István Forgács, unabhängiger Experte für Romaangelegenheiten, macht in einem Beitrag auf die drängenden Probleme seiner Volksgruppe aufmerksam.
„Wenn Ihr die Zigeuner seid, dann gehöre ich nicht zu Euch
Wir sind nicht eins, und wir waren es auch nie.
Wir waren keine Brüder, auch keine „lieben Brüderchen“, und wir waren auch zu keinem Zeitpunkt gemeinsame Teile einer Sache, von der Ihr selbst nicht wisst, was sie eigentlich sein soll. Und trotzdem phantasiert Ihr andauernd darüber, weil Ihr glaubt, dass wir eins sein könnten, wenn man diese Sache ins Leben ruft.
Ihr wollt nur nicht begreifen, dass es gar keine einheitliche Zigeunerschaft in Ungarn gibt. Es gibt kein Volk der Zigeuner, keine Zigeunernation, kein gesundes und über Jahrhunderte gewachsenes Selbstbild und Selbstbewusstsein der Zigeuner. Es gibt keine Zigeunerdichter. Es gibt keinen Zigeuner-Messias. Die Zigeunerschaft existiert nicht. Stattdessen gibt es eine traurige und kalte Realität: Im heutigen Ungarn wird es nicht möglich sein, eine Zigeunerschaft aufzubauen, es sei denn, dies geschieht durch gemeinsame echte Werte. Es gibt bislang keine einheitliche, von allen verstandene und akzeptierte Kultur, kein Selbstbewusstsein, kein gemeinsames „Minimum“ oder „Maximum“, es gibt keine dauerhaft erscheinenden Werte, zu denen sich alle bekennen würden, es gibt noch nicht einmal gemeinsame Ziele. Wir haben keine gemeinsame Sprache, kein gemeinsames Musikverständnis, und wir haben keine gemeinsame Ethik oder Werteordnung.
Merkwürdig, dass es bislang niemand ausgesprochen hat: Wir Zigeuner leben zu Hunderttausenden nebeneinander, aber der Alltag führt nicht dazu, dass wir einander ähnlicher werden wollen. Aber gerade das wäre so wichtig, damit wir echte Werte finden können, auf Grundlage derer wir einander zum Vorbild nähmen, weil wir dann etwas hätten, was uns stolz machen und zusammenführen könnte. Aber das ist heute nicht so. Die Mehrheit der Zigeuner sieht keine Werte in dem anderen. So lange das dauert, verdienen wir es nicht, ein Volk, eine Nation oder etwas Ähnliches zu werden.
Es spielt übrigens nicht die geringste Rolle, dass die Mehrheitsgesellschaft uns in einen Topf wirft, weil es genau das ist, was ich nicht will – und mit mir noch hunderttausende von Zigeunern. Und nicht nur deswegen, weil die Mehrheit unsere Ähnlichkeiten in erster Linie in den Negativa sieht.
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Wir sind nicht eins, und wir waren es auch nie.
Viele wollen freilich, dass wir eins werden, die Frage ist jedoch, wie man das erreichen könnte.
Ich bestreite gar nicht, sondern gebe es vielmehr mit traurigem Gemüt zu, dass bei vielen von Euch echte und vermutete Nachteile existieren, die dazu führen, dass man Euch in einen Topf wirft, und jeden anderen auch, der sich nicht in bestimmter Weise assimilieren will. Man macht Euch zu verletzten, angegriffenen, mit der Gesellschaft in Konflikt stehenden Zigeunern. Viele möchten die maximale Zahl von Zigeunern dergestalt assimilieren, dass in ihnen genau der Geist entsteht, der für einen dauernden Konflikt erforderlich ist. Für einen andauernden Freiheitskampf. Für das andauernde Beschuldigen der Nichtzigeuner. Und in dieser zweiten Dimension und Realität ist der krampfhafte Wunsch nach Schmerz die Grundlage für all jene Gedanken, auf deren Basis man vielen einreden kann, dass die Zigeuner eines Tages die Entwürdigung, die Ausgrenzung und die Nichtteilnahme an der Gesellschaft nicht mehr zulassen werden. Und zusammenstehen. Und es allen zeigen werden.
Das Traurige ist, dass wir zuvor glauben müssen – bzw. man es uns einreden muss -, dass für alles die Mehrheit verantwortlich ist. Die „Gázsók“ (Nichtzigeuner). Die „Bauern“. Und nicht nur X oder Y, sondern alle. Denn so wie die Mehrheitsgesellschaft die Zigeuner ausgrenzt und verallgemeinert, genau so denkt die Zigeunerschaft in ihrer überragenden Mehrheit, dass die Nichtzigeuner Rassisten sind. Alle. Dass es sich um böse Menschen handelt. Jedenfalls mehrheitlich. Und dass der Gázsó, die Mehrheitsgesellschaft uns für alles verantwortlich macht, obwohl wir das doch überhaupt nicht verdient haben.
Ich gehöre nicht zu Euch. Ihr sprecht sehr viel über Eure eigene Nation – ich habe keine solche. Ich habe eine eigene Familie, Bekanntschaften, aber ich würde mir niemals zutrauen zu behaupten, dass ich für Euch alle einen Kampf führen würde. Niemand hat mich darum gebeten, und ich würde diese Verantwortung auch nicht übernehmen. Ich kann die Bedürfnisse von „allen“ nicht sehen oder kennen, kann sie also auch nicht für Euch zum Ausdruck bringen.
Und auch wenn es komisch klingt, ich werde auf die Mehrheitsgesellschaft nicht wütend sein, nur weil viele unter Euch das von mir erwarten. Und wer das erwartet, tut es deshalb, weil ich selbst dann auch in die „Bruderschaft“ der Zigeuner hineinverschmelzen könnte, die von nichts anderem zusammengehalten wird als der Praxis, für alles die Mehrheit verantwortlich zu machen, und davon, zur Seite zu schauen, wenn wir uns mit unseren eigenen Fehlern befassen müssten.
Ich gehöre nicht zu Euch, wenn Ihr glaubt, dass es ein kulturelles Recht und einen Wert darstellt, früh Kinder zu kriegen und diese in einer Welt von Elend groß zu ziehen. Ich gehöre nicht zu Euch, wenn es darum geht, die Gewalt in der Familie im Zigeunerghetto zu ignorieren, oder nichts davon wissen zu wollen, wie viele Findelkinder oder vorbestrafte männliche Zigeuner es in Baracska gibt. Ich gehöre nicht zu Euch, wenn bei einer Zusammenkunft davon gesprochen wird, dass die Mehrheitsgesellschaft nur aus verfluchten Rassisten besteht, und ich gehöre auch dann nicht zu Euch, wenn Ihr meint, wir müssten eine Schicksalsgemeinschaft mit anderen Minderheiten eingehen. Seien es Minderheiten im Bezug auf ihre Religion, ihre Ethnie oder ihrer sexuellen Orientierung. Ich gehöre auch nicht zu Euch, wenn Ihr mit Unverständnis darauf reagiert und fragt, warum ich nicht im Ghetto aufgewachsen bin, oder weshalb ich in der Schule auch nie schlechtere Zensuren bekommen habe, nur weil ich zufällig als Zigeuner geboren wurde. Ich bin keiner von Euch, weil in mir keine echte Wut gegenüber den Nichtzigeunern herrscht; auch keine solche, in die mich selbst hineinsteigere.
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Ich gehöre zu Euch, sobald Ihr versteht, dass die Nichtzigeuner die einzig mögliche Lösung für die gesamte ungarische Gesellschaft, vor allem aber für die Zigeuner sind. Ich sage das deshalb, weil die Nichtzigeuner über all die Ressourcen verfügen, auf die wir selbst auch angewiesen sind, oder auf die wir angewiesen wären. Aber wir kommen nicht dran, weil unser Vater oft genug die Sozialhilfe versäuft. Oder der Zinswucherer unsere Mutter verprügelt. Oder unsere große Schwester wegen der Schulden nach Holland verschleppt wird. Oder die für uns so nette Lehrerin von der Mutter des Banknachbarn jede Woche vor der Schule verprügelt wird. So viele von Euch verleugnen das, aber das ist der Grund, warum wir nicht zu den Ressourcen gelangen. Heute sind wir es, die sich davon ausschließen. Obwohl wir dringend auf sie angewiesen wäre, anders gelangen wir nirgendwo hin. Das ist es, was viele Gemeinschaften der Zigeuner verstehen müssten. Wir sprechen von solchen Resourcen, die wir – egal wie viele sie einfordern und wie laut sie es tun – niemals in die Hände bekommen. Weil die Nichtzigeuner sie haben. Und wir können herumschreien oder Drohungen ausstoßen – wir kommen nicht vorwärts.
Die Nichtzigeuner leiten die Städte, sie leiten die Schulen. Sie schaffen Arbeitsplätze, können Arbeitnehmer einstellen, Kredite gewähren. Sie können Häuser verkaufen oder vermieten – an denjenigen, an den sie wollen – als Nachbar verleihen sie ihren Rasenmäher, wenn wir ihn brauchen. Sagt der gesunde Menschenverstand nicht, dass wir versuchen sollten, bestmöglich mit ihnen auszukommen? Wir könnten ein Teil ihres Lebensumfeldes werden, selbst dann, wenn wir uns in bestimmten Dingen uterscheiden, aber auch in einigen Dingen genau so würden wie sie. Die Unterschiede sind angeboren (wir sind eine eigene Ethnie), die Bezugnahme auf die Ähnlichkeiten bedeutet nicht, dass wir unsere eigene Herkunft, unsere ethnische Eigenheit aufgeben, wir können also auch bei der Volkszählung angeben, für was wir uns selbst halten und was wir fühlen. Uns selbst, das Individuum, oder unsere Familie oder Umfeld.
Hierfür muss natürlich jeder wissen, wo er seine eigene ethnische Identität findet. Vor allem im näheren Umfeld. Ich glaube aber, dass sie nicht darin liegen kann, dass wir alle gemeinsam auf die Nichtzigeuner wütend sind – auch wenn es tatsächliche oder vermutete Nachteile gibt.
Bauen wir selbst etwas auf. Etwas, das der andere Zigeuner auch erreichen möchte, und das ihn dazu bringen könnte, so sein zu wollen, wie wir. So kann man ein Volk, eine Nation schaffen.“
Quelle: http://hirszerzo.hu/velemeny/2011/10/10/20111010_forgacs_istvan_ciganysag
Forgács im Fernsehen bei ATV:
http://atv.hu/belfold/20111021_forgacs_istvan