Das ungarische Verfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 27. Mai 2014 zur zivilrechtlichen Haftung von Internetportalen für ehrverletzende Äußerungen ihrer Nutzer Stellung bezogen.
Der zugrunde liegende Sachverhalt betrifft einen Rechtsstreit des Fidesz-Politikers János Lázár, der das Amt des Ministerpräsidenten leitet. Er ging im Wege der Klage gegen ein Internetportal vor, weil er dort – unstreitig unmoderiert – veröffentlichte Kommentare zu seiner Person als unwahr und damit als Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte ansah.
Der Kläger Lázár bekam in den Instanzen (Hauptstadtgericht, Tafelgericht der Hauptstadt sowie Kurie) Recht. Die Gerichte stellten nicht nur eine Verletzung Lázárs durch die Kommentarverfasser, sondern darüber hinaus auch durch das Internetportal selbst fest. Diese greife auch dann, wenn das Portal den Kommentar lösche und die Daten des Users herausgebe, die zu seiner Identifikation erforderlich sind. Die Grundlage für die Haftung sei, dass bereits durch Veröffentlichung und Verbreitung der rechtsverletzenden Äußerung der Haftungstatbestand verwirklicht werde. Ein Grund, unmoderierte Foren gegenüber moderierten besser zu stellen, bestehe nicht.
Die als Reaktion auf eine Haftung des Internetportals erhobene Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos.
Das Verfassungsgericht stellte – mit 14:1 Stimmen – fest, dass eine Haftung der Betreiber von Meinungsforen nicht gegen Verfassungsrecht verstoße; auch einen Verstoß gegen EU-Recht (RL 2000/31/EG), dessen Einhaltung ebenfalls dem Prüfungsumfang des Verfassungsgericht unterliegt, stellte das Gremium nicht fest. Die grundgesetzlichen Hürden der Meinungs- und Pressefreiheit seien nicht überschritten. Der in den Instanzen geäußerte Einwand des Forenbetreibers, er habe auf den Inhalt der Kommentare keinen Einfluss, überzeugte die Verfassungshüter nicht. Aus gutem Grund: Der Betrieb einer unmoderierten Kommentarfunktion ist keineswegs zwingend, sondern eine freie Entscheidung des Betreibers. daher bestehe kein Grund, jene Betreiber besser zu stellen, die sich um die in ihrem Medium geäußerten Meinungen nicht kümmern bzw. ihre Augen vor offenkundigen Rechtsverletzungen verschließen.
Das Gericht vertritt freilich nicht die Auffassung, dass – als Konsequenz des hier vertretenen Standpunktes – im Einzelfall keine unangemessene Beschränkung der Grundrechte vorliegen könne. Eine solche komme etwa dann in Betracht, wenn Gerichte übermäßig hohe Schadensersatzansprüche gegen den Portalanbieter festsetzen. Überhaupt sind, z.B. Auch nach deutschem Recht, unwahre Tatsachenbehauptungen, nicht von der Meinungsfreiheit umfasst: Sie schützt nur Werturteile.
Die Freiheit, die Meinung innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen (schutzwürdige Belange Dritter), auch kritisch, zu äußern, bleibt entgegen der Unkenrufe der sich in ihrer Art von „Meinungsfreiheit“ beschnitten fühlenden Akteure vom rechten und linken Rand der Gesellschaft, bestehen.
Es gilt weiter, dass Personen des öffentlichen Lebens deutlichere Kritik ertragen müssen als der Durchschnittsbürger. Dass die Meinungs- und Pressefreiheit jedoch kein Recht zur groben Beleidigung und offenen Lüge beinhaltet, dürfte hingegen auch für Nichtjuristen nachvollziehbar sein. Es bleibt zu hoffen, dass sich insoweit ein vom politischen Standpunkt und der Regierungscouleur unabhängiger Bewertungsmaßstab herausbildet: Die persönliche Ehre eines Fidesz-Politikers darf, auch in Zeiten rechtskonservativer Regierungen, nicht nach strengeren Maßstäben gemessen werden als jene von Personen, die zum Teil eklatant beleidigenden Angriffen aus regierungsnahen Kreisen ausgesetzt sind. Ob sich dies verwirklichen lässt, hängt von den Instanzgerichten ab.
Nur der – von der Fidesz-Parlamentsmehrheit gewählte – Verfassungsrichter András Stumpf gab ein, noch dazu sehr gut begründetes, abweichendes Sondervotum ab (Präsident Péter Paczolay stimmte dem regelnden Teil zu, fügte der Urteilsbegründung aber zusätzliche Aspekte hinzu). Es ist anzunehmen, dass diese seltene Einigkeit der Verfassungsrichter unter anderem auf den Umstand zurück zu führen ist, dass man – trotz der entsprechend der eigenen politischen Auffassung differierenden Perspektiven – der in ungarischen Medien erbittert geführten, mit persönlichen Angriffen, Beleidigungen und Unterstellungen durchsetzten innenpolitischen Auseinandersetzung gewisse regulative Grenzen setzen wollte. Gerade die Meinungsäußerungen in ungarischsprachigen Online-Zeitungsforen (z.B. Magyar Hírlap, Népszava) haben in der Vergangenheit ein Niveau erreicht, das auch das Verfassungsgericht nun veranlasst haben dürfte, gegen den entstandenen Wildwuchs einzuschreiten und von der nach der Wende geübten Praxis „jeder darf seine Meinung äußern, ganz egal wie sehr man dadurch in die Rechte Dritter eingreift“, in einem wichtigen Teilbereich abzurücken. Der Ansatz der nicht mehr im Parlament vertretenen liberalen Partei SZDSZ, die für eine Meinungsfreiheit nach US-amerikanischem Muster eintrat, die selbst Nazidiskurs und Holocaustleugnung duldete, scheint – 25 Jahre nach der Wende – endlich einer Überprüfung zugeführt zu werden.
http://mkab.hu/download.php?h=843