten mag: Es ist, ohne wenn und aber, das gute Recht eines jeden Unternehmens, Verträge mit jenen Werbeträgern zu beenden, weil deren Weltbild nicht mit dem des Unternehmens in Einklang steht. Der Werbeträger steht in gewisser Weise für das Unternehmen, und man darf frei entscheiden, wen man für sich sprechen lassen will. Die Vertragsbeendigung geht, wie Olga Kálmán mehrfach betonte, die Regierung also rein gar nichts an. Si tacuisses,…

Es hat bestenfalls Unterhaltungswert, wenn ein Träger öffentlicher Gewalt einem den Grundrechten gar nicht unmittelbar unterworfenen Rechtsträger vorwirft, die Meinungsfreiheit zu verletzen…und im selben Moment die Meinungs- und Entscheidungsfreiheit der Verantwortlichen bei der Magyar Telekom in Abrede stellt. Für einen Staat gelten – das lernt man im Grundstudium – eben andere Maßstäbe bei der Grundrechtsbindung als für Privatakteure.

Die Telekom wird es überleben. Ungarn hingegen hat Investoren hingegen abermals verstört. 

EU-Parlament will „Lage der Demokratie in Ungarn“ überwachen

Das EU-Parlament fordert in einer Entschließung von heute, die Lage der Demokratie in Ungarn zu überwachen. Näheres auf der Webseite des Parlaments:

http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/20151210IPR06854/Ungarn-Parlament-fordert-Überwachung-der-Lage-der-Demokratie

Die Entschließung kommt zu einer Zeit, in der die ungarische Regierung vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise wieder starken Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Nach diesem Maßstab scheint die Lage der Demokratie in Ungarn – ob man der Flüchtlingspolitik nun zustimmen mag oder nicht – stabil. Die Regierung tut das, was eine überwiegende Mehrheit der Menschen will. Demokratischer geht kaum.

Wichtig ist der letzte Satz der Pressemitteilung: man befürchtet eine „Ansteckung“ anderer Mitgliedstaaten mit dem, wie es der ZDF-Chef einst bezeichnete, „ungarischen Virus“. Endlich wird es ausgesprochen: Es geht – und das seit 2010 – weniger um Ungarn als um das, was Diskussionen über die dortige Politik andernorts verusachen könnten. Zum Beispiel in Österreich… 🙂

Boris Kálnokys „Notizen aus Budapest“

Von Boris Kálnoky, Budapest

Für die Leser des Blogs möchte ich erneut einige Details und Anekdoten aus der ungarischen Politik und Gesellschaft zugänglich machen, die vielleicht interessant, aber nicht „groß“ genug sind, um in meinen Artikeln verwertet werden zu können. Manche Namen und Quellen kann ich hier nicht nennen (manche Infos natürlich auch nicht).

Die Leser fragen sich vielleicht, warum Ungarn in der Flüchtlingskrise so offensiv vorgeht, auch auf der europäischen Bühne. Ich habe es zwar in einem Orbán-Porträt bereits geschrieben, aber dieser Glaube durchdringt wirklich die ganze Regierungspartei. Ich merke es immer wieder in Gesprächen: Man hofft/ist überzeugt, dass die Flüchtlingskrise Europa verändern wird, aber nicht so, wie es die „Veränderer“, also die Verfechter eines „offenen“ Kurses gegenüber Flüchtlingen, hoffen. Sondern dass die Krise die „Veränderer“ wegfegen wird, dass solche Parteien in Europa an die Macht kommen, die einen härteren Kurs vertreten, oder dass Altparteien ihre Haltung ändern werden müssen, um die Wählergunst nicht zu verlieren. Ich glaube, Orbán selbst will auf die europäische Öffentlichkeit einwirken, um diesen Prozess zu beschleunigen.

Viktor Orbán erzählte uns beim gemeinsamen Interview vor einigen Wochen, sein Lieblingsheld in der Literatur sei Miklós Toldi, eine klassische männliche Heldenfigur „der für das Recht kämpft und die Frauen verteidigt, ein richtiger Mann“. Adam Lebor fragte dann ob das nicht ein etwas veraltetes Männerideal sei. Orbán: „Wenn Sie wüssten, was Frauen in den Flüchtlingslagern durchmachen, würden Sie das nicht sagen, dass der schützende Mann ein veraltetes Ideal ist“.

Es wird eine spannende Frage, ob Fidesz bei den nächsten Wahlen zum EVP-Vorsitz erstmals seit dem Abtritt Orbáns aus dieser Funktion wieder eine/n Kandidaten/in als Vizevorsitzende/n durchbringen kann. Fidesz ist die fünftstärkste Fraktion, es gibt 10 Vizepräsidenten. Hinter den Kulissen hat das Gerangel um die Posten schon begonnen.

Klingt fast komisch, aber man sorgt sich bei Fidesz ganz ernsthaft um die linke Opposition. Deren chronische Selbstzerstörung kann nämlich zur Folge haben, dass als einzige Alternative zu Fidesz nur Jobbik bleibt. Und in einer Demokratie tritt jede Regierungspartei irgendwann wieder ab. Das weiß man auch bei Fidesz – und man will nicht, dass dann, irgendwann in der Zukunft, nur Jobbik nachrücken kann. Kurzum, man fragt sich tatsächlich, ob man der Opposition irgendwie helfen soll/kann…

Spiegel Online über vermeintliche „Sonderjustiz“ gegen Flüchtlinge in Ungarn

Spiegel Online veröffentlichte gestern einen Beitrag von Keno Verseck im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation in Ungarn. Der mit „Sonderjustiz: Ungarn urteilt Flüchtlinge im Schnellverfahren ab“ betitelte Beitrag prangert die seit September 2015 geltende neue Rechtslage an, die – so Verseck – mittels eines „Winkelzugs“, der das Überwinden und Beschädigen der Grenzzaunanlage zwischen Serbien und Ungarn zur Straftat erklärt habe, die Genfer Flüchtlingskonvention „aushebele“. Tatsächlich verbiete die Genfer Flüchtlingskonvention „eigentlich, Flüchtlinge für einen illegalen Grenzübertritt zu bestrafen.“

Eigentlich. Und uneigentlich? Um es vorweg zu nehmen: Der Artikel gibt die Rechtslage der Flüchtlingskonvention nur unzureichend, teilweise verzerrt, wieder. Was „eigentlich“ in der Konvention steht, soll nachfolgend wiedergegeben werden. Mit Versecks Auslegung hat die Rechtslage nämlich nur wenig zu tun.

Artikel 31 Abs. 1 der Konvention lautet:

„Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen.“

Tatsächlich ist vorgesehen, dass die Vertragsstaaten – also auch Ungarn – die Verhängung von Strafen unter bestimmten Voraussetzungen zu unterlassen haben. Das, was Verseck beiläufig als „eigentlich“ bezeichnet, hat jedoch konkrete Voraussetzungen. Diese sind:

  • Die Flüchtlinge müssen „unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren„. Bereits diese Voraussetzung ist bei einer Einreise via Serbien nicht erfüllt. Serbien ist immerhin selbst Vertragsstaat der Flüchtlingskonvention (sicherer Drittstaat), eine unmittelbare Einreise aus dem Kriegs- oder Krisengebiet gebiet liegt dort also ebensowenig vor wie eine dort bestehende Bedrohung des Lebens. Ganz zu schweigen davon, dass die betroffenen Flüchtlinge bereits in Griechenland EU-Hoden betreten hatten, d.h. spätestens dort in Sicherheit waren.
  • Weiterhin setzt die Nichtbetrafung illegaler Grenzübertritte voraus, dass die Flüchtlinge „sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen.“ Auch diese zusätzliche Voraussetzung ist offenkundig bei praktisch keinem Flüchtling erfüllt – Ungarn sieht sich vielmehr seit Monaten mit der bemerkenswerten Situation konfrontiert, dass Flüchtlinge den Anspruch auf Einreise in die EU erheben, sich aber weigern, den europäischen und von der Konvention vorgesehenen Regeln zur Registrierung nachzukommen. Aus der Formulierung der Genfer Flüchtlingskonvention ergibt sich unmissverständlich, dass eine Bestrafung nur dann zu entfallen hat („vorausgesetzt,…“), wenn der Flüchtling sofort nach der Einreise die Behörden aufsucht und Gründe dafür darlegt, warum er statt des Grenzübertritts über eine Grenzübergangsstelle die „grüne Grenze“ gewählt hat. Gerade das wollen die Flüchtlinge jedoch samt und sonders nicht, sie weigern sich vielmehr, in Ungarn registriert (und nach dem Dubliner Übereinkommen dort dem Asylverfahren unterworfen) zu werden, da sie nach Westeuropa weiterreisen möchten. Dass jemals Gründe dargelegt worden seien, die das Umgehen der offiziellen Grenzübergangsstellen gerechtfertigt hätten, behauptet – zu Recht – nicht einmal Keno Verseck.

Verseck verschweigt seinen Lesern die zitierten Regelungen. Mit Bezugnahme auf Stimmen aus der ungarischen Anwaltschaft wird vielmehr suggeriert, Ungarns Aburteilungspraxis sei EU- und völkerrechtswidrig. Gegen welche Regeln durch die Urteilspraxis konkret verstoßen werde, ist dem Beitrag leider nicht zu entnehmen. Unkonkrete Vorwürfe unter Nennung vermeintlicher Experten, gepaart mit dem Verschweigen maßgeblicher Tatsachen, bildet vielmehr den Inhalt des offenbar weniger auf Informationsvermittlung als auf Meinungslenkung abzielenden SPON-Beitrags. Das Prinzip ist aus der Ungarn-Berichterstattung bekannt: Tatsächliche oder vermeintliche Expertenmeinungen ersetzen Recherche und Faktendarstellung.

Die Flüchtlingspolitik Ungarns erscheint in vielen Punkten tatsächlich kritikwürdig. Beginnend mit der fragwürdigen Behandlung der Flüchtlinge, die zum Teil unzumutbaren Zustände in den Auffanglagern, die Irreführung von Flüchtlingen bezüglich des Zielortes von Zügen und die generelle Ablehnung von Quoten, die eine Lastenverteilung in der EU sicherstellen würden.

Hinzu kommt das systematisch erscheinende Schüren von Ressentiments, die nicht nur in Plakatkampagnen und suggestiven Umfragen, sondern auch durch das konsequente Nichterwähnen des Begriffes „Flüchtling“ in den staatlichen Medien und unpassenden kulturkämpferischen Argumenten (Christentum vs. Islam) Ausdruck findet.

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Diese Art der Berichterstattung und Lenkung der öffentlichen Meinung trägt bisweilen sogar strafrechtlich relevante Früchte: Erst kürzlich wurde ein Mann verhaftet, nachdem er zwei jungen Frauen, die eine syrische Familie auf der Autobahn M1 mitnehmen wollten, damit gedroht hatte, ihren VW-Bus mit einer Handgranate zu sprengen. Es ist – nach Ansicht des Verfassers – auch den staatlichen Medien zu verdanken, dass Einzelne sich als „Vollstrecker des Volkswillens“ fühlen.

Die ungarische Regierung geriert sich als „Grenzwächter“ Europas, ist aber einzig an der Umlenkung des Flüchtlingsstroms an Ungarn vorbei interessiert: Anders ist es nicht erklärlich, dass Flüchtlinge, die derzeit in großer Zahl über Kroatien (dort existiert kein Zaun) einreisen, in Busse gesetzt und an die österreichische Grenze – zur Weiterreise nach Deutschland – gebracht werden. Das Motto lautet allein: Keine Flüchtlinge in Ungarn. Wenn sie andernorts auftauchen, egal, denn wir wollen keine Quote. Mit dieser – mit europäischer Solidarität und Lastenverteilung nicht in Einklang zu bringenden – Politik steht Ungarn nicht allein, hat vielmehr sämtliche Visegrad-Staaten auf seiner Seite. Die Regierung ist aber Vorreiter, was die Irreführung der Öffentlichkeit im Bezug auf ihre Motive und die EU-Rechtsnormen angeht. Letztere werden von Ungarn, was die Dublin-Regeln angeht, systematisch gebrochen, nicht etwa verteidigt. Dass die deutsche Politik, namentlich die CSU, das nicht erkennt, verwundert. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass Deutschland und andere Weseuropäische Staaten die Problematik des Flüchtlingsstroms lange Zeit ignoriert und den Grenzregionen des Schengen-Raumes mit ihren Problemen allein gelassen haben. Davon können nicht nur Ungarn, sondern auch Griechenland und Italien ein Lied singen.

Natürlich muss auch von Flüchtlingen erwartet werden, dass sie sich an die Regeln der Aufnahmestaaten halten. Die Flüchtlingskonvention selbst sieht in Artikel 2 vor:

„Jeder Flüchtling hat gegenüber dem Land, in dem er sich befindet, Pflichten, zu denen insbesondere der Verpflichtung gehört, die Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen zu beachten.“

Zu den“Gesetzen“ Ungarns gehört auch unmittelbar anwendbares EU-Recht. Die Regstrierungspflicht im ersten Land der EU – dies ist übrigens das systematisch rechtsbrüchige Griechenland – ist zwingend, weshalb jeder Flüchtling seinerseits seinen Status gefährdet, der versucht, auf eigene Faust dasjenige Land anzusteuern, von dem er sich die besten Perspektiven verspricht. So menschlich verständlich es ist, dass Menschen, die alles verloren haben, dorthin gehen möchten, wo ihnen die Umstände bestmöglich erscheinen: es ist eben nicht die europäische Rechtslage. Und auch wenn wir uns alle fragen sollten, mit welchem moralischen Recht wir, die wir zufällig im wohlhabenden Europa leben und von einem Frieden profitieren, zu dem wir selbst wenig beigetragen haben, Menschen, die zufällig in Kriegsregionen leben müssen, das Recht absprechen, nach einer besseren Existenz zu suchen – wir können die Probleme der Welt nicht in Europa allein lösen und müssen auf die Einhaltung unserer Gesetze pochen. Der ehemalige Chef der Flüchtlingsorganisatio Kap Anamur, Rupert Neudeck, plädierte jüngst nicht nur für eine schnelle Integration und die Beschleunigung von Asylverfahren, sondern auch eindeutig dafür, ankommende Menschen mit ihren Verpflichtungen bekannt zu machen. Neudeck, geboren 1939 in Danzig, hat selbst eine Geschichte als Flüchtling.

Die derzeitige Situation hat also viele Verantwortliche. Umso wichtiger ist es, die Leser wahrheitsgemäß zu unterrichten. Die ungarischen Staatsmedien und Versecks Beitrag geben sich, was diesbezügliche Defizite angeht, nicht viel.