Verfassungsgericht: Zwangspensionierung von Richtern ist verfassungswidrig

Das ungarische Verfassungsgericht hat entschieden, dass das Gesetz über die Frühpensionierung – oder besser: Zwangspensionierung – von Richtern gegen die Verfassung verstößt. Das Gesetz wurde durch Mehrheitsentscheidung rückwirkend für nichtig erklärt.

„In its judgement pronounced today, the Constitutional Court has declared unconstitutional and, therefore, annulled the provisions on the compulsory retirement age of judges as of 1 January 2012 (the date of entry into force of the Act on the Status and Remuneration of Judges)

The Constitutional Court has examined several constitutional complaints lodged against the Act that replaced the retirement age of 70 years by the general retirement age (which is applicable according to the year of birth), so de facto it was reduced to 62–65 years. Consequently, the impugned provisions terminated the service of those who have reached the maximum age before 1 January 2012 on 30 June 2012, and ordered to be terminated the service of judges who reach that age between 1 January 2012 and 31 December 2012 on 31 December 2012.

The Constitutional Court has held that the new regulation violates the constitutional requirements for the judicial independence on both formal and substantial grounds. From the formal point of view, a cardinal act shall determine the length of judicial service and the retirement age in order to guarantee the irremovability of judges. Therefore, the reference to the “general retirement age” laid down in an ordinary Act does not fulfil this requirement.

As regards the substantial unconstitutionality, the new regulation resulted in the removal of judges within a short period, within three months. Notwithstanding the relative freedom of the legislator to determine the maximum age of judges, and the fact that a certain age cannot be deduced from the Fundamental Law, the Constitutional Court has held that the introduction of a lowered retirement age of judges shall be made gradually, within an appropriate transitory period and without the violation of the principle of irremovability of judges.

The greater the difference between the new retirement age and 70 years, the longer transitional period for introducing a lower retirement age is needed. If not, the irremovability of judges, which constitutes an essential element of the judicial independence, is violated.

BALSAI István, DIENES-OEHM Egon, LENKOVICS Barnabás, POKOL Béla, STUMPF István, SZALAY Péter and SZÍVÓS Mária judges have expressed dissenting opinions.“

Die Entscheidung im Volltext:

http://www.mkab.hu/letoltesek/alkotmanybirosag_hatarozatai_2012_03.pdf

10 Kommentare zu “Verfassungsgericht: Zwangspensionierung von Richtern ist verfassungswidrig

  1. Bin gespannt, wie das Urteil in der Praxis umgesetzt wird. Jetzt sind ja erst mal Gerichts- und Parlamentsferien. Was zumindest phänomenologisch interessant ist, ist der Umstand, dass sechs von sieben Richter (d.h., alle außer Lenkovics), die abweichende Meinungen geschrieben haben, erst 2010/2011 von der Fidesz-KDNP-Mehrheit gewählt worden sind. Siehe: http://mkab.hu/tagok/jelenlegi-tagok. Nachtigall, ick hör Dir trapsen?

    • Ja, da fällt es schwer, an Zufall zu glauben. Interessant, auch für die fachkundigen Leser wie Herrn Boulanger dürfte das Sondervotum Balsais sein. Er versucht, seine ablehnende Haltung z.B. mit dem „Nationalen Glaubensbekenntnis“ zu begründen. Somit bestätigt sich die Ahnung Vieler, die Präambel sei Maßstab für die Rechtsprechung. Zugleich – und insoweit im Gegensatz zu der Vorahnung Vieler – bezieht sich Balsai auch auf AB-Entscheidungen früherer Jahre – was wiederum dagegen spricht, dass sich diese Entscheidungen „erledigt“ haben. László Sólyom hatte also diesbezüglich Recht.

      • Seitdem ich Art. R Abs. 3 des neuen Grundgesetzes kenne, zweifle ich nicht mehr an der Rechtsverbindlichkeit des „Nationalen Bekenntnisses“: „Die Bestimmungen des Grundgesetzes sind im Einklang mit deren Zielen, mit dem enthaltenen Nationalen Bekenntnis und mit den Errungenschaften der historischen Verfassung zu interpretieren.“ Die praktische Justiziabilität des „Nationalen Bekenntnisses“ lassen wir mal dahingestellt.

        Was die Fortgeltung früherer AB-Entscheidungen angeht, sagte mir mal ein Experte, das VerfG habe die Möglichkeit, einfach interpretatorisch festzulegen, was die „Errungenschaften der historischen Verfassung“ sind. Eine Möglichkeit sei, darunter ganz pragmatisch die Ergebnisse der Verfassungsauslegung durch das VerfG seit 1990 zu fassen. So würde die doch sehr vage Formel ihren Schrecken schnell verlieren.

  2. Ja, ich würde auch zu gern die Sondervoten lesen können. Bei Béla Pokol habe ich es schon per Google Translator versucht, aber den Wortbrei, der dabei herauskam, nicht wirklich verstanden. Jedenfalls konnte ich keine Argumentation herauslesen, die historische Verfassung kam aber darin irgendwie vor. Könnte es sein, dass das Gericht jetzt dem Supreme Court anpasst – scharf ideologisch gespalten, mit ein paar „Swing Voters“ und Leuten, die die historische Auslegung hochhalten (obwohl man die mir immer noch völlig schleierhafte Bedeutung der „historischen“ Verfassung als Auslegungsprinzip nicht mit dem Originalismus vergleichen kann, der immerhin einen demokratietheoretischen Ursprung hat).

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