Kathrin Lauer, György Dalos und Rudolf Ungváry sprechen in Wien über die ungarische Politik

Das österreichische Wirtschaftsblatt berichtet über ein Gespräch zwischen der Budapester dpa-Korrespondentin Kathrin Lauer und den beiden ungarischen Schriftstellern und ehemaligen Dissidenten György Dalos und Rudolf Unváry zur politischen Lage in Ungarn.

Ungváry befürchtet einen „Export des Faschistoiden“ in die EU, Dalos beklagt – zu Recht – die Hasskultur in der ungarischen Politik, und Lauer sieht einen zunehmend aggressiven Tonfall von Seiten der Regierung.

Dalos´Auffassung zur Hasskultur überzeugt, jedoch muss betont werden, dass die Ursachen und Gründe hierfür nicht allein bei der ungarischen Rechten zu suchen sind. Die Auseinandersetzung ist vielmehr bereits seit etwa 1993 von gegenseitigen Pauschalierungen geprägt: Während die „Rechte“ den Gegner als Erbe der Kommunisten oder gar „Diener fremder Herren“ bezeichnet, belässt es auch die „Linke“ nicht bei sachlicher Kritik, sondern versucht, die Konservativen immerzu in eine Ecke mit den Rechtsextremen zu drücken. Eine Tradition, mit der die „linken“ Wähler, deren Parteien außer dem offen präsentierten Antifaschismus nichts „Linkes“ zu bieten haben, noch immer angezogen werden können. Die Trennlinie verläuft somit zwischen vermeintlichen Nazis und angeblichen Kommunisten. Bei der Beurteilung dieser Situation aus dem Ausland fällt auf, dass die Diffamierungen seitens der Linken auf weit weniger Echo stoßen als diejenigen der Konservativen. Letztlich trägt auch die dpa, die über Frau Lauer die Ungarn-Korrespondentin auf dem Podium sitzen hatte, dazu bei: Dass Lauer – dem Wirtschaftsblatt zufolge – lediglich einen aggressiven Tonfall von Regierungsseite erkennt, verwundert vor dem Hintergrund der aktuellen Auftritte von Oppositionspolitikern doch sehr.

Ungváry ist als heftiger, teilweise zügelloser Kritiker der Regierung bekannt. Er, der sich als Konservativer bezeichnet, wird nicht müde, den Teufel an die Wand zu malen, sich über die Rückständigkeit und Verdorbenheit der ungarischen Rechten und das dort fehlende europäische Denken zu empören. Dabei ist er – der selbstredend die Regierung für die Spaltung des Landes verantwortlich macht – von der Grundeinstellung gerade einer jener Vertreter der ungarischen Streit-Unkultur, die durch ihren guten Namen und die offen zu Tage tretende Unversöhnlichkeit für diese mitverantwortlich sind: Er gab vor nicht allzu langer Zeit ofen zu, mit „denen“ nicht reden zu können oder zu wollen. Dialogbereitschaft sieht anders aus. Mit Paul Lendvai und György Konrád dürfte Ungváry das Trio der kältesten Krieger bilden, die die Regierung – vorzugsweise über das Ausland – kritisieren.

Es fällt – zum wiederholten Male – auf, dass sich niemand auf dem Podium befand, der „die andere Seite“ vertreten konnte oder jedenfalls versuchte, deren Ansätze und Sichtweisen zu erklären. Ob dies an der fehlenden Einladung oder der fehlenden Bereitschaft der Regierungsseite liegt, ist nicht überliefert…

http://wirtschaftsblatt.at/home/nachrichten/europa_cee/1470366/Ungarn-und-der-Export-des-Faschistoiden-in-EU

Ungarn-Themenabend im ORF (26.09.2012) – Sendungen in der ORF tvthek

Die beiden ORF-Sendungen von gestern Abend sind mittlerweile bei der Mediathek abrufbar:

Menschen und Mächte: http://tvthek.orf.at/programs/170407-Menschen—Maechte

Club 2: http://tvthek.orf.at/programs/1283-Club-2

Nachtrag vom 10.10.2012:

Die ORF Mediathek hat die Lendvai-Reportage mittlerweile nicht mehr im Angebot. Hier ist sie jedoch weiterhin verfügbar:

http://mandiner.blog.hu/2012/10/10/lendvai_magyarorszaga_bucsu_a_minosegi_ujsagirastol

Polemische Rückschau: Johanan Shelliem, der Märchenonkel, und „sein Ungarn“

Bereits vor einiger Zeit – am 04.03.2012 – sendete das öffentlich-rechtlich finanzierte Bayern 2 Kulturjournal einen Bericht des Journalisten Johanan Shelliem über Ungarn.

Der Hörbeitrag ist hier (ab 41:50) abrufbar:

http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=9718248

Der von Unwahrheiten, Plattitüden, Verzerrungen und Weglassungen nur so strotzende Beitrag wurde von demselben Journalisten gefertigt, der im Januar 2012 in einem Bericht für das (ebenfalls von Gebührenzahlern finanzierte) Deutschlandradio wahrheitswidrig behauptet hatte, die rechtsradikale (Oppositions-)Partei Jobbik sei in Ungarn an der Regierung beteiligt.

Der Beitrag beginnt mit einer Aussage des Schriftstellers György Dalos: Dieser macht die ungarische Rechte für die vorhandene Spaltung der Gesellschaft verantwortlich. Die Rechte habe alle Personen, die nicht ihrer Meinung gewesen seien, als fremdherzig und nicht zur Nation gehörig bezeichnet. Das Thema war hier im Blog, auch unter Mitwirkung von Herrn Dalos, schon mehrfach kontrovers behandelt worden. Doch ist diese einseitige Schuldzuweisung keinesfalls unstreitig: Ebenfalls in den 90er Jahren herrschte – in einem noch ganz überwiegend linksliberalen Pressemarkt – eine Tendenz vor, die rechten Parteien als rechtsextrem und mitunter gar faschistisch zu karikieren. Was Dalos nicht sehen möchte, ist die wohl beiderseits in etwa gleichauf zu veteilende Verantwortung der politischen Lager für die jetzige Situation.

Doch zurück zu Shelliem: Ein weiterer Höhepunkt is die Behauptung, mit der ungarischen Verfassung seien den

antisemitischen und fremdenfeindlichen Ankündigungen Taten gefolgt„.

Welche Ankündigungen oder Taten – von Seiten der Regierungsmehrheit – denn „antisemitisch“ gewesen sein sollen, wird dem geneigten Zuhörer verschwiegen. Es wäre interessant zu hören, wie man beim Bayerischen Rundfunk gedenkt, einen der schwersten Vorwürfe, die man in der europäischen Politik heute erheben kann, zu untermauern. Es sei denn, der Vorwurf des Antisemitismus gehört zur Meinungsfreiheit eines jeden aufrechten Demokraten.

Das Ende der Einleitung enthält sodann die Ankündigung dessen, was man nach dieser Ouvertüre erwarten kann:

„Johanan Shelliem war in diesen Tagen in Budapest und zeichnet in Gesprächen mit Künstlern, Intellektuellen und Schriftstellern ein Bild der gegenwärtigen Zustände.“

Ich denke, auch ohne den Beitrag gehört zu haben, ahnt man, dass man es abermals nur mit den usual suspects Ágnes Heller, György Konrád, Paul Lendvai, András Schiff, eventuell noch György Bolgár vom Klubrádió und Vertretern der Opposition zu tun bekommen wird. Man wird (nur Bolgár fehlt) nicht enttäuscht:

Unser Ungarn-Experte Johanan Shelliem beginnt mit der Behauptung, die Beamten von Viktor Orbán zeigten den Bürgern an der Donau gerade, zu was sie im Stande seien: Die Regierung habe sich für die nächsten Jahre alle größeren Plätze in der Hauptstadt reservieren lassen. Natürlich um Demonstrationen der Opposition, allem voran der regierungskritischen jungen Zivilorganisation „Milla“ („Eine Million für die Pressefreiheit“), zu verhindern.

All das behauptete Herr Shelliem in einem am 04.03.2012 über den Äther gehenden Bericht, kurz nach dem er „in diesen Tagen“ in Ungarn gewesen sei. Der kleine Schönheitsfehler: Bereits einen Monat zuvor, am 01.02.2012, wurde – über den oppositionsnahen Radiosender Klubrádió – bekannt, dass die Veranstaltung von Milla entgegen der Behauptungen im Internet statfinden konnte. Hungarian Voice berichtete umgehend. Nochmals: Mehr als einen Monat, bevor Shelliem das glatte Gegenteil über die (Zitat Shelliem) „junge ungarische Diktatur“ auf Bayern 2 behauptete.

Die Wahl des „alternativen Staatspräsidenten“ konnte übrigens stattfinden, Sieger wurde der Rapper Dopeman, der in einem Lied namens „BAZMEG“ („Fickt Euch!“) mit der gesamten ungarischen Politik (nicht nur mit der Regierung) abrechnet. Gratulation…

Im Anschluss folgt eine Analyse der (Zitat) „Lukács-Schülerin und Jüdin“ Ágnes Heller, einer bekennenden Gegnerin Viktor Orbáns, über die Oppositionsbewegung. Sie berichtet über eine aus ihrer Sicht eintretende „Wende“ auf der Staße, die Menschen würden aus ihrer Apathie erwachen und sich für die Freheit einsetzen.

Es folgt Shelliem, der von der

Orbánschen Vision der Wiedergeburt Großungarns

spricht. Abermals bleibt dem Hörer verborgen, was Shelliem sagen will: Will Orbán Krieg gegen die europäischen Nachbarn führen? Annektieren? Oder doch nur einen Teppich ausrollen? Jedenfalls aber wolle Orbán „die Medien staatlich gleichschalten“ (nicht nur „die staatlichen Medien gleichschalten“, was ein Unterschied wäre, weil diesen Versuch bislang jede ungarische Regierung unternommen hatte…). Nein, alle Medien. Offenbar sind die oppositionellen Blätter Népszava, Népszabadság (die auflagenstärkste Tageszeitung Ungarns), 168 óra und der private Fernsehsender ATV zwischenzeitlich auch von Orbán-Anhängern unterwandert: Allesamt Medien, die zum Teil sehr kritisch über Orbán und seine Regierung berichten. Was Shelliem, der der ungarischen Sprache offenbar nicht mächtig ist, wohl schwerlich selbst beurteilen kann. Bei seiner, von Fakten ziemlich unbeeindruckten Sichtweise wird der Fall Klubrádió zu einem Kampf „zwischen der Regierung und den Demokraten“ (ein „Kampf“ übrigens, der zwischenzeitlich von den ungarischen diktatorisch unterwanderten Gerichten erstinstanzlich zu Gunsten von Klubrádió entschieden wurde. Schwamm drüber, warum sich mit Belanglosigkeiten aufhalten.

Im Anschluss daran erinnert Shelliem an den Leserbrief des Pianisten András Schiff an die Washington Post, in dem dieser Anfang 2011 – kurz vor der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Ungarn –  die Berechtigung des Landes, den Ratsvorsit u übernehmen, in Frage gestellt hatte. Übrigens nachdem er, Schiff, jahrelang geschwiegen hatte, obwohl es in den Jahren 2008-2009 – und damit vor Orbán – zu mehreren grausamen Morden an ungarischen Roma gekommen war. Den die regelmäßigen Aufmärsche der „Ungarischen Garde“ vor 2010 ausweislich seines beredten Schweigens kaum störten? Schiffs Vorpreschen, das im Hinblick auf den Zeitpunkt wohl als gut gemeinte Unterstützungsaktion für die dahinsiechende ungarische liberale Opposition gemeint war, die seit 20 Jahren versucht, die ungarische demokratische Rechte mit Rechtsradikalen in einen Topf zu werfen, verpuffte übrigens, wie vorauszusehen war, wirkungslos. Dass die Reaktionen in Ungarn waren, wie Schiff zutreffend schildert, zwar zum Teil schäbig, nicht frei von Antisemitismus und mitunter gar kriminell, ist unstreitig. Ebenso wie der Umstand, dass solche „Aktionen“ letztlich nur einer Partei nutzen können: Jobbik.

Im Zusammenhang mit den (zwischenzeitlich wohl im Sande verlaufenen) Ermittlungen gegen mehrere Angehörige der ungarischen Akademie der Wissenschaften (Shelliem: „Drei Juden und zwei Deutschstämmige“) stellt Shelliem die Sichtweise der Regierung wie folgt dar:

Die Ungarn selbst seien stets gut.“

Wer, wann, wie solche Blödheiten verkündet haben soll, verschweigt der Journalist. Er würde sich bei der Zitatejagd auch schwer tun. Es folgt die Behauptung (wieder ohne Quellenangabe), im Rahmen der Berichterstatung über den Fall Dominique Strauss-Kahn sei

unzählige Male von seiner jüdischen Nase

die Rede gewesen. Bemerkenswert die daran anschließende Einspielung von Paul Lendvai, der sich nicht mit dem Fall-Strauss-Kahn beschäftigt, sondern auf die wirtschaftlichen Probleme des Landes hinweist und darauf, dass dies die wahren Probleme seien, nicht aber, das die Regierung aktiv Antisemitismus betreibe. Der Eindruck, dass die Einspielungen Lendvais irgendwie künstlich auf den Erzählfaden Shelliems abgestimmt und zurechtgeschnippelt wurden, mag sich auch nach dem zweiten Hören nicht verflüchtigen, sondern eher verstärken.

Der Erzählfaden „Rassismus und Antisemitismus“ führt uns mit Hintergrund-Atmosphäre ratternder Trambahnen nach Budapest. Noch einmal zur Erinnerung: Der Bericht stammt vom 04.03.2012: Der Name István Csurka, Dramaturg und seit der Wende eher durch seinen aggressiven Antisemitismus als durch seine Stücke zu zweifelhafter „Berühmtheit“ gelangt, wird aufgegriffen. Der „hetzt“ (in Gegenwartsform) gegen Juden und Liberale. „Hetzte“ im Präteritum wäre wohl passender gewesen, denn der Imperfekt steht für eine in der Vergangenheit begonnene und beendete Handlung. Zum Zeitpunkt des Berichts und „einiger Tage zuvor“, genau gesagt, seit 01. Feruar 2012, ist István Csurka nämlich tot. Kein Grund zwar, den Antisemitismus Csurkas zu verschweigen. Aber muss man einen Toten als eine (in Gegenwartsform) „hetzende“ Person und damit eine gegenwärtige Gefahr darstellen? Die Fehler im Bericht mehren sich, der Verdacht, es könnte sich gar nicht um Fehler handeln, steigt…

Alles nur Einbildung? Warten wir ab bis zum großen, kulturpolitischen Hauptkritikpunkt. Shelliem behauptet, der Budapester Oberbürgermeister (István Tarlós) habe innerhalb der Spielzeit den bisherigen Intendanten des Új Szinház (Neues Theater),

István Márta, durch den Jobbik-Aktivisten György Dörner und seinen Spielleiter István Csurka ersetzt.“

Ob es für unseren Protagonisten Shelliem im März des Jahres 2012 eine Rolle spielenmag, dass die tatsächlich vorgesehene Ernennung des Duos Dörner/Csurka vom Oberbürgermeister bereits im Dezember 2011 nicht mehr in der ursprünglichen Form aufrechterhalten wurde und sich Tarlós – wohl auch wegen des internationalen Drucks – offen gegen Csurka aussprach? Und dass Csurka nicht mehr Spielleiter wurde? Passen die Nichternenung und der Tod des István Csurka nicht in den Erzählfaden? Da Shelliem über die Demonstration vor dem Theater am 01.02.2012 berichtet, war es möglich, den Bericht entsprechend abzufassen.

Der Bericht endet mit weiteren Bezugnahmen auf die „Diktaur“ des heutigen Ungarn.

Es bleiben zwei Fragen zurück:

1. Warum fühlen sich Journalisten wie Johanan Shelliem, die ausweislich der obigen Inhalte von Ungarn nur wenig bis gar nichts wissen, zu solchen Berichten ermuntert? Ist es der Drang, um jeden Preis vor aufkommenden Nazigefahren zu warnen? Ist es ehrliche Furcht? Oder ist es – was noch viel schlimmer wäre – pure Dummheit und Boshaftigkeit? Erstere könnte man durch Aufenthalte in Ungarn und Gespräche mit der gesamten politischen Palette  sicher zum Teil zerstreuen (dass es beunruhigende Entwicklungen in Ungarn gibt, soll hier nicht verschwiegen werden). Gegen Boshaftigkeit ist man hingegen machtlos.

2. Wo bleibt Marco Schicker, der Chefredakteur des  Pester Lloyd eigentlich in solchen Momenten? Er, der so viel Wert auf Sachkunde legt, zuletzt die fehlende Ungarnkenntnis der in Deutschland lebenden „Jubel-Ungarn“ verhöhnt hatte und die Auffassung vertritt, nur derjenige, der in Ungarn und nicht im „gut gepolsterten Ausland“ lebe und die Verhältnisse am eigenen Leib spüre, dürfe über Ungarn berichten, scheint gegenüber Beiträgen wie dem obigen eine deutlich höhere Toleranzschwelle zu haben. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Deutschlandradio: „Die an der Regierung beteiligte Jobbik-Partei“ nutzt antisemitische Stereotype zur Diskriminierung

Der öffentlich-rechtlich finanzierte Deutschlandfunk berichtete gestern in einer Sendung über Antisemitismus in Ungarns Politik. Es handelte sich zugleich um ein Bericht über eine in Berlin abgehaltene Podiumsdiskussion mit der Philosophin Ágnes Heller, dem Publizisten Paul Lendvai, dem Pianisten András Schiff sowie dem Theaterwissenschaftler Ivan Nagel.

http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1653118/

http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article13817158/In-Ungarn-ist-der-Antisemitismus-wieder-hoffaehig.html

Und ja, Sie haben richtig gelesen. Fragt man den Kulturjournalisten Jochanan Shelliem, so ist die rechtsradikale Jobbik mittlerweile sogar an der Regierung in Ungarn beteiligt. Das ist zwar unrichtig, aber den meisten Hörern wird es nicht auffallen. Jobbik ist Oppositionspartei.

Nachtrag:

Die Redaktion von DRadio hat in der geschriebenen Fassung des o.g. Beitrags klarstellend angemerkt, dass Jobbik nicht an der Regierung beteiligt ist. Ich merke an: Nachdem hier im Blog über diesen groben Fehler berichtet wude.

Weitere Kontroverse zu Ungarn: Prof. Detlef Kleinert vs. Júlia Váradi – mit Umfrage

Da wir in der Zeit der Kontroversen über Ungarn leben, möchte ich den Lesern des Blogs eine Kontroverse zweier Kommentatoren in der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ von Ende Dezember 2011 nicht vorenthalten.

Es traten gegeneinander an: Prof. Detlef Kleinert, ehemals ARD-Südosteuropakorrespondent in Wien, und Júlia Váradi, Mitarbeiterin u.a. des oppositionsnahen Radiosenders Klubrádió in Budapest.

Anlass der Kontroverse war die Auszeichnung zweier ungarischer Journalisten, Mária Vásárhelyi und Dániel Pál Rényi durch die Organisation „Reporter Ohne Grenzen“.

Die Vorlage lieferte Kleinert, der er die Auffassung vertrat, vieles der heutigen Kritik an Ungarn sei weniger von ehrlichenrSorge um die Pressefreiheit, als vielmehr von ideologischen Motiven – konkret: Parteinahme für die heutige Opposition – bestimmt:

http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/720019/Es-geht-um-Ideologie-nicht-um-Pressefreiheit?from=suche.intern.portal

Einige Auszüge:

Seit die Ungarn den Fehler begangen haben, „falsch“ zu wählen, reißen die Kampagnen nicht ab. Freilich, es sind immer die gleichen durchsichtigen Phrasen, mit denen der Untergang der Demokratie beschworen wird, es sind immer die gleichen Gestalten, die – vom Heil des Sozialismus getragen – die Freiheit in Gefahr sehen, und es sind immer dieselben Kronzeugen, die sich da als Informanten zur Verfügung stellen. Man kennt all die billigen, längst widerlegten Vorwürfe, ist nicht einmal mehr verstimmt.“

Dabei soll keineswegs übersehen werden, dass sich die Regierung Orbán vielfach ungeschickt verhalten hat, so auch bei der Neuordnung der Medienlandschaft.

Die Letzten aber, die nun vom Tod der Pressefreiheit reden sollten, sind jene Kolonnen, die zuvor die korrupten linken Regierungen unterstützt haben, denen es mitnichten um Pressefreiheit, sondern vielmehr um Ideologie geht. Wie gesagt: Die Ungarn haben halt „falsch“ gewählt, deshalb müssen die Blockwarte des Klassenkampfes in Österreich und Deutschland nun ihre Kampagnen fahren.“

Bleibt an Substanz: Die Organisation „Freedom House“ hat Ungarn in Sachen Pressefreiheit in der Kategorie „frei“ eingestuft, und Preisträger Renyi hat bei der Preisverleihung in Wien darauf hingewiesen, dass es keinen einzigen konkreten Fall für die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Ungarn gebe.“

Váradi stellte in ihrer Replik die Ungarn-Kompetenz Kleinerts in Frage und weist den Inhalt seines Kommentars, wie auch den Tonfall, als „aggressiv und ignorant“ zurück:

http://diepresse.com/home/meinung/gastkommentar/720026/Aggressivitaet-Ignoranz-verblueffen

Es ist zwar nicht meine Aufgabe, darüber zu spekulieren, warum ein ehemaliger Balkan-Korrespondent einer deutschen Fernsehanstalt, der nach meinen Informationen kaum je über Ungarn berichtet hat, nun in einer so aggressiven und zugleich ignoranten Weise die Kritiker der Orbán-Regierung angreift. Es ist auch nicht meine Absicht, das Mediengesetz, dessen fragwürdige Bestimmungen das ungarische Verfassungsgericht dieser Tage verworfen hat, zu analysieren. Ich bin überzeugt, dass die Leser der „Presse“ über die Lage im Nachbarland vollauf informiert sind.“

Ob und warum zum Beispiel Maria Vasarhelyi gegen zwei „linke Kollegen“ (übrigens wegen frauenfeindlicher und beleidigender Adjektive) prozessiert, hat nichts zu tun mit ihren von der Jury anerkannten Leistungen als Publizistin und Kommunikationswissenschaftlerin.

Ob sie und ihr junger preisgekrönter Kollege, Daniel Pal Renyi, für linke oder rechte Zeitschriften schreiben, hat nichts zu tun mit dem Wahrheitsgehalt ihrer Enthüllungen über die Mediensituation oder Schlüsselfiguren an der Spitze der allmächtigen Kontrollorgane.“

Was mich als langjährige ungarische Rundfunkjournalistin verblüfft, ist die Tatsache, dass jemand, der selbst Journalist ist, eine so angesehene Institution wie „Reporter ohne Grenzen“ und die beiden Preisträger unvermittelt angreift. Dies geschieht in einem Stil und mit Adjektiven, die aus diversen Rechtfertigungs- und Berichtigungsbriefen ungarischer Botschafter (nicht zuletzt auch in Wien) und aus Kommentaren regierungsnaher Medien bekannt sind: „Es sind immer die gleichen durchsichtigen Phrasen, mit denen der Untergang der Demokratie beschworen wird…“ Zu dieser Taktik gehört auch die Methode, die Kritiker persönlich anzugreifen und zu diskreditieren.“

Übrigens: Erst in der vergangenen Woche hat die ungarische nationale Medienbehörde dem letzten freien Radiosender „Klubradio“ die Frequenz entzogen.“

Der von Kleinert erwähnte Freedom House Bericht (2011) ist hier abrufbar:

http://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=22&year=2011&country=8053

Mehr zur Diskussion um Klubrádió hier:

https://hungarianvoice.wordpress.com/2011/12/21/klubradio-erste-einzelheiten-der-ausschreibung-bekannt/

https://hungarianvoice.wordpress.com/2011/10/01/klubradio-die-mar-vom-anschlag-auf-einen-unabhangigen-sender/

Das Artikelrecycling der WELT – Alter Wein in neuen Schläuchen

Auf den Beitrag „Ungarns Marsch nach rechts“ von Paul Lendvai in der WELT vom 12.02.2011 wurde an dieser Stelle bereits hingewiesen. Der Autor kritisierte in seinem Artikel die aus seiner Sicht gegebene Untätigkeit der ungarischen Regierungspartei Fidesz gegenüber Rassismus und Antisemitismus:

https://hungarianvoice.wordpress.com/2011/02/12/paul-lendvai-kritisiert-ungarns-marsch-nach-rechts/ (mit Link zum WELT-Artikel)

Am 03.03.2011 dann die Überraschung. Beim Suchen in der WELT-Online entdecke ich einen (scheinbar) aktuellen Artikel von Paul Lendvai mit dem Titel „Holocaust-Verniedlichung – Das falsche Selbstbild der antisemitischen Ungarn“. Schon nach dem ersten Absatz kommt es mir vor, als hätte ich all das, was Lendvai den Lesern präsentiert, schon einmal zu Gesicht bekommen. Und siehe da: Es handelt sich um den identischen Artikel, der bereits einen knappen Monat zuvor unter „Ungarns Marsch nach rechts“ firmiert hatte.

http://www.welt.de/kultur/history/article12586045/Das-falsche-Selbstbild-der-antisemitischen-Ungarn.html

In der ersten Regierungsperiode des Viktor Orbán (1998-2002) hatte man sich wenigstens noch die Mühe gemacht, immer neue kritische Berichte und Essays über die Regierung zu verfassen, wenn es darum ging, (berechtigte oder auch unberechtigte) Kritik an der Regierung zu üben. Bestenfalls das Thema blieb, aber der Bericht wechselte. Seinerzeit traute man offenbar den Lesern der eigenen Zeitung zu, ein Thema schon bei der ersten Lektüre inhaltlich zu verfassen. Neuerdings werden auch die Berichte schlichtweg zweimal veröffentlicht, lediglich der Titel wird ausgetauscht – in diesem Fall verschärft von „Marsch nach rechts“ zu „Holocaust-Verniedlichung – Das falsche Selbstbild der antisemitischen Ungarn“. Um die Brisanz auch bildlich zum Ausdruck zu bringen, wird unter dem Titel sogar ein Bild von Adolf Hitler und dem Reichsverweser Miklós Horthy abgebildet. Und natürlich darf auch die seit Monaten beinahe jedem Ungarnbericht der WELT beigefügte Bilderserie „Ungarns mächtige Rechtspopulisten“ nicht fehlen, in der Politiker der rechtsradikalen Jobbik (Vona und Morvai) gemeinsam mit Viktor Orbán (Fidesz) und Zsolt Semjén (KDNP) abgebildet werden. Und auch der Parlamentsabgeordnete und Bürgermeister des kleinen Ortes Edelény, der unabhängige Oszkár Molnár, wird zum „mächtigen Rechtspopulisten“ hochstilisiert. Derart sauber recherchiertem Journalismus ist die WELT, wie wir spätestens seit dem Pamphlet „Führerstaat Ungarn“ wissen, verpflichtet. Jene „konservative“ WELT, die von linken Kritikern der Regierung nur allzu gerne als Beleg dafür genannt wird, dass die eigene Kritik zutreffend ist.

Über die Motive dieses Artikel-Recyclings kann man lange spekulieren. Da Druckerschwärze und sonstige Ressourcen nicht eingespart werden, scheint es der Drang zu sein, bestimmte Themen „am Köcheln zu halten“. Wenn es (nach Abflachen der Kritik um das Mediengesetz) schon nichts Aktuelles zu berichten hat, nehme man einfach ein Dauerthema und publiziere einen hierzu veröffentlichten Artikel unter neuem Titel ein zweites Mal. Dass man als Leser einer Tageszeitung möglicher Weise etwas anderes erwartet, spielt hierbei keine entscheidende Rolle.

Paul Lendvai kritisiert „Ungarns Marsch nach rechts“

Der ungarischstämmige österreichische Publizist Paul Lendvai hat in einem längeren Beitrag in der WELT die Entwicklungen in Ungarn kritisiert.

http://www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article12515720/Ungarns-Marsch-nach-rechts.html

Bereits in der Einleitung behauptet Lendvai, die Fidesz-Partei Orbáns habe „jahrelang nichts gegen Judenhass“ unternommen und verhalte sich auch jetzt passiv. Dass die Stärkung der rechtsradikalen Partei Jobbik gerade in der Zeit der sozialliberalen Koalition erfolgte und sich die Wähler dieser Strömung in der Gesellschaft nach überwiegender Auffassng gerade aus dem sozialistischen Lager rekrutieren, ist Lendvai – wie schon in der Vergangenheit – keiner Betonung wert. Ebenso wenig der Umstand, dass seit Antritt der Regierung Orbán Aufmärsche der rechtsradikalen „Ungarischen Garde“ nicht mehr zum alltäglichen Bild gehören und die Jobbik seit Mitte 2010 deutlich in der Wählergunst abgenommen hat.

Zutreffend ist Lendvais Analyse im Hinblick auf die „kollektive Amnesie“ Ungarns im Hinblick auf den 2. Weltkrieg und den Holocaust. Bis heute wird die eigene Geschichte verharmlost und die Verantwortung auf die Deutschen abgeschoben, obgleich es in Ungarn zahlreiche Profiteure und Kollaborateure Hitlerdeutschlands gab. Diese kollektive Amnesie, die schon kurz nach dem 2. Weltkrieg begann und darauf aus war, das „Volk“ zu entlasten und Feindbilder anderswo zu suchen, wurde jedoch gerade im Kommunismus gepflegt. Gemeinsam mit einer betont propagandistischen Sichtweise auf das autoritäre Horthy-System („Horthy-Faschismus“) bildete gerade diese Phase in der ungarischen Geschichte die Grundlage des bis heute vorherrschenden „kollektiven Vergessens“.

Darüber hinaus vergisst Lendvai, dass es dieses „Vergessen“ nicht nur im Hinblick auf die Holocaust-Opfer gibt. Teile der ungarischen Gesellschaft (insbesondere linke Kreise) kritisieren etwa bis heute, dass den Opfern des Kommunismus mit der Erweiterung des „Holocaustleugnungsparagraphen“ auf die Verbrechen des Kommunismus ein ebenbürtiger Schutz vor Verharmlosung und Verleumdung gewährt wurde. So wurde im liberalen Klubrádió die These vertreten, eine Erweiterung des Paragraphen sei inakzeptabel, denn anders als Juden hätten die Opfer des Kommunismus ja die Wahl gehabt, sich der Bewegung anzuschließen. Somit sei jeder, der Opfer des Kommunismus wurde, in gewisser Weise selbst dafür verantwortlich. Dass durch die Strafbarkeit beider Tatbestände gar keine Gleichsetzung erfolgt, sondern nur ebenbürtiger Schutz der Opfer gewährt wird, wird dabei fast routinemäßig verschwiegen.

Die Analyse Lendvais ist in vielen Punkten korrekt (vor allem im Hinblick auf das unsägliche Schweigen des Fidesz zu den antisemitischen Auswürfen des Fidesz-nahen Publizisten Zsolt Bayer), jedoch – wie gewohnt – lückenhaft und sehr einseitig. Die Botschaft ist klar: Verantwortlich für Judenhass muss Fidesz sein. Es werden nur wenige Tage vergehen, bis im liberalen TV-Sender ATV die Aussagen Lendvais unter der Einleitung „die konservative WELT schrieb…“ multipliziert werden wird.

Immerhin verkündet Lendvai ganz offen, dass auch er diejenigen, die heute in Ungarn das Sagen haben („regieren“?), als „Gesindel“ betrachtet („Wie Schiff treffend formulierte, sei es das große Glück des Gesindels, das derzeit das Sagen hat, dass nur wenige Beobachter in Europa ungarisch verstehen.“). Über die Motive des einen oder anderen Beitrags dürfte somit ab heute kein Zweifel mehr bestehen.

Als Ausgleich sei der Beitrag von Andreas Oplatka empfohlen.

Lendvai-Interview auf „20 Minuten Online“

Das Schweizer Portal 20min.ch hat bereits am 21.12.2010 ein Interview mit dem Publizisten Paul Lendvai veröffentlicht:

http://www.20min.ch/news/ausland/story/-Sie-werden-mich-nicht-zensieren–27914543

Weitere Lendvai-Interviews druckt die Märkische Allgemeine, die Süddeutsche Zeitung und die TAZ ab.

Interview mit Paul Lendvai zum neuen ungarischen Mediengesetz

Auf der Internetseite des Deutschlandradio ist ein aktuelles Interview mit dem ungarischstämmigen Publizisten Paul Lendvai abrufbar.

Lendvai berichtet dem Sender seine Auffassung zum neuen Mediengesetz. Inhaltlich identische Artikel erschienen heute in der ZEIT, in Neues Deutschland, der Süddeutschen Online, der Jungen Welt und anderen deutschsprachigen Medien.

Die Junge Welt konstatiert – ohne Belege – neben ihrer Kritik an den Entwicklungen in Ungarn, dass überall im Westen ein „schleichender Demokratieverfall“ stattfinde.

168 óra veröffentlicht Beitrag eines ehemaligen Mitarbeiters des „Radio Free Europe“ zum Thema Lendvai

Die liberale Wochenzeitschrift 168 óra (168 Stunden) veröffentlichte am 10.12.2010 einen Gastbeitrag von László Kasza, Autor des Buches „Mókusok az angolkertben – Ügynökök a Szabad Európánál“ („Eichhörnchen im Englischen Garten – Agenten beim Sender Freies Europa„). In seinem Buch berichtet Kasza von den (erfolgreichen) Versuchen der ungarischen Staatssicherheit, Agenten in die Organisation des Senders Freies Europa in München einzubauen. In dem Buch geht es insbesondere um das von Seiten der Staatssicherheit kultivierte Feindbild und die zum Teil hanebüchenen und frei erfundenen Berichte der „eingebauten“ Agenten.

Hungarian Voice gibt den Beitrag in deutscher Übersetzung wieder:

Lendvai und die Staatssicherheit

Also auch Lendvai! – dachte ich mir, als ich zum ersten Mal von den in der Heti Válasz veröffentlichten Dokumenten hörte. Ich war nicht überrascht. Nach dreijähriger Recherche in Archiven, die zum Beispiel zu Tage förderte, dass einer meiner Kollegen, mit dem ich über zwanzig Jahre hinweg täglich in der Kantine des Radio Freies Europa zu Mittag gegessen hatte,ein Agent der Staatssicherheit war, ist man nur noch schwer zu überraschen.

Aber es steht außer Zweifel, ich war von Lendvai enttäuscht. Danach habe ich den Artikel gelesen. Die veröffentlichten Dokumente milderten die Enttäuschung, hinterließen aber auch gemischte Gefühle. Zum einen handelt es sich nicht um Agentenberichte. Die Berichte der Ungarischen Botschaft in Wien sind Zusammenfassungen ihrer Mitarbeiter von Gesprächen mit Lendvai. Auf der anderen Seite jedoch – folgt man den Dokumenten – soll Lendvai während dieser Gespräche vertrauliche Informationen an die Mitarbeiter der Botschaft weitergegeben haben. Wenn das zuträfe, könnte Lendvai zu Recht in den Verdacht der Kooperation mit dem kommunistischen System geraten.

Sehen wir uns die Dokumente an. Unter den von Heti Válasz veröffentlichten Berichten befinden sich lächerliche, die bedeutungslose Dinge als Sensation darzustellen versuchen. Aber es sind auch solche darunter, die man ernst nehmen muss. Zu den erstgenannten gehört, dass Lendvai den Botschaftsangestellten das Programm des Europäischen Kuluturellen Forums und dessen Teilnehmerliste übergab. Dieses Treffen wurde von der Internationalen Menschenrechtskommission organisiert. Ihr Programm und die Liste der Redner – neben bekannten ausländischen Andersdenkenden auch der Ungar György Konrád – erschien in einer für jedermann zugänglichen Weise, auch in gedruckter Form. Man verbreitete es in ganz Westeuropa. Nur eigentümlich denkende Hirne des Innenressorts konnten dies als geheime Information bezeichnen. Der Berichteschreiber aus der Wiener Botschaft hatte so ein Hirn. In seinem geheimnisvollen Telegramm fragte er die Zentrale am Bem-Platz: „Bis wann soll ich den Wagen“ mit den wichtigen, geheimen Dokumenten „nach Hegyeshalom senden“, damit man die Dokumente rechtzeitig erhalte?

Aber natürlich gibt es unter den Dokumenten auch solche Berichte, die, wenn sie der Wahrheit entsprächen, Belege dafür liefern, dass Lendvai  die auch von ihm anerkannten ethischen Normen des Journalismus verletzte. Den Berichten der Wiener Botschaft zufolge habe er in den unter seinem Einfluss stehenden österreichischen Medien (Fernsehen, Radio, Zeitungen) entweder solche Nachrichten verbreitet, die den Interessen der damaligen ungarischen Diplomatie entsprachen, oder er wirkte darauf hin, dass Berichte, die das Kádár-System in einem ungünstigen Lichte erscheinen ließen, nicht veröffentlicht wurden. Dem Inhalt der Dokumente zufolge habe er zum Beispiel verhindert, dass  „Wiener Zeitungen die Nachricht über die verweigerte Einreise eines Kollegen lancierten“, weil dies das in Ungarn herrschende System in Österreich in schlechtem Licht hätte erscheinen lassen. Er kümmerte sich auch darum, dass die tschechoslowakischen Oppositionellen im ORF nicht zu Wort kamen. Und er versprach, dass ein zum Jahrestag der 1956-Revolution gefertigter Bericht „einen Tonfall traf“, der auch für das ungarische System „akzeptabel“ war.

Die Frage ist, ob die Botschaft von den Gesprächen mit Lendvai das berichtete, was tatsächlich gesprochen wurde. Während meiner dreijährigen Recherche im Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste musste ich lernen, dass man die aus dem Ausland stammenden Berichte von Agenten oder Botschaftsmitarbeitern kritisch lesen muss. Unter ihnen befinden sich neben solchen, die Wahres berichten, auch solche, die von den in den Botschaften untergebrachten Agenten und Mitarbeiter frei erfunden oder aufgebauscht wurden. Einfachste Dinge wurden zu „Senstationen“ gemacht, von denen man glaubte, dass die vorgesetzten Stellen sie hören wollten. Damit wollte man seine eigene Wichtigkeit, die eigene sowie die Existenzberechtigung seiner Einrichtung unter Beweis stellen. Ich traf sogar auf solche „Berichte“, die ohne jeden Zweifel in der „Zentrale“ (Außenministerium, Staatssicherheit) selbst verfasst worden waren. Zum Beispiel hätte kein einziger im Radio Free Europe „eingebauter“ und mit den örtlichen Begebenheiten vertrauter Agent darüber berichten können, dass das „Gebäude mit dreifachem Elektrozaun umgeben war“. Dies wurde vielmehr in der Zentrale erfunden, um es den obersten Leitern auf den Schreibtisch zu legen. Deren Entscheidungen wurden sodann von diesen falschen Berichten beeinflusst.

Wir wissen, dass die Staatssicherheit das Außenministerium regelmäßig als Tarnorganisation verwendete. Ein wesentlicher Teil der Mitarbeiter der Botschaften und Konsulate waren haupamtlich Agenten der Staatssicherheit. Sie waren nicht mit diplomatischen, sondern mit nachrichtendienstlichen Aufgaben betraut. In ihre Dienstzimmer durfte nicht einmal der Botschafter ohne ihre Genehmigung eintreten, es sei denn, er gehörte zur „Firma“. In einigen Botschaften waren mehr Agenten beschäftigt, als echte Diplomaten. (im Wortgebrauch des Außenministeriums: „Barfüßler“.)

Die ausländischen Journalisten mussten mit diesen Botschaftsangehörigen kooperieren. Es hing in erster Linie von ihnen ab, ob sie eine Einreise- oder Drehgenehmigung bekamen. Im Laufe der Jahre traf ich viele nach Ungarn reisende Kollegen. Vor ihrer Reise suchten einige unter ihnen das Radio Free Europe auf, um Informationen über die Lage in Ungarn zu erhalten. Nach ihrer Rückkehr berichteten sie über ihre eigenen Erfahrungen. Sie alle hatten erlebt, dass sie in den westeuropäischen Botschaften der Volksrepublik Ungarn in blumiger Sprache darauf hingewiesen wurden, welche Berichte ihrer Ansicht nach die „Interessen der gastgebenden Volksrepublik Ungarn verletzen würden.“ Es wurde stets darauf hingewiesen, dass man Kontakte zur demokratischen Opposition meiden sollte. Wer diese Vorgaben verletzte, konnte sich mehrere Jahre lang von seinem Einreisevisum verabschieden.

Die Situation Paul Lendvais war unter mehreren Gesichtspunkten anders. Er sprach ungarisch. Er kannte die innenpolitische Lage Ungarns. Er war Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen österreichischen Rundfunks. Als solcher musste er stets die jeweiligen Interessen der österreichischen Außenpolitik beachten.

Diese wiederum bauten auf friedliche Koexistenz. Auf der Ansicht, dass die Welt noch einige Zeit geteilt sein würde. Hier die sowjetische Diktatur, dort die westliche Demokratie. Die Politik, die Presse und die öffentliche Meinung im Westen freundete sich mit dieser Art von Ausgleich an. Für sie war es wichtig, dass ihr Frieden nicht von Gegensätzen über den Eisernen Vorhang hinweg gestört wurde. Sie fürchteten ihre Ruhe, ihren Frieden. Dass der hierfür zu zahlende Preis die Versklavung der Völker auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs war, nahmen sie als notwendiges Übel in Kauf. Gegenüber den Ungarn herrschte eine Auffassung vor, die einem den Magen umdreht: „Wie schön für Euch, Ihr seid die lustigste Baracke. Ihr dürft sogar alle drei Jahre verreisen.” Die Mitglieder der demokratischen Opposition könnten den liberalen und konservativen Kreisen im Westen von dieser entwürdigenden Behandlung umfassend berichten.

Lendvais Lieblingsmethode: Die Gegenüberstellung des Kádár-Systems mit den Diktaturen von Ceaucescu, Husák, Honecker. Er tat es berechtigt. Das ungarische System war tatsächlich erträglicher. Die Staatssicherheit erkannte wiederum, dass dem Kádár-System diese Art von Berichten dienten, und zwar im Hinblick auf die westliche Politik, die öffentliche Meinung und die Gewährung weiterer Kredite in Dollar-Millionenhöhe. In Ungarn waren die österreichischen Sendungen à la Lendvai – aus sprachlichen Gründen und wegen des fehlenden Zugangs – wirkungslos Sie wurden dort nur über das Radio Freies Europa bekannt. Nach der Wende eröffnete mir ein Mitglied des Politbüros zynisch: „Es war eine ideale Lösung: Die Menschen hörten von Euch, wie gut es ihnen hier ging. Durch Euch konnten wir uns die Übersetzungskosten sparen.”

Ich glaube, dass die rational denkende Wiener Gesandtschaft des Kádár-Systems Lendvai aus diesem Grund Zugeständnisse machte. Aus den in der Heti Válasz veröffentlichten Dokumenten geht nicht hervor, was der österreichische Journalist für diese Zugeständnisse „zahlte“, oder ob er – über die Möglichkeit der Berichterstattung aus Ungarn hinaus – überhaupt etwas dafür bezahlte. Und so lange aufgrund der Geheimhaltung der Originaldokumente es nicht eindeutig bewiesen wird, können wir die Argumentation der Heti Válasz vom „Doppelleben“ Paul Lendvais nicht als streitentscheidend ansehen. Ceterum censeo: die unnötig unter Verschluss befindlichen Geheimdienstdokumente sollten veröffentlicht werden. Bis zu diesem Zeitpunkt sollten wir uns – obwohl es bei uns nicht Mode ist, sich auf das Recht zu berufen – an den Grundsatz des römischen Rechts halten: „In dubio pro reo.” Im Zweifel für den Angeklagten…“

Auch Sicht von Hungarian Voice ein lesenswerter Kommentar, der zweierlei Dinge richtig betont. Der Fall Lendvai ist keineswegs entschieden, die Dokumente der Heti Válasz kann man unterschiedlich deuten. Jedoch muss es – hierfür hat dieser Blog plädiert – möglich sein, über den Fall zu sprechen und darüber zu berichten, ohne dass dies als „Sudelkampagne“ oder „Rufmord an einem Orbán-Kritiker“ diffamiert wird. Kasza hat aus Sicht von Hungarian Voice den richtigen Tofall getroffen, auch wenn er im Hinblick auf die Weitergabe von Informationen über das Treffen oppositioneller Schriftsteller eine andere Meinung vertritt als einer der Betroffenen, György Konrád. Dieser sagte, wenn Lendvai wirklich das Programm weitergegeben hätte, wäre das „sehr traurig“.

Die Diskussion dürfte fortgesetzt werden, eine Antwort auf die Fragen um Lendvai und andere wird aber nur möglich sein, wenn – endlich – die Geheimdienstarchive geöffnet werden. Lendvais inhaltliche Thesen in seinem neuen Buch werden durch diese Diskussion nicht berührt, es stellt sich höchstens die Frage, ob er noch als „moralische Instanz“ geeignet ist, wenn sich die Vorwürfe der Kollaboration mit einer Diktatur erhärten.

Kaszas Buch, das bislang nur in ungarischer Sprache erschienen ist, muss als lesenswert bezeichnet werden, auch wenn es sich zum Teil sehr stark auf die Wiedergabe von Details beschränkt. Der Leser hat letztlich schon nach 1/3 der Lektüre den Überblick gewonnen.