Amnesty International kritisiert Ungarn im Zusammenhang mit Gewalt gegen Roma

De Nichtregierungsorganisaton (NGO) Amnesty International drückt in ihrem im November 2010 veröffentlichten Bericht „Violent Attacks against Roma in Hungary“ (abrufbar hier) ihre Besorgnis über die Lage der Roma-Minderheit in Ungarn aus.  Der 47-seitige Bericht knüpft hierbei an eine Mordserie gegenüber Roma an, die im Jahre 2008 begann und Mitte 2009 mit der Festnahme einer Gruppe rechtsradikaler Verdächtiger in der Nähe von Debrecen endete. Die Strafverfahren dauern an.

Der Bericht kritisiert Ungarn wegen der aus Sicht von Amnesty International gegebenen Versäumnisse bei der Integration und beim Schutz der größten ethnischen Minderheit des Landes vor gewaltsamen Übergriffen. Die NGO fordert eine bessere Ausbildung der Ordnungskräfte bei der Aufklärung rassistisch motivierter Gewalttaten und prangert an, entsprechende Taten würden oftmals nicht statistisch als solche erfasst.

Die im Amnesty-Bericht aufgearbeitete Mordserie hat in den vergangenen Jahren in Ungarn für großes Aufsehen gesorgt. Ob die allgemeine Forderung, die Minderheit besser vor Gewalttaten zu schützen, durchsetzbar ist, ist jedoch schwer zu beantworten. Sämtliche Taten wurden scheinbar von den Tätern von langer Hand vorbereitet und in Randbereichen von Gemeinden begangen – hier dürfte ein flächendeckender Schutz kaum möglich sein. Bei der Mordserie handelt es sich also nicht etwa um Fälle von in der Öffentlichkeit ausgetragener Spontangewalt gegenüber Minderheiten, bei der die Polizei die Täter gewähren ließ.

Wichtiger wäre es wohl, bei der juristischen Aufarbeitung rassistische Motive offen an- und entsprechend harte Strafen auszusprechen. Diskriminierung von Minderheiten muss in der Gesellschaft geächtet werden. Zudem muss Ungarn weitere Anstengungen unternehmen, die Roma-Minderheit besser zu integrieren – hier ist insbesondere das Schulsystem gefragt.

Die Integration der Roma, die immerhin 8% der ungarischen Bevölkerung ausmachen, ist jedoch keine Einbahnstraße: Die Ausbildung junger Roma und ihre Integration in das Erwerbsleben scheitert nicht allein am mangelnden Integrationswillen der Mehrheitsgesellschaft: Auch die bis heute oft in archaischen Familienstrukturen und parallel zur Gesellschaft lebenden Roma müssen ihren Teil dazu beitragen, ihre Kinder in das Schulsystem einzugliedern – die hohe Zahl der Schulabbrecher, Arbeitslosen und des Analphabetismus kann nicht allein der Mehrheitsgesellschaft zum Vorwurf gemacht werden. Ohne Schulausbildung ist das Schicksal junger Menschen – nicht nur in Ungarn – besiegelt. Ein gewisser „sanfter Druck“ auf sozial Benachteiligte darf hier nicht tabuisiert werden: Etwa die Frage, ob Empfänger von öffentlicher Hilfe, die sich weigern, ihre Kinder regelmäßig in die Schule zu senden, mit Kürzungen belastet werden könnten.

Darüber hinaus sollte über die Frage nachgedacht werden, auf welche Art und Weise man  sich die „psychologische“ Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft beim Kampf gegen die zweifellos bestehende Diskriminierung am besten sichern kann. Nicht wenige Ungarn blicken mit Unverständnis auf die Tatsache, dass zwar eine ausdrückliche Erfassung von Gewalttaten an Roma verlangt wird, gleichzeitig aber eine statistische Erfassung der von Roma begangenen Straftaten (typischerweise Vermögens- und kleinere Gewaltdelikte) im Interesse einer weitreichenden political correctness gesetzlich untersagt ist. Der Eindruck, die als hoch wahrgenommene Kriminalitätsrate unter Roma – gerade auf dem Land – werde von der Politik seit Jahren verschwiegen, dürfte zum großen Wahlerfolg der Rechtsextremen in Ostungarn im April 2010 beigetragen haben. Da Statistiken helfen können, das Problem zu erkennen, erscheint es  verwunderlich, dass bis heute keine belastbare Statistik über den Beitrag der Roma an der Kriminalitätsstatistik existiert. Dies dient vordergründig dem Schutz der Minderheit, erschwert jedoch auch die Antwort auf die Frage, warum bestimmte Menschen in der Gesellschaft kriminell werden. Ein offener Umgang könnte nicht nur dazu beitragen, gezielte Ursachenbekämmpfung zu betreiben, sondern würde wohl letztlich auch das von Rechtsextremen genährte Märchen der „Zigeunerkriminalität“ zurückdrängen.

Der Amnesty-Bericht spricht wichtige Themen an, die von der ungarischen Innenpolitik ohne jede Vorbehalte angegangen werden müssen. Die Bekämpfung von Diskriminierung und die rückhaltlose Aufklärung rassistisch motivierter Gewalt ist zwingend erforderlich: Ein guter Anfang wäre ein hartes Vorgehen gegen Hetz-Portale wie Kuruc.info und Barikad.hu, die ihre roma- und judenfeindliche Propaganda in den letzten Jahren fast unbehelligt verbreiten durften. Und selbst die Mainstream-Medien müssen sich fragen lassen, ob Sendungen wie „Mónika Show“ (RTL Klub) und die dort quotenwirksam gelebten Vorurteile geeignet sind, das Bild der Roma in der Gesellschaft zu verbessern. In keinem Fall aber darf der Wunsch nach einer guten Außendarstellung des Landes dazu führen, dass die wahren Motive von Straftaten „vertuscht“ werden.

Ob eine in Art und Ausführung einzigartige Verbrechensserie zu dem Schluss zwingt, ein Mitgliedstaat der EU lasse Verbrechen gegen eine Minderheit zu, ist jedoch diskussionswürdig. Verbrechen wie diese sind nicht Auswuchs der alltäglichen Diskriminierung, sondern Taten Schwerkrimineller.

Wie „zweischneidig“ das Schwert ist, zeigt auch eine Nachricht aus Ungarn vom 29.10.2010 an (hier), der zufolge mehrere Roma von einem Gericht in Miskolc (nicht rechtskräftig!) wegen „Gewalt gegen die Gemeinschaft“ verurteilt wurden. Die Täter sollen im Jahre 2009 mit Stöcken und Messern ein Fahrzeug angegriffen und dabei „schlagt den stinkenden Ungarn“ ausgerufen haben. Ferner soll ein Schild mit der Aufschrift „Tod den Ungarn“ herumgetragen worden sein. Das Phänomen des gegen Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft gerichteten Rassismus ist bislang weitgehend im Hintergrund (das Gericht in Miskolc sprach die erste Verurteilung in einem solchen Sachverhalt aus), müsste jedoch wohl im Interesse einer vollständigen Aufarbeitung der Probleme ebenfalls offen angegangen werden. Auch bei dem im Amnesty-Bericht genannten, von Roma begangenen tödlichen Übergriff gegen den Lehrer Lajos Szögi, der vor den Augen seiner beiden minderjährigen Töchter nach einem „Beinahe-Autounfall“ aus dem Fahrzeug gerissen und totgeschlagen wurde, soll unter Beifallrufen wie „tötet den Ungarn“ stattgefunden haben. Die Täter wurden bereits verurteilt.

Dem Amnesty-Bericht ist zuzugestehen, dass er zutreffend anmerkt, dass eine vollständige Aufklärung der Tatmotive und die Anwendung der – bereits vorhandenen – Strafgesetze auf rassistische Gewalttaten ohne wenn und aber dringend notwendig ist. Andernfalls drohen sich die Gräben zwischen Mehrheitsgesellschaft und Roma noch weiter zu vertiefen.

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