Der Orbánkritiker und mit dem Attila-József-Preis ausgezeichnete Übersetzer von literarischen Werken, János Széky, reagiert in einem offenen Brief auf den Aufruf deutscher und österreichischer Intellektuelle unter dem Titel „Stiftet Aufruhr!“ (HV berichtete).
Das Original ist hier verlinkt. Ich habe den Brief für die deutschen Leser in voller Länge übersetzt.
„Sehr geehrte Elfriede Jelinek!
Scheren Sie sich bloß zum Teufel.
Sie haben einen offenen Brief geschrieben, in dem sie die Vorgänge in Ungarn mit dem Begriff der „systematischen Faschisierung“ zusammengefasst haben. Diesen Brief haben fünfzig deutschsprachige Intellektuelle unterzeichnet, die, ebenso wie Sie, wenig Ahnung von Ungarn haben.
Nachdem Sie im weiteren Verlauf Ihres Briefes die Regierung Orbán beschuldigen, ein „Rechtsregime“ aufzubauen, muss ich annehmen, dass für Sie die Begriffe „rechts“ und „Faschismus“ übereinstimmen. Ferner stellen Sie fest, dass die Mittel der „demokratischen Zivilgesellschaft“, wie zum Beispiel Petitionen, Podiumsdiskussionen, Dokumentarfilme und Ähnliches nicht mehr ausreichen, vielmehr Bedürfnis an einem „neuen Radikalismus“ bestehe.
Zunächst einmal möchte ich Sie darüber aufklären, dass niemand beabsichtigt, Ungarn systematisch zu „faschisieren“, wer das wirklich vorhat, steht weitab des systematischen Vorgehens. Die jetzige Regierung, die ich, glauben Sie mir, kein bisschen mag, hält das bis zum 19. März 1944 bestehende System für das letzte historisch tragbare, jenes System wiederum war nicht faschistisch.
Zweitens erlaube ich mir, Sie darüber aufzuklären, dass keineswegs Einigkeit in der Bewertung der Partei Viktor Orbáns als „rechts“ besteht. Solange sie in der Opposition war, d.h. zwischen 2002 und 2010, arbeitete sie ausdrücklich mit Parolen und Werkzeugen des Linksradikalismus. Und seitdem sie die Regierungsgeschäfte übernommen hat, setzt sie die Politik des vor 1990 bestehenden staatssozialistischen Systems fort, welches dadurch charakterisiert war, das Wohl der zu begünstigenden gesellschaftlichen Gruppen unabhängig von den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen „systematisch“ zu erhalten oder sogar zu erhöhen. Das aber ist astreine linke Politik.
Die traurige Begebenheit, dass die Begünstigungen nicht „allen“, sondern nur einer engen oberen Schicht zugute kommen, die sich das überhaupt nicht verdient hat, kommt daher, dass der Regierung weniger Geld zur Verfügung steht, schlicht und einfach deshalb, weil nicht alle Einnahmequellen in ihre Hände fließt, sondern nur die Steuern. Die heutige Oberschicht ist aber anspruchsvoller, als die einstige Schicht aus Fabrikarbeitern. Dennoch: Die linke Logik, bzw. die fehlende linke Logik, ist ein und dasselbe.
Drittens verstehe ich nicht, wie Sie darauf kommen, dass gegen das Orbán-System nur die Zivilgesellschaft, und auch innerhalb dieser auch nur eine selbst (oder durch Sie) ernannte crème de la crème von Intellektuellen auftreten darf. Nehmen wir doch einmal an, dass es tatsächlich keine anderen kraftvollen politischen Akteure in Ungarn und Europa gäbe (ich verrat´s Ihnen: es gibt sie doch!), so würde ein solches Auftreten nicht die jetzige Regierung, sondern sozusagen als Nebenwirkung die gesamte liberale Demokratie einschließlich ihres institutionellen Systems zu Fall bringen. Ich verrate Ihnen noch etwas: Die von Ihnen empfohlenen, für unverdorben gehaltenen zivilen Demokratieschützer – von den „SMS-Multiplikatoren“ bis zu den Umweltschützern – wurden von Orbán und seinem System in ihrem Kampf um die totale Macht ebenso benutzt wie nach dem Wahlsieg.
Viertens: Nicht ein einziges Mal in der Geschichte wurde eine schlechte Regierung durch Podiumsdiskussionen und Dokumentarfilme zu Fall gebracht. Die schlechten Regierungen scheitern entweder im Parlament oder als Auswirkung massenhafter Demonstrationen auf der Straße.
Sie scheinen trotzdem der Auffassung zu sein, dass das Scheitern durch eine noch nicht abschließend festgelegte Reihe von Aktionen herbeigeführt werden kann, eine „mächtige Druckwelle der Gegenöffentlichkeit“, was wiederum durch eine Intellektuellenkonferenz in Wien angestoßen werden soll. Als Vorbild benennen Sie zwei Veranstaltungen aus der Vergangenheit: Die im Jahr 1935 in Paris abgehaltene antifaschistische Schriftstellerkonferenz („zum Schutz der Kultur“) und die 1963 in der Tschechoslowakei abgehaltene „Kafka-Konferenz“ (von der viele denken, sie sei der erste wichtige Schritt zum Prager Frühling gewesen).
Ich bedaure sehr, dass ich eine Nobelpreisträgerin mit historischem Wissen traktieren muss, aber dadurch, dass im Schloss von Libice ein Kafka-Kenner namens Prof. Goldstücker und seine Kollegen die marxistische Dogmatik missachteten, haben sie politisch noch lange nichts erreicht. Abgesehen davon sind die heutigen ungarischen Intellektuellen unvergleichbar freier, als sie es 1963 in der Tschechoslowakei waren. Das, was heute bei uns vorherrscht, ist keine totalitäre Diktatur. Also vielen Dank, aber wofür ein neuer Kongress?
Den Schriftstellerkongress des Jahres 1935 hingegen hat man ausdrücklich aus Moskau initiiert, unter dem Vorzeichen der damals aktuellen „Volksfrontpolitik“, um die Stalinisten salonfähig zu machen und die französisch-sowjetische Annäherung zu beschleunigen. Mit Erfolg. Die westeuropäischen totalitären Systeme wiederum wurden hierdurch kein Stück ins Wanken gebracht. Also vielen Dank auch hierfür, wofür nur das Ganze? Und noch nicht einmal vier Jahre später hatte das ganze frankreichfreundliche Volksfrontgetue keinerlei Sinn mehr, und zwar wegen eines ganz bestimmten Paktes. Warum also sollte man genau diesem Beispiel folgen?
Sie schreiben: „Das politisch institutionalisierte Europa schaut tatenlos zu.“ Ich hingegen würde all das, was von Barroso bis Merkel, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bis zur Venediger Kommission, von der Europäischen Kommission bis zum Europäischen Rat ständig getan wird, um die ungarische Regierung zur Vernunft zu bringen, nicht als tatenlos bezeichnen. Das Problem liegt viel eher darin, dass sie nicht wissen, was man tun soll, wenn eine Regierung – und deren politische Anhänger, die sie mit überwältigender Mehrheit wählen und immer noch mehrheitlich stützen – derart den Verstand verlieren, dass das nach dem Beitritt zur Europäischen Union die Beitrittsvoraussetzungen nicht mehr erfüllen will. Es geht um die Frage, was zu tun ist, wenn es an einer Regierung in Ungarn fehlt, mit der man kommunizieren könnte, und es keine politische Kraft im Land gibt, die in der Lage wäre, diese Regierung über kurz oder lang auf friedlichem Wege zu Fall zu bringen.
Jedermann darf Blödsinn in offene Briefe schreiben, schließlich gibt es die Meinungsfreiheit. Hingegen ist es schon grenzwertig, wenn man andere zu politischen Taten aufstachelt, wenngleich ich nicht behaupten will, dass derjenige, der so verantwortungslos handelt, lieber seinen Mund halten sollte. Denn die intellektuellen Konferenzen sind – wie oben aufgezeigt – politisch ohne jede Bedeutung, insofern kann dem, was Sie unter neuem Radikalismus verstehen, nicht sonderlich viel Substanz innewohnen.
Weshalb sollen Sie sich nun trotzdem zum Teufel scheren? Ich sage es Ihnen gerne:
Unsere Regierung ist davon besessen, dass die Kommunisten, die Sozialdemokraten, linke und rechte Liberale – was nach Auffassung unserer Regierung ein und dasselbe ist –, d.h. die Nachkommen der bösen 68er, auf Zuruf der hiesigen Opposition eine Offensive gegen die Regierung begonnen haben, obwohl sie (die Regierung) demokratisch, patriotisch und respektvoll gegenüber Grundwerten ist. Umgekehrt: Die innere Opposition werde durch eine Einheitsfront, die vom internationalen Großkapital bis zum antikapitalistischen Underground reicht, finanziert und taktisch beraten. Und just in einem Moment, wenn sogar schon der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk seinem Publikum lauthals lachend mitteilt, dass Orbán ein Rumpelstilzchen ist, oder wenn die friedlichsten, demokratiefreundlichsten Studentenführer von der Polizei aus ihren Betten gezerrt werden, um bloß nicht am nächsten Tag gegen Fidesz zu demonstrieren, ja: genau in diesem Moment sprechen Sie davon, dass man mit friedlichen Protest nichts mehr erreichen könne und predigen einen neuen Radikalismus. Und mehr noch, nach dem Titel ihres Aufrufs zu erteilen, von Aufruhr und Aufstand.
Der liebe Gott möge uns, die Freunde der Freiheit, im (nach Ihren Worten) „Fäulnisherd Europas“ von all dem bewahren.
Was noch schlimmer ist: Egal was Sie unter dem „neuen Radikalismus“ verstehen, unsere Regierung wird das nur so deuten können, dass ihre internationalen Feinde nun schon gerade heraus zum Aufstand hetzen. In einem Moment also, wenn es ausreichend Grund und Bereitschaft für das „institutionalisierte Europa“ gäbe, einheitlich aufzutreten, reichen Sie unserer paranoiden Regierung den Beweis für ihre Verschwörungstheorien auf dem Silbertablett, und geben ihr den Vorwand, die internationalen Initiativen zu verteufeln und gegen den inländischen Protest noch härter (als bisher) vorzugehen. Danke, aber das haben wir wirklich nicht gebraucht.
Vielleicht erinnern Sie sich an den amerikanischen Roman, der unter dem Titel „Die Enden der Parabel“ auf deutsch erschien, und an dessen Übersetzung auch Sie mitgewirkt haben (ich habe ihn in „Súlyszivarvány“ übersetzt). Er befasst sich mit der Bedeutung des Verfolgungswahns auf die Welt und die Politik. Künftig sollten Sie sich in Kenntnis dieses Romans über die ungarischen Geschehnisse äußern.
Mit freundlichen Grüßen
János Széky„