Studenten an die Leine? EU-Kommission erwägt Einleitung eines weiteren Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn

Aktuellen Presseberichten zufolge erwägt die EU-Kommission die Einleitung eines weiteren Vertragsverletzungsverfahrens gegen Ungarn. Grund ist diesmal die Reform der Hochschulbildung. Der Neuregelung zufolge soll das Studium in Ungarn kostenfrei sein, jedoch ist diese Begünstigung daran gebunden, dass die Studenten nach Erwerb ihres Abschlusses eine bestimmte Zeit – doppelt so lange wie ihr Studium gedauert hat – im Inland arbeiten. Bei einer Abwanderung in das Ausland würde die Rückzahlung des „Studiendarlehens“, d.h. der Kosten des Studiums, fällig.

Die EU-Kommission hegt gegen diese Praxis Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der Freizügigkeit und wird Ungarn in den kommenden Tagen ein sog. erstes Anhörungsschreiben zukommen lassen.

Nach Ansicht der Kommission sollen sich sowohl Arbeitnehmer als auch Selbständige, frei von bürokratischen Hürden, EU-weit niederlassen und Arbeit aufnehmen können. Diese Freizügigkeitsrechte (Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit) sind als sog. „allgemeine Beschränkungsverbote“ ausgestaltet, untersagen somit jede Art von unmittelbarer und mittelbarer Beschränkung, soweit diese nicht aus Gründen des Allgemeinwohls und der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (sog. „ordre public) gerechtfertigt ist.

http://www.portfolio.hu/en/economy/commission_may_start_yet_another_infringement_procedure_against_hungary_over_education_law.25137.html

So verständlich die Sorge Ungarns vor einer Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte (insbesondere Ärzte und Ingenieurberufe) ist: Die Aussichten, vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen Vertragsverletzung verurteilt zu werden, stehen hoch. Die Personenfreizügigkeit ist eine der wichtigsten Grundfreiheiten im EU-Recht, Ausnahmen gesteht der EuGH in ständiger Rechtsprechung nur in Ausnahmefällen zu. Dass der Erlass der Studiengebühren an einen längerfristigen Aufenthalt gebunden wird, dürfte einen nicht gerechtfertigten Eingriff in EU-Recht darstellen. Auch die Tatsache, dass Ungarn – wie andere junge EU-Mitglieder auch – aufgrund des bestehenden Einkommensgefälles einen Aderlaß an Arbeitskräften erleidet, dürfte nicht ausreichen, um einen der tragenden Grundpfeiler des EU-Rechts, den Binnenmarkt, außer Kraft zu setzen. Wäre dies möglich, würde das faktische Ende der Freizügigkeit bei gut ausgebildeten Fachkräften drohen: Jeder Mitgliedstaat könnte dann nämlich durch hohe Studiengebühren, die erst bei Abwanderung nachträglich fällig werden, die auf „seine Kosten“ Ausgebildeten an die finanzielle Leine legen und so an sich binden. Dass es so weit kommt, ist höchst unwahrscheinlich. Schließlich ist auch die gesamte EU-Hochschulpolitik – namentlich die Vereinheitlichung von Studienabschlüssen – auf Internationalisierung ausgerichtet.

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SPIEGEL: Bildungsreform „vertreibt die Elite“

Das Wochenmagazin „Der Spiegel“ berichtet kritisch über die Bildungsreform der Regierung Orbán:

http://www.spiegel.de/schulspiegel/ausland/bildungsreform-in-ungarn-regierung-orban-laesst-abiturienten-fliehen-a-834190.html

Die Kritik fokussiert auf zwei Punkte: Zum einen die Reduzierung der kostenfreien Studienplätze, zum anderen auf die Regelung, die Absolventen verpflichtet, nach ihrem Abschluss mindestens doppelt so lange in Ungarn zu arbeiten (und Steuern zu zahlen), wie ihr Studium gedauert hat.

Die Interviews mit werdenden Hochschülern sind lesenswert.