Verfassungsgericht hebt zahlreiche Übergangsbestimmungen zum neuen Grundgesetz auf

Das Ungarische Verfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom heutigen Tage zahlreiche „Übergangsbestimmungen“ zum neuen Grundgesetz für grundgesetzwidrig und nichtig erklärt.

Der Entscheidungstenor:

Az Alkotmánybíróság megállapítja, hogy Magyarország Alaptörvénye átmeneti rendelkezéseinek (2011. december 31.) a kommunista diktatúrából a demokráciába való átmenetről szóló része (preambuluma), 1-4. cikke, 11. cikk (3) és (4) bekezdése, 12., 13., 18., 21., 22. cikkei, 23. cikk (1) és (3)-(5) bekezdései, 27. cikke, 28. cikk (3) bekezdése, 29. cikke, 31. cikk (2) bekezdése valamint 32. cikke alaptörvény-ellenes, ezért azokat a kihirdetésükre visszamenőleges hatállyal, 2011. december 31-ével, illetve a 23. cikk (3)-(5) bekezdését 2012. november 9-ével megsemmisíti.

Das Verfassungsgericht stellt fest, dass die in den Übergangsbestimmungen zu Ungarns Grundgesetz enthaltenen Teile betreffend den Übergang von der Kommunistischen Diktatur in die Demokratie (Präambel), sowie Artikel 1-4, Artikel 11 Abs. 3 und 4, die Artikel 12, 13, 18, 21 und 22, Artikel 23 Abs. 1 und Abs. 3-5, Artikel 27, Artikel 28 Abs. 3, Artikel 29, Artikel 31 Abs. 2 und Art. 32 grundgesetzwidrig sind, weshalb sie rückwirkend ab dem Zeitpunkt ihrer Verkündung, d.h. dem 31. Dezember 2011, der Artikel 23 Abs. 3-5 mit Rückwirkung ab dem 9. November 2012 für nichtig erklärt werden.

http://mkab.hu/download.php?h=369

Zur Pressemitteilung: http://mkab.hu/sajto/kozlemenyek/az-alkotmanybirosag-kozlemenye-az-alaptorveny-atmeneti-rendelkezeseinek-vizsgalatarol

Zu den annullierten Vorschriften gehören: Regelungen zur Kürzung der Rente kommunistischer Funktionäre, zur Unverjährbarkeit kommunistischer Verbrechen, die Möglichkeit einer Verlagerung laufender Rechtsstreitigkeiten auf ein anderes Gericht, Vorschriften zur Verrentung von Richtern und Staatsanwälten sowie zum Verfahren der Wählerregistrierung.

Die Entscheidung erging auf Beschwerde des Kommissars für Grundrechte. Das Gericht begründet den außergewöhnlich rechtsdogmatisch gehaltenen 82-seitigen Beschluss im Wesentlichen damit, dass der Gesetzgeber seine Kompetenzen überschritten habe, indem er Regelungen, die inhaltlich keine „Übergangsbestimmungen“ darstellen, in diese aufgenommen habe. Dies verstoße gegen Regelungen des Grundgesetzes.

Das juristisch Bahnbrechende an der Entscheidung ist, dass das Gericht den Beschwerdeantrag mehrheitlich als zulässig angesehen hat, obwohl es damit letztlich Recht mit Verfassungsrang für verfassungswidrig erklärt hat.

Nach ungarischem Recht steht dem Gremium keine Kontrolle von Verfassungsrecht zu; anders als etwa dem deutschen Bundesverfassungsgericht, das in gewissem Rahmen auch „verfassungswidriges Verfassungsrecht“, etwa bei Verfassungsänderungen, für nichtig erklären kann. Über diesen bislang kaum in Frage gestellten Grundsatz hat sich das Verfassungsgericht nunmehr hinweggesetzt und die Tür zu einer neuen Linie in der Entscheidungspraxis einen Spalt breit geöffnet: Das Ergebnis könnte sein, dass Regelungen trotz „verfassungsrechtlicher Absicherung“ durch die parlamentarische 2/3-Mehrheit des Fidesz durch das Gericht künftig einer genauen Prüfung unterzogen werden.

Nach Auffassung des Verfassungsgerichts habe der Gesetzgeber vorliegend seine Kompetenzen überschritten, die Nichtigkeit folge aus der Verletzung von formellen Rechtsvorschriften. Eine materiellrechtliche, d.h. inhaltliche, Prüfung erfolgte nicht.

Ein Großteil der Presse legt den Schwerpunkt der Entscheidung auf die Annullierung gewisser Regelungen zum Verfahren der Wählerregistrierung (Art. 23 Abs. 3-5 der Übergangsbestimmungen). Eine Entscheidung, ob die Wählerregstrierung per se grundgesetzwidrig ist, fiel aber noch nicht. Allerdings ist derzeit ein weiteres Normenkontrollverfahren, initiiert durch Staatspräsident János Áder, anhängig: Hier wird es zu einer detaillierten inhaltlichen Prüfung der Wahlordnung kommen.

Wie immer bei nicht einstimmigen Entscheidungen des Gremiums ist interessant, welche Richter die Entscheidung mittrugen und wer ein abweichendes Sondervotum abgab. Hier das Ergebnis:

Für die Entscheidung votierten:

– Péter Paczolay
– Elemér Balogh
– Mihály Bihari
– András Bragyova
– András Holló (mit parallelem Sondervotum)
– László Kiss
– Péter Kovács
– Miklós Lévay
– Béla Pokol
– István Stumpf (mit parallelem Sondervotum)

Gegenstimmen:

– István Balsai
– Egon Dienes-Oehm
– Barnabás Lekonvics
– Péter Szalay
– Mária Szívós

Die Gegenstimmen kamen, mit Ausnahme von Lenkovics (er war im Jahr 2007 auf Vorschlag der damaligen Opposition vom Parlament zum Verfassungsrichter gewählt worden), aus den Reihen der im Jahr 2011 von Fidesz im Rahmen der Erweiterung des Gerichts nachbenannten Mitglieder. Interessant: Die Verfassungsrichter Stumpf und Pokol, ebenfalls von der Fidesz-Mehrheit im Parlament in den Jahren 2010 und 2011 in das Gremium berufen, schlossen sich der Mehrheitsentscheidung an.

Die Gegenstimmen rügten allesamt die Unzulässigkeit des Antrages, weil das Gericht kein Verfassungsrecht auf Verfassungsmäßigkeit prüfen dürfe.

Die Regierungspartei Fidesz reagierte prompt: Man werde die entsprechenden Regelungen aus den Übergangsbestimmungen herausnehmen und in das Grundgesetz implementieren. Über den Inhalt der aufgehobenen Bestimmungen „bestehe kein Streit“:

http://www.fidesz.hu/index.php?Cikk=187665 (Pressekonferenz von Antal Rogán und József Szájer)

Weiterführend:

http://index.hu/belfold/2012/12/28/ab_alkotmanyellenes_a_regisztracio/

http://nol.hu/belfold/ombudsman_az_ab-dontesrol__mukodik

http://mno.hu/belfold/formai-okokbol-megsemmisitette-az-atmeneti-rendelkezeseket-az-ab-1127412

http://magyarhirlap.hu/fidesz-a-rendelkezesek-tartalmarol-nincs-vita