Bence Fliegaufs Film „Csak a szél“ kommt in die deutschen Kinos. Das Drama, das sich mit dem Leben einer ungarischen Zigeunerfamilie befasst, wurde auf der Berlinale 2012 mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet. Seit einigen Tagen erscheinen Berichte, die auf das sehenswerte und tief bewegende Werk aufmerksam machen.
HV möchte anhand einer misslungenen Filmkritik, die auf SWR2 erschien, deren Lückenhaftigkeit aufzeigen. Der Autor Herbert Spaich zeigt, ob aus politischer Korrektheit oder mangelnder sprachlicher Kenntnis, nur das Hauptthema des Films, nicht aber die wertvollen Nuancen, die Fliegauf dem Zuseher quasi im Vorbeigehen präsentiert. Diese Bilder, die den „Trüffelsuchern des Antiziganismus“ verborgen bleiben, machen den Film erst vollständig und fördern die ganze bedrückende Lebensrealität ungarischer Roma zu Tage.
http://www.swr.de/swr2/kultur-info/kulturthema/filmkritik-just-the-wind/-/id=10016988/nid=10016988/did=11754816/1l78hiz/
Der Film zeigt einen Tag im Leben der Romni Mari, ihrer beiden minderjährigen Kinder Anna und Rió sowie ihres unter den Folgen eines Schlaganfalls leidenden Vaters.
Aufhänger des Films ist der Mord an der Roma-Familie Lakatos, die von Unbekannten mit Schrotgewehren erschossen wurde. Auch die Kinder kamen dabei ums Leben. Mari ist beunruhigt, fordert ihre Kinder jedoch auf, die Schule zu besuchen. Dieser Bitte kommt nur die Tochter Anna nach, Sohn Rió beschimpft seine Schwester, die ihn wecken will, und verbringt den Tag lieber im Wald und beim Play-Station-Spiel mit anderen jungen Zigeunern. Der fehlende Schulbesuch Riós ist, anders als der SWR analysiert, allerdings mehr seiner Unlust als irgendeiner Form von Angst geschuldet – hier ist offenbar Spaichs Phantasie mit ihm durchgegangen. Es ist übrigens nicht Mari, die dem Bus hinterherläuft, sondern ihre Tochter Anna.
Mari arbeitet vormittags bei der Straßenmeisterei, nachmittags putzt sie in der Schule ihrer Kinder. Während ihre Vorarbeiterin bei der Straßenmeisterei hilfsbereit ist und ihr einen Beutel mit Kleidern für ihre Tochter schenkt, ist sie beim Job in der Schule alltäglichen Diskriminierungen durch den Hausmeister ausgesetzt. Auch hier ist Mari allerdings nicht nur unschuldiges Opfer. Sie erscheint zu spät zur Arbeit, wird vom Hausmeister deswegen ermahnt und darauf hingewiesen, „Jeder ist ersetzbar“. Mari antwortet mit einem trotzigen „Außer Dir natürlich!“.
Auch das Mobbing durch die Kollegin ist nur die halbe Realität: Als sie auf dem Posten der sich verspätenden Mari reinigt (die Turnhalle) und sie wegschicken will, ergreift Mari fluchend deren Putzeimer und wirft ihn in den Gang hinaus. Nach getaner Arbeit escheint erneut der Hausmeister und macht Anspielungen, Mari würde nach „Aas“ stinken. Aus Wut ergreift Mari das Geschirr des Hausmeisters und versenkt es in dem Putzeimer, mit dem sie kurz zuvor die Toilette gereinigt hat.
Anders als Spaich und viele seiner Kollegen in den vergangenen Tagen unisono suggerierten, handelt der Film also nicht nur von der Diskriminierung einer wehrlosen Romni, sondern auch von ihren wütenden und zum Teil bedenklichen Reaktionen. Dieses Bild zeichnet Fliegauf auch im Allgemeinen. Keine Szene zeigt dies besser als die Aufnahmen von Maris Heimweg: Sie geht durch die Siedlung und wird von einem Roma aufgefordert, mit ihm einen Schnaps zu trinken, sie könne ihm ja danach „den Schwanz lutschen“. Maris ablehnende Haltung wird von einem vorbeikommenden Nichtroma beobachtet, woraufhin dieser von den umherstehenden Zigeunern ohne Anlass wüst beschimpft („Schwuchtel“, „Wichser“) und bedroht wird. Ein Roma schlägt ihm die Mütze vom Kopf, ein anderer behauptet, er würde Streit suchen, weil sie „cigány“ seien…tatsächlich hat niemand anderes als die Roma den Konflikt provoziert. Ein weiterer Zigeuner schlichtet den Streit.
Die wohl bedrückendste Szene – außer dem tragischen Ende – bildet der Besuch Riós in dem Haus der ermordeten Familie Lakatos. Rió sucht nach Wertgegenständen, als zwei Polizeibeamte auftauchen und sich im Haus umsehen. Rió versteckt sich. Die Polizeibeamten sprechen darüber, dass es mit der Familie Lakatos „die falschen“ Zigeuner erwischt hätte, es seien keine „Parasiten“, sondern fleißige Menschen gewesen, die ihre Kinder zur Schule geschickt und ein Badezimmer besessen hätten. Der ältere Beamte äußert, er könne jederzeit die Roma aufzeigen, die es verdient hätten, so zu enden wie die Familie Lakatos, etwa jene Roma, die kürzlich eine 82-jährige Frau vergewaltigt und misshandelt hatten, um an ihre Ersparnisse von 20 Euro und eine Packung Hühnereier zu kommen. Die Szene strotzt dank der grausam fachsimpelnden Polizisten, die am Tatort Pistazienkerne verputzen und gewisse Sympathie mit den unbekannten Mördern und ihrer „Botschaft“ hegen, vor Antiziganismus und fehlender Pietät vor den Opfern. Aber auch das Bild von Gewaltverbrechen, die durch Roma begangen werden, zeigt blitzlichtartig auf eine hierzulande wenig bekannte Realität in Ungarn, die zu tiefer Besorgnis in Teilen der Gesellschaft führt und rechtsradikalen Parolen von der „Zigeunerkriminalität“ fruchtbaren Boden bietet. Diese Besorgnis kann die Parolen und Sichtweisen der Polizisten nicht rechtfertigen, gleichwohl ist sie real.
Die junge Anna, eine fürsorgliche Person, die Englisch lernt, um gemeinsam mit ihrer Familie nach Kanada zu ihrem Vater auszuwandern, ist die positive Heldin des Films. Sie kümmert sich um die kleine Romni Zita, deren total verwahrloste Mutter mit gewalttätigen Roma ihren Alltag verbringt und ihre Tochter verkommen lässt, anstatt sie zur Schule zu schicken. Hilfsbereit bringt Anna ihr Medikamente (die ihr sogleich mit den Worten „her mit den Medikamenten, Du Fotze“ von einem Zigeuner abgenommen werden) und lernt fleißig in der Schule. Das Bild der Heldin bekommt nur dadurch Kratzer, dass sie Sie Ärger um jeden Preis aus dem Weg zu gehen scheint. Das gipfelt darin, dass sie der Vergewaltigung einer Mitschülerin tatenlos zusieht und wortlos den Raum verlässt, ohne dem ihr entgegen kommenden Erwachsenen zu sagen, was passiert ist.
Am Abend findet sich die Familie wieder in ihrem kleinen Haus im Wald ein. Mari stellt ihren Sohn Rió zur Rede, weil er Kaffee gestohlen hat. Rió versucht, sich dilettantisch aus der Sache herauszulügen, was ihm aber nicht gelingt. Er möchte seiner Mutter am kommenden Tag ein Versteck zeigen, die Mutter verlangt jedoch abermals, er solle lieber die Schule besuchen.
Kurz danach beruhigt Mari ihren Sohn, ein Geräusch von draußen sei „nur der Wind“. Ein folgenschwerer Irrtum.
Nach meiner Auffassung thematisiert Bence Fliegauf mit seinem zu recht preisgekrönten Werk nicht allein das Thema „Diskriminierung der Roma“. Anknüpfungspunkt sind zwar jene tödlichen Gewaltverbrechen, denen in Ungarn in den Jahren 2008 und 2009 sechs Angehörige der Minderheit, darunter auch Kinder, zum Opfer fielen. Anders als die eindimensionalen Zuseher, die dem Film einen erhobenen Zeigefinger (nur) gegen die ungarische Mehrheitsgesellschaft entnehmen möchten, zeigt Fliegauf aber gerade die gegenseitigen Schwierigkeiten im Zusammenleben auf. Missverständnisse, gegenseitige Vorurteile und Verkrustungen, die ein gedeihliches Miteinander zunehmend erschweren. Und dafür sorgen, dass selbst bestialische rassistische Verbrechen an Landsleuten Gleichgültigkeit, Aufrechnungsmentalität und falsch verstandene Solidarität hervorrufen. „Wir“ und „Die“. Polizisten, die glauben, lebenswertes von lebensunwertem Leben unterscheiden zu können und sich bei ihrer täglichen Arbeit gewiss nicht von ihren Vorurteilen freimachen können, sind hier ebenso Mitursache des Problems wie Zigeuner, die aktiv Streit suchen und jedes eigene Fehlverhalten mit Diskriminierung „durch die anderen“ rechtfertigen wollen. Hinzu kommen Roma, die in Fliegaufs Werk quasi an jeder Ecke herumsitzen und sich mit billigem Fusel betäuben: Natürlich treibt gesellschaftliche Ausgrenzung Menschen in Armut, persönliche Verwahrlosung und Alkoholismus; doch ein Ausweg aus der Situation muss auch von der Minderheit selbst gewollt sein, wie der Rom István Forgács zu Recht betonte.
Der Wille, die eigene Situation zu verbessern, ist unter den Protagonisten nur bei Mari und ihrer Tochter Anna zu erkennen. Die entfesselte Welle von Hass verschont jedoch kein Mitglied der Familie. Das ist, wie immer, die eigentliche Tragik: Vorurteile und all ihre grausamen Folgen treffen immer die Falschen.
Es lohnt sich also, auch auf die Nebensätze des bewegenden Films zu achten, anstatt ihn nur als die heute in Mode geratene Anklage gegen die ungarische Mehrheitsgesellschaft zu verstehen. Die Welt ist komplexer: Niemand zeigte das zuletzt besser als der Autor Rolf Bauerdick mit seinem Werk „Zigeuner„. Ein Ausweg aus der beklemmenden Situation wird nur gemeinsam und ohne gegenseitige Schuldvorwürfe zu bewerkstelligen sein; und auch wenn das hier thematisierte Art von Verbrechen auch künftig nicht völlig augeschlossen werden kann, so wird eine von gegenseitigem Respekt geprägte Gesellschaft angemessen darauf reagieren: mit Empörung, Bestürzung und Trauer. Unabhängig von der ethnischen Herkunft.
Bence Fliegaufs Film ist, als Aufruf gegen Gewalt und für ein Miteinander, uneingeschränkt zu empfehlen.