Die Propaganda geht weiter: Schließt Ungarn die Tür zum Verfassungsgericht?

Wie bereits Südostschweiz.ch, greift auch die österreichische Tageszeitung „Die Presse“ den in der vergangenen Woche beschlossenen Wegfall der sog. „Popularklage“ zum ungarischen Verfassungsgericht auf. Leider geschieht dies abermals in verkürzender und irreführender Art und Weise. Der weniger informierte Leser bekommt den Eindruck vermittelt, es gehe darum, Betroffenen den Rechtsschutz zum Verfassungsgericht zu erschweren.

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/708963/Ungarn-schliesst-Tuer-zum-Verfassungsgericht?from=suche.intern.portal

Wir halten fest: Die Popularklage ist ein Instrument, mit dem jedermann ein Gesetz zu Fall bringen kann, wenn er es für verfassungswidrig hält. Er muss nicht von dem angegriffenen Gesetz in seinen Grundrechten betroffen sein.Man könnte davon sprechen, dass mit er Popularklage jedermann zum „Verfassungspolizisten“ werden kann.

Diesen Wegfall der „actio popularis“ befürworten Fachleute seit längerem, selbst der Präsident des Verfassungsgerichts, Péter Paczolay, hatte gefordert, das Instrument der Popularklage durch eine Individualverfassungsbeschwerde zu ersetzen.

Leider fehlt in dem Beitrag jedweder Hinweis darauf, dass durch die neue Verfassung eine Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsurteile neu eingeführt wird (bislang gab es die Verfassungsbschwerde nur gegen Gesetze). Der Individualrechtsschutz wird also – sieht man von der zu Recht kritisierten BEschränkung der Prüfungsbefugnis des Gerichtsbei Haushaltsgesetzen ab – institutionell gestärkt, nicht etwa geschwächt.

Wer es nicht glaubt, der möge den Art. 24 des neuen Grundgesetzes lesen:

„(1) Das Verfassungsgericht ist das oberste Organ zum Schutz des Grundgesetzes.

(2) Das Verfassungsgericht

a) überprüft beschlossene, aber nicht kundgemachte Gesetze auf ihre Konformität mit dem Grundgesetz;

b) überprüft auf gerichtlichen Antrag die grundgesetzkonforme Anwendung von auf einen Einzelfall anzuwendenden Rechtsnormen;

c) überprüft auf Grundlage einer Verfassungsbeschwerde die grundgesetzkonforme Anwendung von auf einen Einzelfall anzuwendenden Rechtsnormen;

d) überprüft auf Grundlage einer Verfassungsbeschwerde die Konformität von Gerichtsentscheidungen mit dem Grundgesetz;

e) überprüft auf Antrag der Regierung, eines Viertels der Parlamentsabgeordneten oder des Grundrechtskommissars die Gesetze auf ihre Konformität mit dem Grundgesetz;

f) überprüft die Konformität von Rechtsnormen mit völkerrechtlichen Verträgen;

g) übt aufgrund der Bestimmungen des Grundgesetzes beziehungsweise eines Gesetzes im Verfassungsrang seinen weiteren Aufgaben- und Wirkungsbereich aus.

(3) Das Verfassungsgericht

a) vernichtet innerhalb seines Wirkungsbereiches gemäß Absatz (2) lit b), c), und e) Rechtsnormen oder rechtsnormative Verfügungen, welche das Grundgesetz verletzen;

b) vernichtet innerhalb seines Wirkungsbereiches gemäß Absatz (2) lit d) die Gerichtsentscheidung, welche das Grundgesetz verletzt;

c) vernichtet innerhalb seines Wirkungsbereiches gemäß Absatz (2) lit f) Rechtsnormen oder rechtsnormative Verfügungen, welche völkerrechtliche Verträge verletzen;

beziehungsweise stellt Rechtsfolgen fest, die in einem Gesetz in Verfassungsrang bestimmt sind.

(4) Das Verfassungsgericht besteht aus fünfzehn Mitgliedern, dessen Mitglieder vom Parlament mit den Stimmen von Zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten für zwölf Jahre gewählt werden. Das Parlament wählt mit den Stimmen von Zwei Dritteln der Parlamentsabgeordneten den Präsidenten aus den Mitgliedern des Verfassungsgerichts; das Mandat des Präsidenten hält bis zum Ende seiner Amtszeit als Verfassungsrichter an. Mitglieder des Verfassungsgerichts dürfen keine Parteimitglieder sein und dürfen keine politischen Tätigkeiten ausüben.

(5) Ein Gesetz im Verfassungsrang legt die einzelnen Bestimmungen des Verfassungsgerichts zu seinem Wirkungsbereich, zu seiner Organisation, zu seinem Betrieb fest.“

Wer aufmerksam liest, wird die für den Individualrechtsschutz bedeutsame konkrete Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde gegen Gerichtsentscheidungen finden; letztgenannte bringt Rechtsschutz auch gegen Verwaltungshandeln. Hinzu kommt eine sog. „präventive Normenkontrolle“ , die beschlossene, aber noch nicht verkündet Gesetze einer Überprüfung durch das Gericht unterwirft.

Erwähnenswert: In Österreich gab es das Instrument der Popularklage nie. Die Tür, die nun also vermeintlich „geschlossen wird“, wurde in Österreich nie geöffnet.

Hungarian Voice liegen mehrere Beschwerden österreichischer Rechtskundiger an den Chefredakteur der Presse vor (unter anderem der Brief einer Menschenrechtsanwältin aus Wien), in der die Rechtslage in vorbildlicher Weise geschildert wird. Der Aufforderung, die Berichterstattung zu korrigieren, kam Die Presse aber leider nicht nach. Bad news sell.

Südostschweiz.ch kritisiert Wegfall der Popularklage

„In Ungarn darf ab 2012 nicht mehr jeder Bürger gegen ein Gesetz vor dem Verfassungsgericht klagen. Das beschloss das ungarische Parlament am Montagabend auf Antrag der regierenden rechtsnationalen Partei FIDESZ.“

So berichtet suedostschweiz.ch und titelt: „Rechte der Ungaren weiter eingeschränkt“ .

Der Hintergrund: Nach der bisherigen Rechtslage durfte jeder Bürger im Wege der sog. Popularklage Gesetze vor dem Verfassungsgericht auf Verfassungskonformität überprüfen lassen und zu Fall bringe. Ein Mittel, das in der Wendezeit geeignet war, den Ballast verfassungswidriger Gesetze auszugraben und möglichst schnell außer Kraft zu setzen. In jüngerer Zeit jedoch hat die Popularklage zu einer enormen Belastung des Verfassungsgerichts geführt. Juristen befürworten aus diesem Grund den Wegfall der Popularklage und betonen, es sei ausreichend, wenn ein konkret Betroffener gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt vorgehen könne.