Holocaust-Gedenkjahr: Ágnes Heller spricht von „Leichenfledderei“

Die ungarische Philosophin Ágnes Heller beginnt das (ungarische Wahl-) Jahr 2014 mit einem wuchtigen Zwischenruf.

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Aus Anlass des Gedenkjahres an die ungarischen Opfer des Holocaust findet sie in der Jüdischen Allgemeinen Worte, die einen an den Neujahrsgruß des Pianisten András Schiff zum Anlass der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Ungarn im Jahr 2011 erinnern – der hatte es seinerzeit allerdings noch in die Washington Post geschafft.

Heller findet, dass Ungarns Ministerpräsident „in autokratischer Manier“ die Medien des Landes kontrolliere, „Hass auf Minderheiten schürt“ und „zunehmend die Gewaltenteilung abschafft“. „Offen und unverschämt“ flirteten er und Fidesz „mit den Judenhassern von Jobbik“. Die wenig klandestine Botschaft dürfte jeder Leser sofort verstanden haben: Orbán muss – wenigstens ein verkappter – Antisemit sein, etwas, was Heller an anderer Stelle, insbesondere in Ungarn, immer wieder verneint hat. Aber im Wahljahr scheinen viele Mittel Recht.

Nach Hellers Auffassung habe Orbán „dieser schlimmen Geschichte“ nun ein Kapitel hinzugefügt, das an „Zynismus nicht zu überbieten“ sei. Und was ist es, was diese Einordnung verdient? Wahrhaft empörendes, inakzeptables ist geschehen: Orbáns Regierung hat tatsächlich gewagt, heuer, wenn sich die Ermordung der ungarischen Juden in den Konzentrationslagern der Nazis, die erst durch tatkräftige Unterstützung ungarischer Behörden, der Staatsbahn und Teilen der Bevölkerung möglich wurde, zum 70. Male jährt, dieses Grauens zu gedenken. Wohlgemerkt mit einem Schwerpunkt in der Wissensvermittlung in den Schulen.

Dass die Orbán-Gegner dieses Bemühen postwendend mit Skepsis aufnahmen, wäre in Anbetracht der Widersprüchlichkeit der Politik der Regierung in Bezug auf die historische Aufarbeitung und eine oft unklare bis diskussionswürdige Haltung im Bezug auf die Lage der Minderheiten und die gegen sie gerichteten Ausgrenzungstendenzen in Teilen der ungarischen Gesellschaft noch verständlich. Wer um die Stimmen auch des rechten Randes buhlt, scheint natürlich nicht a priori für diese Arbeit prädestiniert. Es gilt eben abzuwarten, welche Zeichen die Regierung setzt.

Was jedoch überrascht, ist die hektische Eile, in der Heller und andere Regierungsgegner versuchen, die geplanten Aktivitäten der Regierung zu diffamieren, bevor sie überhaupt sichtbar werden. Sie sind nicht bereit, die Veranstaltungen und die dort zu Tage tretenden Botschaften abzuwarten und dann einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Nein: Sie drehen sich angewidert weg, geben der Regierung keine Chance. Die ehemalige Marxistin Heller, deren Standing als ungarische Stimme im Ausland ungleich größer zu sein scheint als ihr Gewicht in Ungarn, findet freilich noch passende Worte der Empörung für das deutschsprachige Publikum. Wie zuvor in einer – im negativen Sinne – denkwürdigen Veranstaltung bei den europäischen Grünen, bei der Hellers Erinnerungsfähigkeit und Redlichkeit im Bezug auf die Polizeigewalt gegen Demonstranten im Jahr 2006 („auf niemanden wurde geschossen, niemand wurde gequält“) auf die Probe gestellt wurde..und durchfiel. Oder einem ebenso denkwürdigen Interview für das schwedische Fernsehen Ende 2013, in dem die Regierung zum unzähligsten Mal in die Nähe einer Diktatur gerückt wurde.

Dass Heller ihre aktive Teilnahme am Wahlkampf – die ihr gutes Recht ist – mit der Behauptung eröffnet, die Regierung Orbán übe sich in Zynismus, mehr noch: sie betreibe gar „Leichenfledderei“ an den jüdischen Opfern der Schoa, ist nicht nur selten geschmacklos, sondern ein erschreckendes Menetekel dessen, was bis zu den Parlamentswahlen (voraussichtlich) im April 2014 zu erwarten ist. Dass der Begriff den Tiefpunkt dessen darstellen dürfte, was die nicht gerade kritikscheue Heller in der politischen Auseinandersetzung bislang von sich gab, belegt wohl nicht nur ehrliche Sorge um die ungarische Demokratie, sondern insbesondere ein erhebliches Ausmaß persönlicher Antipathie und den Willen, zu Gunsten einer schwächelnden Opposition, der es vor allem an wählbaren Alternativangeboten fehlt, in das Geschehen einzugreifen. Natürlich können weder ihre Stimme, noch die Zeilen des György Konrád oder die Klavierklänge von András Schiff das Fehlen von politischen Inhalten vergessen machen. Alle drei kämpfen für das große Nichts, etwas, das die Wähler ausweislich aktueller Umfragen durchaus begriffen haben. Die Regierung führt weit gegenüber einer in sich gespaltenen Opposition. Und mit der (überspitzt gesagt) Faschismuskeule lassen sich 2014 keine Wahlen mehr gewinnen, insbesondere dann nicht, wenn sie sich fortwährend gegen Fidesz, und nicht den insoweit richtigen Gegner Jobbik richtet.

Wofür Heller eintritt, erfahren die wenigsten. Sie definiert sich augenscheinlich mehr und mehr über die Ablehnung Orbáns (dessen Regierung ihr persönlich diese Haltung auch nicht schwer gemacht hat), eine Eigenschaft, die in der gesamten Linksopposition tief verwurzelt ist. Ob das, über den Umweg ausländischer Publikationen, die Wahlen entscheiden wird? Zweifel sind berechtigt. Aber warten wir ab.

Eines sollte bei den starken Worten Hellers nicht vergessen werden: Es war die erste Regierung Orbán, die im Jahr 2000 den ungarischen Holocaust-Gedenktag einführte. Und es war der stellvertretende Ministerpräsident Tibor Navracsics, der im Herbst 2013 erstmals im Namen einer ungarischen Regierung die aktive Rolle und Mitverantwortung des Landes, seiner Institutionen und Bürger an der Ermordung der ungarischen Juden einräumte – etwas, was die Gegner der In Ungarn weit verbreiteten Geschichtsklitterung im Bezug auf den Reichsverweser und Hitler-Verbündeten Miklós Horthy schon lange forderten, aber dann mit keinem Wort der Anerkennung quittierten. Das Wallenberg-Gedenkjahr diente ebenfalls zur Kritik, weniger zum Lob, warum auch immer – sogar der ehemalige Außenminister Géza Jeszenzsky bekam das zu spüren. Und es gibt weitere positive Zeichen, etwa im Bereich der Entschädigung. Man kann also, trotz aller berechtigter Kritik an der Regierung Orbán und ihrer oft widersprüchlichen, ja auch falschen Signale im Bezug auf die historische Aufarbeitung, mit Fug und Recht behaupten, dass sie (unter Einbeziehung der Jahre 1998-2002) mehr Zeichen des Gedenkens in Richtung der ungarischen Holocaustopfer gesetzt hat, als jede andere Regierung seit 1949, sei sie auch noch so „antifaschistisch“ geprägt gewesen. Diejenigen, die das Monopol glaubwürdiger Abkehr von rechtsradikalem Gedankengut für sich beanspruchen, zeigen sich in Regierungsverantwortung seit je her vornehm zurückhaltend, und haben hierbei die überraschende Zustimmung der Ágnes Heller.

Sie, die zwar kritisiert, dass Fidesz ihrer Ansicht nach mit Jobbik flirte, hat offenbar kein gesteigertes Problem damit, wenn Rechtsradikale mit Motorrädern zu einer Ausfahrt unter dem Motto „Gib Gas!“ ausrücken und die Holocaust-Opfer am Tag des „Marsches der Lebenden“ in Budapest verhöhnen wollten: Sie kritisierte die Regierung sogar dafür, den Nazi-Aufmarsch untersagt zu haben. Man wähnt sich im falschen Film: die Forderung nach Versammlungsfreiheit für Antisemiten aus demselben berufenen Mund, der die Gedenkveranstaltungen der Regierung als Zynismus verleumdet…nur in Ungarn geht das zusammen.

Nein, Frau Heller: Es ist zynisch, den Antisemitismus als Wahlkampfargument zu jeder noch so unpassenden Gelegenheit gegen die Regierung ins Feld zu führen. Und selbst wenn man annähme, dass Ihre Einwände gegen die Geschichts- und sonstige Politik des Fidesz in Teilen einen wahren Kern haben, so sind Sie in Ihrer Argumentationslinie kein Deut besser als jene, deren Handeln Sie verteufeln. Wenn Sie meinen, dort nutze man die Opfer des Holocaust, so müssen Sie sich fragen lassen, was Sie hier eigentlich tun. Und mit Ihnen die gesamte politische „Linke“, die – in fragwürdiger Fortsetzung realsozialistischer Traditionen – den Antifaschismus als leeren Werbespruch nutzt, um Angst vor den Rechtskonservativen zu schüren. Im übrigen aber keine Taten zu dessen Bekämpfung sehen lässt. Heller muss sich, ebenso wie Schiff und Konrád, nach alldem fragen lassen: Warum erheben Sie Ihre Stimme gegen Antisemitismus in Ungarn nur in Zeiten der Fidesz-Regierungen?

Die Tatsache, dass der 70. Jahrestag des ungarischen Holocaust mit dem Wahljahr 2014 zusammenfällt, wird man wohl kaum Viktor Orbán anlasten können. Man sollte abwarten, was die Veranstaltungen bieten. Und dann seine Fragen stellen.