Die TAZ bringt heute ein Interview mit dem für Romaangelegenheiten zuständigen Staatssekretär Zoltán Balog:
http://taz.de/Politiker-ueber-Antiziganismus-in-Ungarn/!82415/
Die TAZ bringt heute ein Interview mit dem für Romaangelegenheiten zuständigen Staatssekretär Zoltán Balog:
http://taz.de/Politiker-ueber-Antiziganismus-in-Ungarn/!82415/
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bringt in ihrer heutigen Online-Ausgabe einen lesenswerten Beitrag mit dem Titel
„Roma in Tschechien – Zwist im Zipfel“ .
Thema des Beitrags sind Spannungen zwischen Mitgliedern der Roma-Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft im sog. „Schluckenauer Zipfel“ in Böhmen.
Im Vergleich zur höchst einseitigen Berichterstattung über das ungarische Dorf Gyöngyöspata, das im Frühjahr europaweit zu einem Negativbeispiel an mehrheitsfähigem Rassismus und Zigeunerhass in Ungarn gemacht wurde – ohne die Mehrheitsgesellschaft im Ort überhaupt um ihre Sichtweise zu bitten – , berichtet die FAZ im Fall Tschechiens auch über die Vorgeschichte der Spannungen.
„Die tschechische Polizei registrierte 2011 im Schluckenauer Zipfel gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg der Kriminalitätsrate insgesamt um 20 Prozent, bei Eigentumsdelikten um 37 Prozent. Geklaut wird, was sich klauen lässt, vorzugsweise öffentliches Eigentum in Form von Bahngeleisen, Telefonkabeln und Kanalgittern, denn die Preise für Altmetall steigen. Die Beschwerden der Bürger wurden lange ignoriert – bis zwei brutale Verbrechen die Aufmerksamkeit auf die Zustände im Norden Böhmens lenkten.
Am 7. August stürmte eine Gruppe junger Roma mit Schlagstöcken und Macheten eine Bar in Haida (Nov Bor). Drei Gäste wurden bei dem Überfall verletzt. Zwei Wochen später fielen an die 20 junge Roma auf einer Straße in Rumburg über sechs Tschechen her. Vergeblich versuchten Sprecher der Roma, die Vorfälle mit dem Hinweis zu relativieren, dass es im Land Tag für Tag Hunderte von ähnlichen Raufereien zwischen Jugendlichen gebe, ohne dass sich die Medien dafür interessieren würden. Die Polizei nimmt an, dass sich die Täter von rassistischen Motiven leiten ließen. Die Stimmung kippte. Am Freitag voriger Woche umstellten rund tausend wütende Bürger in Rumburg nach einer Kundgebung Häuser, in denen Roma wohnen, um sie zu Gegenreaktionen zu provozieren. Die Polizei griff ein, als sie damit begannen, einen Zaun niederzureißen. Nach einem Bericht von Romea.cz – eines Nachrichtenportals der tschechischen Roma – soll eine Roma-Familie aus Rumburg geflohen sein. Sie sei mit dem Tod bedroht worden und habe sich vergeblich an die Polizei gewandt.“
Eine derartige Berichterstattung hätte man sich auch in den Gyöngyöspata-Reportagen in den Mainstream-Medien gewünscht. Wie in der Wochenzeitung „Heti Válasz“ berichtet worden war, kam das Auftreten der uniformierten Neonazis nicht „zufällig“, sondern war die traurige Folge versagender Polizeibehörden und einer desolaten Sicherheitslage:
Die linke Wochenzeitung Jungle World interviewt Judit Geller von der NGO „European Roma Rights Center“ über die Situation der Roma in Ungarn. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die Minderheit vor der „Tyrannei der Mehrheit“ zu schützen.
http://jungle-world.com/artikel/2011/31/43730.html
Flankierend hierzu empfehle ich den Blog-Beitrag vom 10.05.2011 inkl. des Interviews mit dem Winzer Bálint Losonci aus der Heti Válasz. Die dortige Situationsbeschreibung – einer der wenigen Fälle, in denen ein Mitglied der sog. „Mehrheitsgesellschaft“ überhaupt zu Wort kommen durfte – hört sich zwar ein wenig anders an als die von Judit Geller, ist aber für das Gesamtbild aus meiner Sicht erforderlich. Vorausgesetzt, man möchte den großen Zulauf zu Gunsten der Rechten verstehen. Audiatur et altera pars.
Oszkár Juhász, der Kandidat der im ungarischen Parlament vertretenen rechtsradikalen Partei „Jobbik“ (eigentlich: „Jobbik Magyarországért Mozgalom“, Bewegung für ein besseres/rechteres Ungarn) hat die Bürgermeisterwahl in Gyöngyöspata für sich entschieden.
http://derstandard.at/1310511469832/Rechtsextremer-gewinnt-Buergermeisterwahl
Der Ort war im Frühjahr zu trauriger internationaler Bekanntheit gelangt, nachdem rechtsradikale „Bürgerwehren“ im Ort aufmarschiert waren und einen seit langen schwelenden Konflikt zwischen Mehrheitsbevölkerung und Roma-Minderheit endgültig zum Eskalieren brachten. Auch in Anbetracht mehrerer in den vergangenen Jahren verübter bestialischer Morde an Roma in Ungarn wurde europaweit über die Vorfälle in Gyöngyöspata, die Einschüchterung der Roma-Minderheit durch die „Bürgerwehren“ und das damit einhergehende unrühmliche Ende des staatlichen Gewaltmonopols berichtet; trotz (oder wegen) der großteils verständlichen Erschütterung mitunter leider ohne die nötige Sorgfalt.
Anwohner Gyöngyöspatas, die Angehörige der Mehrheitsgesellschaft waren, kamen kaum zu Wort. Lediglich die konservative ungarische Wochenzeitung Heti Válasz hat sich die Mühe gemacht, einen längeren Bericht über einen im Ort ansässigen Winzer zu publizieren und somit „die andere Seite“ – in Form eines jungen Familienvaters – zu Wort kommen zu lassen. Der Beitrag wurde hier im Blog in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Ich möchte nochmals auf den interessanten Beitrag von Peter Klingler auf seinem Blog borwerk.de aufmerksam machen.
Auch Index hatte einen lesenswerten Beitrag publiziert:
Tamás Eszes, Chef der selbsternannten Bürgerwehr „Véderö“ (Wehrmacht), die vor einigen Wochen durch ihr Auftreten im Ort Gyöngyöspata für Angst in der Romabevölkerung und internationales Aufsehen gesorgt hatte, wurde laut Presseberichten von einem Gericht in Gyöngyös wegen Beleidigung und Körperverletzung zu einer Haftstrafe von 18 Monaten verurteilt. Eszes habe während seiner Festnahme Polizeibeamte beleidigt und geschlagen. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, die Bewährungszeit beträgt vier Jahre. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Nach dem oben verlinkten Bericht des Pester Lloyd wertete das Gericht mehrere Vorstrafen von Eszes (Körperverletzung, Verleumdung und Steuerhinterziehung) als strafschärfend.
Die schon wenige Wochen nach der Tat ausgesprochene Verurteilung wirft ein grundsätzlich positives Licht auf das zuständige Gericht. Es wurde eine Haftstrafe ausgesprochen, dies noch dazu in recht kurzer Zeit. Gleichwohl wird der Sachverhalt von oppositionellen Kreisen zum Anlass genommen, erneut das Bild einer „Zwei-Klassen-Justiz“ zu zeichnen .
Der Pester Lloyd greift in diesem Zusammenhang einen empörten Blogbericht auf, demzufolge die bislang unbescholtene Angehörige der Roma-Minderheit in Gyöngyöspata nun wegen eines Zwischenfalls in Haft müsse („Zwei Urteile: Bewährung für vorbestraften Nazi, Haft für unbescholtene Roma„).
Was war geschehen? Im Zuge der angespannten Situation in Gyöngyöspata hatte die Romni eine Frau tätlich angegriffen, die sich – so der Pester Lloyd – abwertend über Roma geäußert habe.
Das zuständige Gericht verurteilte die Romni im Mai 2011 u.a. wegen leichter Körperverletzung zu einer Geldstrafe. Deren Höhe soll nach obigem Bericht (inkl. Verfahrenskosten) 380.000 Forint (ca. 1.400 EUR) betragen. Die Strafe selbst beträgt 250.000 Forint, also ca. 900 EUR. Die Angeklagte nahm das Urteil an, sodass es rechtskräftig wurde. Sie ist jedoch offenbar nicht in der Lage, den Zahlungsauflagen rechtzeitig nachzukommen, weshalb sie – so der Pester Lloyd und der o.g. Blog – nun eine so genannte „Ersatzfreiheitsstrafe“ antreten müsse. Beide Medien empören sich nun über den Umstand, dass eine bislang unbescholtene Romni in Haft müsse, ein vorbestrafter Neonazi jedoch Bewährung erhalte, ergo: auf freiem Fuß bleibe. Der Pester Llloyd: „Wir halten es für unerträglich, den Neonazis die Genugtuung zu Teil werden zu lassen, eine Roma wegen ihrer Überreaktion auf deren abscheuliche Aktion im Gefängnis zu sehen, während ihr Anführer quasi ungeschoren davon gekommen ist.“
Offenbar wird derzeit Geld für die Verurteilte gesammelt, um ihr die Ersatzhaft zu ersparen.
Die Empörung der beiden Medien über die scheinbare Zweiklassenjustiz ist unbegründet. Zunächst ist festzuhalten, dass im direkten Vergleich der Rechtsfolgen der Véderö-„Anführer“ Eszes – zu Recht – mit einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten keineswegs „ungeschoren davonkam“, sondern die deutlich härtere Strafe erhielt als die Romni, die lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. An dieser Tatsache kann auch der Umstand nichts ändern, dass bei Nichtzahlung einer rechtskräftig verhängten Geldstrafe diese in „Ersatzhaft“ umgewandelt wird. Dies ist – jedenfalls in der gesamten EU – nichts Außergewöhnliches (zur Rechtslage in Deutschland vgl. hier). Nicht durchsetzbare Geldstrafen müssen von den Verurteilten im Wege der Haft abgebüßt werden, dies freilich nur, wenn – wie es im Regelfall erfolgen wird – keine Ratenzahlung gewährt wird und der Verurteilte mehreren Aufforderungen, die Geldstrafe zu tilgen, ohne Entschuldigung nicht nachkommt. Ob die Romni überhaupt Ratenzahlung beantragt hat, teilt der Pester Lloyd jedoch nicht mit – die Hysterie wäre bestenfalls dann gerechtfertigt, wenn man ein entsprechendes Gesuch grundlos abgelehnt hätte.
Der in obigen Berichten erweckte Eindruck von (so ein Kommentator im o.g. Blog) „Zwei-Rassen-Justiz“ ist folglich böswillig und falsch. Es versteht sich europaweit von selbst, dass Geldstrafen, wenn sie ohne Entschuldigung nicht bezahlt werden, zu einer Ersatzhaft führen. Dies sieht die ungarische Presse offenbar ähnlich: Soweit ersichtlich, widmet sie dem vermeintlichen „Justizskandal“ bis heute keine gesteigerte Aufmerksamkeit. Sollte man auf Ersatzhaft verzichten, wären Geldstrafen bei Mittellosen oder – was öfter vorkommt – Zahlungsunwilligen wirkungslos, es könnten nur die härteren Freiheitsstrafen verhängt werden. Das Gericht hätte also offenbar, um dem Gerechtigkeitsempfinden des Pester Lloyd gerecht zu werden, die bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene Romni zu einer (zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe verurteilen müssen. Dies wäre – aus juristischer Sicht – jedoch überzogen und hätte zweifellos ebenfalls zu einem Aufruhr der oppositionellen Presse geführt. Leichte Körperverletzungen werden bei Ersttätern kaum mit Freiheitsstrafen geahndet.
Nachtrag vom 19.06.2011:
Zwischenzeitlich hat sich der Verteidiger, Dr. Péter Dániel, zu Wort gemeldet. In einer längeren Notiz via Facebook (abrufbar über die Gruppe „Százezren Gyöngyöspatáért“) rechnet der betont regierungskritische Dániel, der seit 2009 auch eine politische Karriere anstrebt, mit den Beteiligten des Strafverfahrens, der Polizei und der ungarischen Regierung ab. Man habe seine Mandantin in Handschellen abgeführt, obwohl sie keinen Widerstand geleistet habe. Die Familienmitglieder seien durch Polizeihunde verletzt worden. Danach habe man der Beschuldigten zu Beginn der polizeilichen Vernehmung das Recht auf einen Anwalt verweigert. Dem Staatsanwalt wirft Péter „rassistische Bemerkungen“ während der Verhandlung vor, die nur „auf ausdrücklichen Wunsch“ des Verteidigers in das Protokoll aufgenommen worden seien. Man habe überdies versucht, die Anwesenheit der Familie der Angeklagten durch Polizeihunde zu verhindern. Der Anklagevorwurf habe sich – so der Anwalt – nicht zweifelsfrei bestätigt, das Opfer selbst hätte zugegeben, dass es nur auf die Bitte der (so Dániel) „rechten Schmutzmedien“ eine „Komödie“ gespielt habe.
Trotz allem sei das „unbegründete und rechtsverletzende Urteil“ auf ausdrücklichen Wunsch seiner Mandantin und ihrer Familie akzeptiert worden.
Bálint Losonci ist ein ausgezeichneter Winzer. Er stammt aus Budapest, hat Außenhandel studiert und sich als 24-Jähriger entschlossen, in Gyöngyöspata Wein anzubauen. Der Vater zweier kleiner Kinder tut dies auch ausgesprochen erfolgreich, wie der sich mit ungarischen Weinen befassende, äußerst lesenswerte Blog borwerk.de zu berichten weiß. Dessen Macher Peter Klingler, ein gern gesehener und stets kritischer Kommentator bei Hungarian Voice, hat Bálint Losonci schon im März 2011 in Gyöngyöspata besucht und über die persönlichen Eindrücke einen Kommentar veröffentlicht.
Seitdem sind mehrere Wochen ins Land gegangen. Ereignisreiche Wochen. Vieles wurde europaweit über Gyöngyöspata geschrieben, die Redakteure haben sich in Bewegung gesetzt und über Neonazis, angeblich alltägliche Gewalt gegen Roma und rassische Diskriminierung durch die ungarische Mehrheitsgesellschaft berichtet.
So wichtig und richtig der Kampf gegen Rassismus und rechtsradikale Tendenzen ist: Menschen wie Bálint Losonci kamen bislang kaum zu Wort. Wenn die als „regierungsnah“ geltende ungarische Wochenzeitung Heti Válasz – wie vor einigen Wochen geschehen – einen Beitrag abdruckt, in dem ein namentlich nicht genannter Bewohner Gyöngyöspatas über die Entstehungsgeschichte und Ursachen eines Konfliktes berichtet und die seit Jahren bestehende desolate Situation einschließlich der von Teilen der Romabevölkerung im Ort ausgehenden Gewalt und Einschüchterung anspricht, führen solche Meldungen noch nicht einmal zu einem winzig kleinen Rauschen im deutschsprachigen Blätterwald. Ganz anders Berichte von „Massenschlägereien“ zwischen Roma und Rechtsradikalen, in denen verprügelte Angehörige selbsternannter „Bürgerwehren“ gerne auch einmal zum Roma-Opfer umfunktioniert werden.
Dass in Gyöngyöspata ein gesellschaftlicher Konflikt, der seit vielen Jahren schwelt und nun – auch (aber nicht nur!) durch die Wahlerfolge rechtsradikaler Kräfte und Provokationen auf beiden Seiten des politischen Spektrums – an die Oberfläche dringt, d.h. auch in den Redaktionen der großen europäischen Metropolen zur Kenntnis genommen wird, liegt am jahrzehntelangen Versagen der Politik jeglicher Couleur. Gleichwohl wird dem Ansatz, die Entstehungsgeschichte eines durch und durch sozialen, aber aufgrund des Unwillens und der Unfähigkeit der Benennung der Fakten mehr und mehr ethnisierten Konfliktes anders zu erklären als durch „Rassismus“ und „Diskriminierung“ durch die ungarische Mehrheitsgesellschaft, nur wenig Verständnis entgegengebracht. Die Kommentare in vielen Online-Ausgaben großer Zeitungen belegen, dass die Berichte ihre Wirkung haben: „Ungarn aus der EU ausschließen“, liest man dort sehr häufig.
Wie es der Autor und Fotograf Rolf Bauerdick, ein profunder Kenner der Cigány in Mittel- und Osteuropa, auf Deutschlandradio treffend sagte, ist es geradezu unerträglich, in welcher Art und Weise eine „bestimmte Clique von Intellektuellen“ und solche, die sich dafür halten, eine kritische Diskussion (auch) um die Mitverantwortung der größten Minderheit in Ungarn an ihrer Lebenssituation zu unterdrücken versuchen. Dass man so das Übel an der Wurzel packen kann, scheint im Hinblick auf die vergangenen zwei Jahrzehnte höchst fraglich. Dass die in den Redaktionen westeuropäischer Zeitungen wie dem Standard und der Süddeutschen Zeitung sitzenden Meinungsmacher die übrigen Menschen in Orten wie Gyöngyöspata trotzdem nicht zu Wort kommen lassen, scheint an ihrem „moralisch“ begründeten Unwillen zu liegen, die Verantwortung aller Beteiligten eines gesellschaftlichen Konfliktes anzusprechen. Unwissenheit und Ignoranz erweisen sich hier als explosives Gemisch. Menschen wie Losonci werden entweder ignoriert oder als (jedenfalls latent) rechtsradikale Idioten dargestellt, deren Worte im demokratischen Dialog keine Rolle zu spielen haben. Wen wundert es da noch, dass außerhalb des demokratischen Spektrums stehende Parteien wie Jobbik und andere Rattenfänger, die sich mit ihrem Kampf gegen „Zigeunerkriminalität“ als Retter der Entrechteten aufspielen, so großen Zulauf haben? Wenn dann noch der Staat seine Bürger im Stich lässt, suchen sich diese eben früher oder später die falschen Freunde.
Dass man die bestehenden Probleme, die (ich wiederhole es) nicht ethnisch, sondern sozial begründet sind, durch Verschweigen nicht lösen kann, haben die vergangenen 20 Jahre unter Beweis gestellt. Auch und gerade die Regierungsjahre der sich mit großen Sonntagsreden, aber wenig Taten für die Roma einsetzenden Sozialisten und Liberalen. Vorläufiger Höhepunkt jahrelangen staatlichen Versagens war im März/April dieses Jahres die Übernahme der „Hoheitsgewalt“ durch rechtsradikale Milizen namens „Bürgerwehr für eine bessere Zukunft“, „Wehrmacht“ oder „Betyarenarmee“, die sich anmaßten, für „Recht und Ordnung“ in Gyöngyöspata zu sorgen (Hungarian Voice berichtete). Das eigentlich Erschütternde ist, dass dieser Einmarsch in den Augen vieler Menschen tatsächlich zu einer Verbeserung „ihrer eigenen“ Sicherheit geführt hat; nun waren es jedoch die Roma, die sich fürchteten. Erst nach kritischen Berichten im In- und Ausland reagierte die Regierung Orbán und trat entschlossen gegen die Rechten auf.
Hungarian Voice möchte, anknüpfend an die einleitenden Worte, einen Artikel der Heti Válasz in deutscher Sprache zur Verfügung stellen, der die Situation in Gyöngyöspata, auch die Ursachen für die Eskalation, von einer anderen Seite beleuchtet. Das Wochenblatt hat Bálint Losonci besucht und ein Interview mit ihm gefertigt. Wenn der Artikel auch nicht alle Leser überzeugen wird und auch nicht soll, so wünsche ich jedermann wenigstens die Fähigkeit, sich einmal in die Situation von Bálint Losonci und den von ihm geschilderten Alltag der Menschen vor Ort hinein zu versetzen; in den Alltag recht unpolitischer Menschen, die eigentlich nur in Ruhe und Frieden leben möchten.
Parallel hierzu hat Peter Klingler, der Urheber des borwerk-Weinblogs, einen Beitrag über den Winzer Losonci veröffentlicht.
http://borwerk.de/2011/05/09/sieh-das-gute-liegt-so-nah-am-fuse-der-matra-bei-szecsko-und-losonci/
„Viele gehören schon längst ins Gefängnis
Das Dorf der Hetze
Bálint Losonci wurde in der vergangenen Woche auf der Veranstaltung „Winzer der Winzer“ zur Neuentdeckung des Jahres gekürt. Der 30-jährige Winzer aus Gyöngyöspata war sich der Gefahren bewusst, als er vor sieben Jahren als junger Mann aus Budapest seine Tätigkeit im Ort aufnahm, heute würde er nicht mehr gegen ein Grundstück in der Tokajer Weinregion tauschen wollen
Von András Stumpf
– Wenn es stimmt, dass auch guter Wein eine effektive Werbung braucht, können Sie zufrieden sein. Gyöngyöspata kann sich der internationalen Aufmerksamkeit sicher sein.
– Auf diesen Werbeeffekt könnten wir gut verzichten. Natürlich kann es sein, dass man auch auf die Weine achten wird, aber ich zweifle daran, wenn die Medien nur über ethnische Zusammenstöße berichten. Wir sind ein Dorf der Hetze geworden.
– Sie sind ein junger Mann aus Budapest mit einem Abschluss in Außenhandel, trotzdem kamen Sie vor sieben Jahren hierher, um Winzer zu werden. War Gyöngyöspata damals noch ein besserer Platz?
– Wir haben es der Politik zu verdanken, dass Gyöngyöspata das überall präsentierte veterinäre Pferd geworden ist. Es gibt mehrere hundert Ortschaften, wo es noch schlimmer aussieht, Gyöngyöspata ist kein Teil der Dritten Welt, es ist nicht hoffnungslos.
– Wenn Gábor Vona nicht aus Gyöngyös käme, wären die „Bürgerwehren“ auch nicht in Gyöngyöspata.
– Das spielt offenkundig auch eine Rolle. Als wir unser Grundstück hier erwarben, sah ich zwar die Risikofaktoren, aus önologischer Sicht jedoch ist das, was hier unter der Erde ist, ein wahres Wunder; alle Gegenargumente wurden hiervon verdrängt. Der Boden ist andesitisch und kalkig, das ist einzigartig. Die Kalkparameter sind mit denen der Champagne vergleichbar. Ich lernte die regionalen Weine von Tamás Szecskö und Gábor Karner kennen, und sie überzeugten mich davon, dass man hier außergewöhnliche Weine mit individuellen Charakteristika herstellen kann. Nach unserer Meinung entsteht guter Wein nicht im Keller, sondern am Rebstock. Bei unseren besten Weinen lassen wir zwischen 500 Gramm und einem Kilo Trauben auf dem Rebstock – es gibt keine Kompromisse.
– Nun, Gyöngyöspata ist aber doch ein wenig der Kompromiss. Zuerst wollten Sie ja nach Tokaj.
– Heute würde ich nicht mehr tauschen, aber es ist richtig, zuerst zog es mich nach Erdöbénye. Aber es ist weit, und der Boden kostet das Zehnfache. Unsere Familie hatte ein kleines Häuschen in Kutas (Komitat Nógrád), meine Frau und ich dachten zuerst, wir lassen uns dort nieder, das Weingut ist hier, 30 Kilometer kann man pendeln. Wir irrten uns, auch das ist weit. Vor drei Jahren sind wir hergezogen. Der wesentliche Teil der Gemeinde besteht aus fleißigen Menschen, die sich gegenseitig helfen und stolz auf ihre Vergangenheit sind…
– Ihr Bürgermeister ist jüngst zurückgetreten.
– Es war nicht gerade seine Stärke, in ernsten Situationen Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen eine strengere Führung.
– Bewerber gibt es genug. Ein Vertreter von Jobbik und Tamás Eszes, der Leiter der Bürgerwehr „Wehrmacht“, streiten sich um den Posten.
– Es kann gut sein, dass de beiden Kandidaten im Wettstreit stehen werden.
– Gyöngyöspata ist ein Nazikaff – diese Schlussfolgerung drängt sich auf.
– Dieser Stempel wurde uns schon oft aufgedrückt, und es wird weiterhin passieren. Aber man sollte zur Kenntnis nehmen: Was jetzt passiert, ist kein Normalzustand. Wir werden auf jeden Fall einen „kämpferischen“ Bürgermeister bekommen, einen, der sich um die Krisensituation kümmern muss.
– Wollen Sie nicht kandidieren?
– Als Winzer und Vater zweier kleiner Kinder hätte ich hierfür keine Kraft; außerdem kann ich nicht mit erzürnten Menschen umgehen. Mir ist wichtiger, dass ich mit meinem Wein zum guten Ruf der Gemeinde beitrage, und zeige, dass man durch so etwas auch Familien ernähren kann.
– Sie haben aber schon vor einigen Wochen in einem Brief – auch im Namen des Gemeinderates – die wahre Situation in Gyöngyöspata beschrieben. Gleichwohl können Sie nicht wissen, wie es zu den Problemen kam.
– Jeder erzählt mir, dass es bis zum Systemwechsel 189 ein harmonisches Verhältnis zwischen Zigeunern und Magyaren gab. Sogar der örtliche Jobbik-Chef erzählt, dass er als Kind mit den Zigeunern auf dem Deich gespielt hat; damals wurde die Integration bei der Erziehung zur Wirklichkeit. Man brauchte ach Verputzer und Musiker, Zigeuner übten oftmals auch einfache Hilfstätigkeiten aus. Vor 15-20 Jahren begannen die Probleme, mit einer Umsiedlung. Wie ich höre, holte man in der Zeit des Systemwechsels unter fragwürdigen Umständen Familien aus den umliegenden Ortschaften hierher. Solche, die jene Dörfer loshaben wollten. Die benahmen sich dann anders, als die alteingesessenen Einwohner von Gyöngyöspata. Sie setzten ihr kriminelles Verhalten hier fort: Diebstähle, Raub…es ist alarmierend, dass sie für die jüngere Generation schon wie der Normalfall aussehen. Fünf- bis Siebenjährige machen es sich zum Hobby, sich zu prügeln, physische Gewalt wird zur einzigen Möglichkeit, Konflikte zu lösen. Der fürchterlichste Vorfall geschah im vergangenen November: Ein achtjähriger Junge wurde bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschlagen und musste im Krankenhaus behandelt werden. Die Täter waren etwa 3-4 Jahre älter als das Opfer, sie taten es aus Spaß.
– Werden Sie ihre Kinder hier in den Kindergarten und in die Schule schicken?
– Im Moment entscheiden wir gerade über den Kindergarten. Wenn meine Frau ein Auto hätte, würden wir sie wahrscheinlich nach Gyöngyöstarján bringen.
– Ist die Situation dort besser?
– Eine praktisch rein ungarische Gemeinde, wohingegen der Zigeuneranteil in Gyöngyöspata bei 18 Prozent liegt. In der Schule sind es schon 50 Romakinder. Aber wir werden es mit dem Kindergarten versuchen, mit der Schule, glaube ich, eher nicht. Es ist tragisch, denn es handelt sich um eine bestens ausgestattete Einrichtung, sogar mit Schwimmbad. Aber all das ist keinen Pfifferling wert, wenn ich mir Sorgen darum machen muss, ob mein Kind nach der Schule unversehrt nach Hause kommt. Und das müsste ich, denn die Täter vom vergangenen Jahr sind auch hier. Ich glaube nicht daran, dass nach so einem Vorfall nichts weiter geschieht, es gibt keine Behörde, die eingreifen würde.
– Man bräuchte ein Vormundschaftsamt, nicht wahr?
– Richtig. Der Bürgermeister von Érpatak besuchte uns, und sagte, das sei keine Schelmerei. Schon die geltenden Rechtsvorschriften lassen eine Handhabung der Probleme zu, man muss die Behörden nur dazu bewegen, zu handeln. In Érpatak geschah etwas, die Folge war ein wahres Wunder. Zwanzig Interessierte fuhren hin, um sich selbst zu überzeugen, und ihre Erfahrungen waren die folgenden: Man kann spazierengehen, sogar im Ortsteil der Zigeuner, man wird nicht gleich von hundert Menschen umzingelt, wie es hier der Fall ist.
– War es hier im Ort nicht ratsam, den Ortsteil der Zigeuner zu besuchen?
– Nicht wirklich. Einmal allerdings wagte ich mich hin, als man die Babydecke meines sechs Monate alten Sohnes in der Arztpraxis gestohlen hatte. Ein paar Wochen später sah ich die Decke wieder, schon bei ihrem neuen „Eigentümer“. Meine Mutter wurde bei der Kellerei bestohlen, Mobiltelefon, Schlüssel, Geld. Ein Schaden von 50.000 Forint, die Decke war nur ein Bruchteil davon. Aber dass man sogar einen Neugeborenen beklaut, das war zu viel, ich sagte mir, Du musst etwas tun.
– Kann es nicht sein, dass die armen Zigeunerkinder die Decke nötiger hatten?
– Das kann ich mir nicht vorstellen. Ihr Haus verfügt über zwei Parabolantennen, sie tragen Markenklamotten, haben ein Auto – so viel zur schlimmen Armut. Der SZDSZ-Begriff der „Überlebenskriminalität“ hat sehr viel kaputt gemacht. Die Straftäter kennen ihre Rechte, auch die Bagetellgrenzen. Es ist weit verbreiteter Aberglaube, dass sie zum Beispiel die Bäume deshalb in Hüfthöhe abschneiden, weil sie zu faul sind, sich zu bücken. Aber so ist es nicht: Wenn man 80 Zentimeter stehen lässt, zählt es nur als „Verstümmelung“, die Strafe ist geringer. Es ist in Ordnung, dass die Regierung gegen die „Kriminalität in Uniform“ vorgeht, aber nur dann, wenn auf der anderen Seite ebenfalls so entschlossen gehandelt wird. 90 Prozent der Menschen in Gyöngyöspata erwarten die Hilfe der Behörden. Allerdings ist es – wenn wir nicht gerade als Kriegsschauplatz gelten – so, dass es im Ort nur einen einzigen Polizisten gibt, und für den ist nicht einmal genug Geld vorhanden, dass er den ganzen Monat lang sein Auto volltanken könnte.
– Die Hauptursache für die Spannungen waren die Diebstähle?
– Der Umstand, dass sie das ehemalige Erholungsviertel, den Ziegenhügel, faktisch bis auf den letzten Gartenzaun abgebaut haben, ist nur einer der schmerzhaften Punkte. Das alltägliche Benehmen, die Anmache gegenüber Frauen, das Erheben von Wegezoll an der Brücke oder in der Schule – das ungarische Kind kann dann passieren und seine Arbeit tun, wenn es zahlt. Das ist es, was vielen Anwohnern ihren Alltag schwer, fast unerträglich gemacht hat. Und auch, dass man Menschen vom Gehweg drängt. Selbst alte Damen und Kinder. Sollen sie doch im Straßengraben laufen und sehen, wer der Herr ist. Das war Alltag.
– Bestimmt nur viele Jahre der Ausgrenzung, das Leben als Minderheit, Frustration, ist doch verständlich…
– Natürlich, sie fürchteten sich gewiss schon damals sehr. Wie letzte Woche, nicht wahr? Seit der „heiße Frühling von Gyöngyöspata“ andauert, kamen sechs Menschen physisch zu Schaden. Fünf davon sind keine Zigeuner. Man kann hier schlichtweg nicht von Gewalt gegen Zigeuner sprechen. Nach meiner Lesart handelt es sich, wenn 80 mit Eisenstangen Bewaffnete vier Menschen zusammenschlagen, nicht um eine Massenschlägerei, sondern um Lynchjustiz. Man muss wissen, dass die Zigeuner schon lange Rückenwind bekommen. Ein führender Romavertreter, István Mezei, kommt aus Gyöngyöspata, die Idee der „Evakuierung“ durch das Rote Kreuz zu Ostern dürfte auf seine Idee zurückzuführen sein – seine Freundin ist führende Mitarbeiterin des Roten Kreuzes auf Komitatsebene. Sie haben schon früher gut zusammen gearbeitet. Von Seiten führender Mitglieder der Zigeunergemeinde wird oft gesagt, dass die ganzen Probleme nur von drei Familien verursacht werden, und dass Kinderstreiche von den Rechtsradikalen aufgeblasen würden. Meine Erfahrungen sagen mir: Die Einschüchterung, die Raubstraftaten waren häufiger. Viele von ihnen müssten schon längst im Gefängnis sitzen. Auf der anderen Seite dient das Gefängnis vielen als Sanatorium und Ausbildungsplatz: Ich habe denjenigen, der meine Mutter bestohlen hat, nach seiner Entlassung kaum wiedererkannt. Innerhalb eines halben Jahres konnte er dort drin 15 kg Muskalmasse zulegen.
– Und die Lösung?
– Sieht so aus wie in Érpatak. Der Bürgermeister ging hinaus in die Ortschaft, sprach mit den Menschen, sie sollten die Kinder in die Schule schicken, und der Hauseingang möge sauber bleiben. Das dürfte nicht zu viel verlangt sein. Wo die Umstände eine gesunde Erziehung von Kindern nicht zulassen, wo das Kind nicht in die Schule geht, aggressiv wird und herumflucht, sollte man das Kind nach der dritten Ermahnung von den Eltern wegholen – im eigenen Interesse. Natürlich ist das nicht alles: Man sollte diejenigen unterstützen, die in der Lage und willens sind, in der Gemeinde Werte zu schaffen. Und man sollte ihnen helfen: Die kostenlose Vergabe von Pflanzsamen bringt etwas, in Érpatak produzieren die Zigeuner nicht mehr nur für sich selbst, sondern haben genug, um ihre Produkte zu verkaufen. Und sie sind mitterweile stolz auf ihren kleinen Garten, auf die Ordnung im Vorgarten, und darauf, dass die Kinder in die Schule gehen. Das Bodenprogramm ist schon deshalb wichtig, weil es die Menschen zeitlich einbindet; wenn 15-20 Menschen in einer Bruchbude leben, sind sie nicht den ganzen Tag dort, treiben sich herum und machen wenig Sinnvolles. Auch die Halbierung der Zeit für öffentliche Arbeit ist ein Problem. In der freien Zeit werden die Betroffenen zu Hause kaum Dostojewski lesen. Wobei: Die bisherige öffentliche Arbeit war eher eine Olympiade aus den Disziplinen „Auf der Schaufel lehnen“, „Zigarettenrauchen“ und „Herumliegen“. Ich hoffe, dass für den Fall der Verwirklichung der Regierungspläne echte Arbeit geschaffen wird an Stelle vom Herumkratzen in Rosenbeeten – letzteres ist für einen im Saft stehenden Mann in den besten Jahren doch eine Demütigung. Straßen- und Kanalbau, wir haben diesbezüglich Bedarf, und wer hier in diesen Bereichen tätig ist, der kann sich wahrlich als nützliches Mitglied der Gemeinschaft fühlen.
– Wen beschäftigen Sie zur Weinlese?
– Überwiegend ältere Menschen, in den 60ern und 70ern. Die Bereitschaft zu körperlicher Arbeit ist auch bei den Ungarn katastrophal. Die jüngeren mit Talent gehen häufig weg, nicht selten ins Ausland. Wer unter 40 ist und in der Landwirtschaft als Erntehelfer arbeitet, ist zumeist Alkoholiker. Ausnahmen gibt es nur wenige. Auf die ältere Generation kann man besser bauen. Allerdings gibt es zwei Zigeuner in Gyöngyöspata – Vater und Sohn – mit denen es sich lohnt, zusammen zu arbeiten. Sie sind von Kopf bis Fuß zuverlässige, fleißige und sympathische Menschen. Es wäre toll, wenn sie diejenigen wären, die in der Zigeunergemeinde tonangebend wären. Leider melden sie sich nicht zu Wort. Der Umstand, dass die Uniformierten auch ihnen Angst einjagen, ist schmerzhaft und ungerecht, aber leider ist ihr Lebensstil unter den Zigeunern die Ausnahme.“
Manch ein Bericht der vergangenen Wochen muss Menschen wie Losonci wie Hohn und Spott vorkommen. Die Selbstzensur braucht bei Standard, Süddeutsche und TAZ offenbar nicht einmal ein ungarisches Mediengesetz.
Den Vogel schießt letztgenanntes Blatt mit folgender Aussage ab:
„Bezahlt, so sind sich die Roma sicher, würden die Milizionäre von der örtlichen Bevölkerung. Von 47 Millionen Forint, also etwa 180.000 Euro, ist die Rede. „Sie werden bezahlt, damit sie uns töten“, glaubt ein etwa zehnjähriges Mädchen im rosa T-Shirt.“
Es wäre einer zielführenden Debatte über die Situation der Roma in Ungarn gewiss förderlich, wenn man auch Stimmen wie die von Bálint Losonci zu Wort kommen ließe. BorWerk und Hungarian Voice möchten gerne ihr Scherflein dazu beitragen.
Links:
http://borwerk.de/2011/05/09/sieh-das-gute-liegt-so-nah-am-fuse-der-matra-bei-szecsko-und-losonci/
Das ungarische Parlament hat heute den von der Regierungskoalition eingebrachten Vorschlag zur Verschärfung des Strafrechts verabschiedet. Fortan kann das „bedrohliche uniformierte Auftreten“ mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. Die Gesetzesänderung dient dazu, die jüngst eskalierende Situation um rechtsradikale „Bürgerwehren“ in den Griff zu bekommen.
Seltene und erfreuliche Einheit im Parlament: Mit der Regierungskoalition stimmten die Oppositionsparteien MSZP (Sozialisten) und LMP (Grüne). Lediglich die rechtsradikale Jobbik stimmte gegen den Vorschlag und hat bereits angekündigt, das Verfassungsgericht anzurufen; Jobbik gilt als parlamentarischer Arm der Bürgerwehren.
http://mandiner.hu/cikk/20110502_harom_evet_kaphatnak_az_egyenruhas_bunozok
Der Focus berichtete in den vergangenen Tagen über eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern der sich in Gyöngyöspata aufhaltenden rechtsradikalen Bürgerwehren und der ortsansässigen Roma-Bevölkerung.
http://www.focus.de/politik/ausland/ungarn-roma-fliehen-vor-rechtsradikalen_aid_621976.html
In dem Bericht wird eine Person mit blutender Kopfwunde und blutverschmiertem Gesicht, tituliert als „junger Roma“, abgebildet (das Bild war auch bei Spiegel-Online zu sehen). Die klare Botschaft: Ein Roma ist von Rechtsradikalen verprügelt worden.
Der Schönheitsfehler: Bei der Person auf dem Bild handelt es sich um einen Angehörigen bzw. Sympathisanten der rechtsradikalen „Véderö“. Gehört wohl zur grundrechtlich geschützten Kunstfreiheit. Offenbar waren es vorliegend also die Rechtsradikalen, die erhebliche Verletzungen erlitten haben. Vor dem Umstand, dass an der Schlägerei etwa vier Rechtsradikale und mehr als 30 Roma beteiligt gewesen sein sollen, wäre dies auch durchaus plausibel.
Nicht anders die Berichterstattung des Schweizer Tagesanzeigers. Hier berichtet Bernhard Odehnal über die Gewalttätigkeiten.
Nach dem schon oben genannten Bild (ohne erläuternde Beschreibung, um wen es sich beim Abgebildeten Verletzten handelt) beginnt der Artikel wie folgt:
„Gyözö Bada hat eine blutende Wunde auf der Stirn. Sie stammt von einem Gummiknüppel, mit dem der 14-jährige Rom am Dienstagabend geschlagen wurde. Seine Verwandte Klaudia Farkas erzählt, wie der Junge mit seinen Freunden am Strassenrand sass, wie sie von den Angehörigen einer rechtsextremen Miliz angegriffen wurden.“
Es scheint abermals, als solle der Leser den Eindruck bekommen, bei dem abgebildeten Verletzten handle es sich um einen Roma, hier namentlich Gyözö Bada. Eine klarstellende Erläuterung fehlt im folgenden Artikel.
Der Beleg, wer tatsächlich abgebildet ist, findet sich hier:
http://videotar.mtv.hu/Videok/2011/04/27/05/A_gyongyospatai_tomegverekedes_serultjei.aspx
Oftmals ist die Situation eben ein wenig komplexer als die Botschaft, die man hierzulande zu lesen bekommt.
Der Ort Gyöngyöspata in Mittelungarn ist vor einigen Wochen zum Beispiel für Rassismus und Antiziganismus geworden. Nach zahllosen Berichten im In- und Ausland, bei denen bislang kaum Ortsansässige zu Wort kamen, möchte Hungarian Voice einen Beitrag in der regierungsnahen Wochenzeitung Heti Válasz wiedergeben. Es handelt sich um einen anonymen Brief. Er könnte ein wenig verständlich(er) machen, weshalb die Menschen vor Ort das Auftreten der rechtsradikalen „Bürgerwehren“ zum Teil begrüßt haben.
„Überraschender Brief zu den wahren Verhältnissen in Gyöngyöspata
Wir erhielten einen Brief aus Gyöngyöspata. Die Ortschaft geriet in den vergangenen Wochen in das Zentrum der landesweiten Aufmerksamkeit, allerdings wurde wenig darüber gesprochen, dass die angespannte Situation im Dorf nicht jetzt, sondern schon seit vielen Jahren im Entstehen ist. Der nachstehend wörtlich wiedergegebene Brief möchte die Aufmerksamkeit auf diese Entstehungsgeschichte und mögliche Lösungen lenken.
Die Mehrheitsgesellschaft von Gyöngyöspata hält es für wichtig, die ungarische Öffentlichkeit in Anbetracht der oftmals einseitigen, oberflächlichen Nachrichten und Stellungnahmen darüber in Kenntnis zu setzen, welche Vorgänge und Ereignisse zu der in den letzten Wochen entstandenen Situation geführt haben, und zugleich darauf hinweisen, was mögliche Lösungen für die Entspannung der Situation sein könnten.
Im Ort lebte die ungarische Mehrheit und die Roma-Minderheit über mehrere hundert Jahre friedvoll zusammen. Über Generationen hinweg bestimmte die Agrarproduktion das Bild der Ortschaft und gab den hier Lebenden das tägliche Brot. Die ersten Probleme entstanden vor 15-20 Jahren, und wurden seitdem schlimmer. Ein Gruppe von Ortsbewohnern wurde immer aggressiver (es handelte sich größtenteils um Menschen, die man von anderswo angesiedelt hatte), und für viele Familien und Menschen wurde wurden Beleidigungen und Vermögensdelikte zu einem immer alltäglicher werdenden Phänomen. Es geht somit nicht um Stimmungsmache oder ein politisches Theater, wie dies von vielen behauptet wurde. Die Probleme sind keineswegs neu!
Wir möchten verdeutlichen, was die von einem wesentlichen Teil der Presse als „Kinderstreiche“ und Kleindiebstähle betitelten „Angelegenheiten“ alles umfassen. Die ständige Angst und das Sich-Bedroht-Fühlen sowie die Demütigung wurde zum Alltag vieler älterer Menschen, gerade in denjenigen Ortsteilen, die in der Nähe der die gesellschaftlichen Normen missachtenden Familien liegen. Es hat sich ein Netz des Angstmachens und von Straftaten entwickelt: Kinder und Teenager, die zu der Gruppe von Abweichlern gehören, gehen am helllichten Tage auf ältere Menschen los, die gerade von der Heiligen Messe oder aus dem Laden zurückkommen, oftmals werden sie sogar angespuckt, an ihren Taschen wird herumgezogen, sie werden mit Steinen beworfen. Nachts gehen sie in die Gärten und stehlen dort kleinere oder auch größere Dinge.
Man kann dies als „Kleindiebstahl“ bezeichnen, aber diese Handlungen sind so häufig und auch organisiert, dass das Endergebnis tragisch ist: Viele, am Existenzminimum lebende Menschen kommen in unmögliche Situationen, wenn ihr Brennholz gestohlen oder ihr Garten so oft verwüstet wird, dass die Betroffenen mit der Produktion aufhören müssen. Das schmerzhafteste ist aber die psychologische Folge: durch die ständige Angst wurde – an Stelle eines verdienten ruhigen Rentenalters – Existenzangst und Unsicherheit zum Alltag vieler, vieler Menschen.
Wir möchten auch darauf hinweisen, dass die Zerstörung auch dann Zerstörung bleibt, wenn sie das Ergebnis vieler kleiner Bewegungen ist. Wegen dieser, die Gemeinschaft zerstörende Gruppe verschwanden innerhalb von 15 Jahren 30 Hektar des früher mit Hobbygärten, Kellern und Obstanpflanzungen ausgestatteten Ortsteils „Kekcske-Kö“ („Ziegenstein“), der früher als Erholungsviertel gegolten hatte. Die Gartenzäune wurden als Brennholz mitgenommen, die Keller wurden aufgebrochen, in vielen Fällen wurden neben den Dachziegeln auch die Dachsparren entwendet, die Obstdiebstähle bedeuteten oft genug das Abbrechen ganzer Äste. Der Ort sieht nun aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Wegen der still stehenden Produktion entstand riesiger finanzieller Schaden, nach vorsichtigen Schätzungen in Höhe von 30 Millionen Forint pro Jahr (Anmerkung: ca. 100.000 EUR), jedenfalls ist der Verlust aber so schmerzhaft, dass Gyöngyöspata innerhalb kurzer Zeit eine der für die Gemeinschaft wichtigsten Flächen verlor.
Die sich zwei Wochen lang im Ort aufhaltende „Bürgerwehr für eine bessere Zukunft“ löste landesweite Empörung aus, aber die Medaille hat auch eine Kehrseite: der Großteil der Ortsbewohner empfand es so, dass eine seit zwei Jahrzehnten nicht bekannte Ruhe und ein Sicherheitsgefühl feststellbar waren (hierfür waren zweifellos auch die anwesenden Polizisten verantwortlich). Auf der Brücke in der Ortsmitte hörten die Kinderbanden auf, „Wegezoll“ zu nehmen (für viele verständlich!), die Älteren konnten in Ruhe zur Messe, zur Post oder in den Laden gehen, ohne angespuckt zu werden, und sie konnten nachts ruhig schlafen.
Es gibt auch kleinere Dinge, aber auch das übliche Herumgebrüll und Geschrei endete, ebenso verschwand der durch das Verbrennen von gestohlenen Kabeln hervorgerufene krebserregende Rauch. Es ist ein Zeichen des Standpunktes der Bevölkerung und des seit Jahren bestehenden Drucks, dass in einem Ort mit 2800 Einwohnern in wenigen Tagen 1005 Personen eine Petition unterzeichneten, die dafür eintrat, dass die „Bürgerwehr für eine bessere Zukunft“ vor Ort bleibt, als die Behörden ankündigten, die Bürgerwehr wegzuschicken.
Uns ist klar und auch wichtig zu betonen, dass nicht die ganze Zigeunerschaft für die oben beschriebenen Probleme verantwortlich ist, es leben viele anständige und für die Gemeinschaft wichtige Familien unter ihnen. Aus diesem Grund verstehen und bedauern wir, wenn ihnen in diesen zwei Wochen irgendetwas angetan wurde. Wir möchten aber die Öffentlichkeit davon in Kenntnis setzen, dass viele hundert Menschen, unter ihnen ältere Menschen und Kinder, nicht erst seit zwei Wochen, sondern seit vielen Jahren in vergleichbarer Angst lebt und Opfer von Demütigungen wurde. Wir möchten erreichen, dass ihre Probleme weder bagatellisiert noch unter den Teppich gekehrt werden, vielmehr sollen die Behörden, die Politik und die Medien auch ihnen helfen.
Im Dezember wurde ein Kind von drei Kindern ohnmächtig geprügelt, die Eltern verlegten das Kind in eine andere Schule. Als die Täter nach ihrem Motiv gefragt wurden, sagten sie, dass sie zum Spaß gehandelt hätten. Warum ist so etwas für die Nachrichten oder die Rechtsschützer nicht von Interesse? (…).
Nur echte Integration und die Aufrechterhaltung der Ordnung können helfen. Allerdings nur die Art von Integration, die einen Unterschied macht zwischen denen, die die Gemeinschaft bauen, und denen, die sie zerstören, und zwar unabhängig davon, welcher Ethnie sie angehören. Denjenigen, die bedürftig sind, muss geholfen werden, wenn das Ziel darin besteht, ein friedvolles Zusammenleben und die Einhaltung grundlegender Normen des Zusammenlebens sicher zu stellen. Allerdings muss man mit allen Mitteln gegen diejenigen auftreten, die anderen durch ihr Verhalten und ihre Lebensweise Schaden zufügen.
Das Dorf möchte Ruhe und Ordnung, wir bitten jedermann um Hilfe, dieses Ziel zu erreichen. Wir glauben, einen Wendepunkt erreicht zu haben: Entweder die bisherigen Vorgänge verschärfen sich weiter, und nach dem „Ziegenstein“ kommen die Keller der Wohnhäuser in den nächsten 5-10 Jahren dran, wie es in Teilen von Ózd der Fall war (…).
Das Dorf stellt Plänen zufolge Grundstücke und Samen denjenigen Zigeunerfamilien zur Verfügung, die zusammenarbeiten wollen (…).
Gyöngyöspata wartet auf Hilfe. Mehr und effektivere Polizeipräsenz, härtere Justiz- und Jugenschutzpraxis, Ruhe und Ordnung für jedes Mitglied der Dorfgemeinschaft, auch nachdem das Presseecho verklungen ist! Wir möchten helfende Hände, damit wir einander die Hände zur Hilfe reichen können.
Im Namen der Mehrheit von Gyöngyöspata, mit Genehmigung des Gemeinderates, ein Bewohner von Gyöngyöspata“
Anmerkung: Derjenige, der eine solche verzweifelte Stimme als Rassist abtun möchte, hat – so die Auffassung von Hungarianvoice – nichts verstanden. Dass sich die Menschen von der Politik und von der Presse, die das Treiben in Gyöngyöspata und andernorts keines Blickes gewürdigt hat, im Stich gelassen fühlen, liegt auf der Hand. Ebenso wie die Tatsache, dass man in solchen Situationen den „Law and Order“ – Versprechungen falscher Freunde auf den Leim geht.
Dass ein Politiker wie Ferenc Gyurcsány, der im vergangenen Jahrzehnt nichts zur Verbesserung der Situation getan hat, nun sogar eine Privatspende von 1 Mio. Forint angeboten hat, um bedrohte Roma zu „evakuieren“, kann man nur noch als unerträglichen politischen Katastrophentourismus bezeichnen.