Verfassungsgericht: Rückwirkende Erhebung der 98%-Strafsteuer für die Veranlagungszeiträume 2005-2009 verstößt gegen die Menschenwürde

Das ungarische Verfassungsgericht hat am vergangenen Freitag, den 06.05.2011, eine weitere wichtige Entscheidung im Bezug auf die im Jahr 2010 verabschiedete „Strafsteuer“ auf Abfindungen im öffentlichen Bereich gefällt. Nachdem das höchst umstrittene, von Fidesz/KDNP verabschiedete Steuergesetz bereits im ersten Anlauf wegen seiner zu großen Reichweite und Fragen des Eigentumsschutzes scheiterte, von der rechtskonservativen Parlamentsmehrheit aber kurzum neu verabschiedet wurde (zuvor wurden die Prüfungsbefugnisse des VerfG beschränkt), erklärte das Gericht das Gesetz – im zweiten Anlauf – erneut für nichtig, soweit die im Jahr 2010 verabschiedete Steuer auch für die bereits abgeschlossenen Veranlagungszeiträume 2005-2009 erhoben werden sollte. Die Pressemitteilung des Verfassungsgerichts im Auszug:

„Pressemitteilung des Verfassungsgerichts betreffend die Prüfung des Gesetzes über die Sondersteuer in Höhe von 98%

Das Verfassungsgericht hat mit seinem Beschluss vom 6. Mai 2011 diejenige Regelung des Gesetzes über die Sondersteuer in Höhe von 98%, rückwirkend zum Tag des Inkrafttretens, für nichtig erklärt, derzufolge die Sondersteuer auf Einkünfte ab dem 1. Januar 2005 zu erheben ist. Es verstößt nämlich gegen die Menschenwürde, dass das Gesetz die Wirkung der Sondersteuer auch auf solche Einkünfte ausdehnt, die von Betroffenen in bereits in solchen Steuerjahren erworben wurden, die durch die Abgabe der Steuererklärung abgeschlossen sind. Als Folge der Entscheidung des Verfassungsgerichts kann die Steuerverwaltung im Bezug auf Einnahmen der Steuerjahre 2005-2009 keine Sondersteuer verlangen, es ist im Hinblick auf die Sondersteuer keine Erklärung abzugeben, keine Steuer zu zahlen, ferner sind die bereits bezahlten Sondersteuern – auf Antrag – zurück zu erstatten. Aufgrund der Formulierung des Gesetzes bezieht sich die Nichtigkeitsfolge auch auf das Steuerjahr 2010, obwohl die Vorschriften des Gesetzes, die sich auf das Jahr 2010 und die nachfolgenden Steuerjahre beziehen, nicht die Menschenwürde verletzen. Um die Sondersteuer auf die Steuerjahre 2010 ff. zu erstrecken, bedarf es jedoch weiterer gesetzgeberischer Maßnahmen durch das Parlament. Soweit diese nicht ergriffen werden, sind – auf Antrag – auch für das Jahr 2010 bezahlte Sondersteuern zurück zu erstatten.“

Die Entscheidung stellt eine kaum übersehbare Ohrfeige für die Regierungsmehrheit im Parlament dar und kann in ihrer politischen Dimension kaum hoch genug eingeschätzt werden. Die ungarische Regierung war im In- und Ausland scharf dafür kritisiert worden, dass sie nach der ersten Beanstandung des Strafsteuergesetzes, ohne zu zögern, die Befugnisse des VerfG beschränkte und den Gesetzentwurf – weitgehend unverändert – erneut einbrachte. Ein beispielloser Fall der Missachtung eines Verfassungsgerichts. Auch in der viel kritisierten neuen Verfassung bleiben die Befugnisse des Gerichts vorerst beschränkt, es darf Budgetregelungen (so lange die Staatsverschuldung über 50% des BIP liegt) nicht mehr am Maßstab des Eigentumsgrundrechts prüfen.

Die jetzige Entscheidung ist als deutliche Botschaft des höchsten ungarischen Gerichts an die Regierungsmehrheit und Regierungschef Orbán zu betrachten. Mit der – juristisch kreativen, jedoch in Anbetracht nicht mehr vorhandener Prüfungskompetenzen im Bezug auf das Eigentumsrecht gut vertretbaren – Anwendung des Grundrechts auf Menschenwürde macht das Gericht klar, dass es nicht bereit ist, der Beschneidung seiner Befugnisse und der daraus folgenden Erosion des Grundrechtsschutzes tatenlos zuzusehen. Üblicher Weise kommen spezielle Grundrechte vorrangig zur Anwendung, stehen diese jedoch nicht als Rechtsgrundlage für die gewünschten Rechtsfolgen zur Verfügung, ist es legitim, auf subsidiäre Grundrechte zurück zu greifen. Es kann sich hier der Unterstützung der in- und ausländischen Beobachter sicher sein, wohl auch deshalb kam es zu dieser sehr mutigen Entscheidung.

Die Reaktionen aus dem Regierungslager, insbesondere von Viktor Orbáns Kettenhund János Lázár, dem (gerade heute mit großer Mehrheit wiedergewählten) Fraktionsvorsitzenden von Fidesz, fielen wie erwartet aus: Lázár bezeichnete die Entscheidung – gegen jedwede gute rechtsstaatliche und parlamentarische Tradition – unverblümt und in gewohnt nassforscher Art als „Verstoß gegen die Interessen der Ungarn“. Die Regierung kündigte an, den Vorgaben des Gerichts genüge zu tun, um die Anwendung der Strafsteuer wenigstens für das Jahr 2010 sicher zu stellen. Eine weitere Beschränkung der Befugnisse des Gerichts hat sich die Regierungsmehrheit in Anbetracht der internationalen Kritik rund um die Politik der Regierung Orbán offenkundig nicht zugetraut. Insoweit könnte die (berechtigte) Furcht vor der drohenden Negativpresse die Regierung davon abgehalten haben, einen weiteren großen juristischen und politischen Fehler zu begehen.

Der Umgang mit dem Verfassungsgericht hat dem Land bereits jetzt großen Schaden zugefügt. Nach der Auffassung von Steuerexperten dürfte das Gesetz in seiner jetzt eingereichten dritten Variante erneut scheitern; aller guten Dinge sind bekanntlich drei…

Das Gericht hat Mut und Standvermögen bewiesen. Es verdient unser aller Respekt.

Links:

Pressemitteilung des Gerichts

Entscheidung im Volltext

ÖBB-MÁV-Deal: Untersuchungsausschuss tagt

Bericht der Wiener Zeitung über die parlamentarische Untersuchung der Übernahme der Gütertransporttochter der Ungarischen Staatsbahn, MÁV Cargo, durch die österreichische ÖBB im Jahr 2008. Im Rahmen der Akquisition im Volument von 400 Mio. EUR sollen 7 Mio. EUR an das Unternehmen Geuronet des ungarischen Lobbyisten András Gulya geflossen sein.

Der Aufsichtsratschef der ÖBB, Horst Pöchhacker, verteidigte die Zahlung damit, man brauche im Ausland „Scouts“, die sich „vor Ort auskennen“. Gulya, der vom Untersuchungsausschuss gehört werden sollte, erschien bereits auf die zweite Ladung hin nicht.

http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=3926&Alias=wzo&cob=559961

Ungarische und österreichische Behörden untersuchen derzeit den Verkauf der Güterverkehrstochter der MÁV an die ÖBB wegen Verdachts von Schmiergeldzahlungen.

Sukoró: Ermittlungen gegen Ferenc Gyurcsány, Staatsanwaltschaft beantragt Aufhebung der Immunität des Ex-Premiers

Die Budapester Zeitung berichtet über die Ermittlungen gegen Ex-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány im Zusammenhang mit einem Immobiliengeschäft am Velencer See. Die Regierung Gyurcsány plante, in dem Ort Sukoró eine Casino-Stadt zu errichten und hob das Projekt als besonders bedeutsam hervor. Ferenc Gyurcsány wird von der Staatsanwaltschaft verdächtigt, Einfluss auf das Genehmigungsverfahren genommen zu haben.

http://www.budapester.hu/index.php?option=com_content&task=view&id=10957&Itemid=26

Im Rahmen des Sukoró-Projektes kam es zu einem Immobilientauschgeschäft. Da ein Erwerb der benötigten Flächen wegen des Grundstücksverkehrsgesetzes unmöglich gewesen wäre, tauschte der israelische Investor zwei Grundstücke an anderer Stelle gegen die für das Casino-Projekt in Sukoró benötigte Liegenschaft. Die Behörden prüfen, ob im Rahmen des Tauschgeschäfts das Sukoró-Grundstück wertmäßig zu niedrig und die im Eigentum des Investors stehenden Grundstücke systematisch überbewertet worden sind.

Budapester Zeitung: Gastbeitrag von Richard Field zur Schuldensituation der öffentlichen und privaten Haushalte

Die Budapester Zeitung publiziert einen Gastbeitrag zum Thema „Schuldenlast“. Verfasser ist der amerikanische Geschäftsmann Richard Field, der auch Gründer und Direktor der Stiftung „American House Foundation“ ist.

http://www.budapester.hu/index.php?option=com_content&task=view&id=10188&Itemid=27

Gyöngyöspata: Preisgekrönter ungarischer Winzer kommt in der Heti Valász zu Wort

Bálint Losonci ist ein ausgezeichneter Winzer. Er stammt aus Budapest, hat Außenhandel studiert und sich als 24-Jähriger entschlossen, in Gyöngyöspata Wein anzubauen. Der Vater zweier kleiner Kinder tut dies auch ausgesprochen erfolgreich, wie der sich mit ungarischen Weinen befassende, äußerst lesenswerte Blog borwerk.de zu berichten weiß. Dessen Macher Peter Klingler, ein gern gesehener und stets kritischer Kommentator bei Hungarian Voice, hat Bálint Losonci schon im März 2011 in Gyöngyöspata besucht und über die persönlichen Eindrücke einen Kommentar veröffentlicht.

Seitdem sind mehrere Wochen ins Land gegangen. Ereignisreiche Wochen. Vieles wurde europaweit über Gyöngyöspata geschrieben, die Redakteure haben sich in Bewegung gesetzt und über Neonazis, angeblich alltägliche Gewalt gegen Roma und rassische Diskriminierung durch die ungarische Mehrheitsgesellschaft berichtet.

So wichtig und richtig der Kampf gegen Rassismus und rechtsradikale Tendenzen ist: Menschen wie Bálint Losonci kamen bislang kaum zu Wort. Wenn die als „regierungsnah“ geltende ungarische Wochenzeitung Heti Válasz – wie vor einigen Wochen geschehen – einen Beitrag abdruckt, in dem ein namentlich nicht genannter Bewohner Gyöngyöspatas über die Entstehungsgeschichte und Ursachen eines Konfliktes berichtet und die seit Jahren bestehende desolate Situation einschließlich der von Teilen der Romabevölkerung im Ort ausgehenden Gewalt und Einschüchterung anspricht, führen solche Meldungen noch nicht einmal zu einem winzig kleinen Rauschen im deutschsprachigen Blätterwald. Ganz anders Berichte von „Massenschlägereien“ zwischen Roma und Rechtsradikalen, in denen verprügelte Angehörige selbsternannter „Bürgerwehren“ gerne auch einmal zum Roma-Opfer umfunktioniert werden.

Dass in Gyöngyöspata ein gesellschaftlicher Konflikt, der seit vielen Jahren schwelt und nun – auch (aber nicht nur!) durch die Wahlerfolge rechtsradikaler Kräfte und Provokationen auf beiden Seiten des politischen Spektrums – an die Oberfläche dringt, d.h. auch in den Redaktionen der großen europäischen Metropolen zur Kenntnis genommen wird, liegt am jahrzehntelangen Versagen der Politik jeglicher Couleur. Gleichwohl wird dem Ansatz, die Entstehungsgeschichte eines durch und durch sozialen, aber aufgrund des Unwillens und der Unfähigkeit der Benennung der Fakten mehr und mehr ethnisierten Konfliktes anders zu erklären als durch „Rassismus“ und „Diskriminierung“ durch die ungarische Mehrheitsgesellschaft, nur wenig Verständnis entgegengebracht. Die Kommentare in vielen Online-Ausgaben großer Zeitungen belegen, dass die Berichte ihre Wirkung haben: „Ungarn aus der EU ausschließen“, liest man dort sehr häufig.

Wie es der Autor und Fotograf Rolf Bauerdick, ein profunder Kenner der Cigány in Mittel- und Osteuropa, auf Deutschlandradio treffend sagte, ist es geradezu unerträglich, in welcher Art und Weise eine „bestimmte Clique von Intellektuellen“ und solche, die sich dafür halten, eine kritische Diskussion (auch) um die Mitverantwortung der größten Minderheit in Ungarn an ihrer Lebenssituation zu unterdrücken versuchen. Dass man so das Übel an der Wurzel packen kann, scheint im Hinblick auf die vergangenen zwei Jahrzehnte höchst fraglich. Dass die in den Redaktionen westeuropäischer Zeitungen wie dem Standard und der Süddeutschen Zeitung sitzenden Meinungsmacher die übrigen Menschen in Orten wie Gyöngyöspata trotzdem nicht zu Wort kommen lassen, scheint an ihrem „moralisch“ begründeten Unwillen zu liegen, die Verantwortung aller Beteiligten eines gesellschaftlichen Konfliktes anzusprechen. Unwissenheit und Ignoranz erweisen sich hier als explosives Gemisch. Menschen wie Losonci werden entweder ignoriert oder als (jedenfalls latent) rechtsradikale Idioten dargestellt, deren Worte im demokratischen Dialog keine Rolle zu spielen haben. Wen wundert es da noch, dass außerhalb des demokratischen Spektrums stehende Parteien wie Jobbik und andere Rattenfänger, die sich mit ihrem Kampf gegen „Zigeunerkriminalität“ als Retter der Entrechteten aufspielen, so großen Zulauf haben? Wenn dann noch der Staat seine Bürger im Stich lässt, suchen sich diese eben früher oder später die falschen Freunde.

Dass man die bestehenden Probleme, die (ich wiederhole es) nicht ethnisch, sondern sozial begründet sind, durch Verschweigen nicht lösen kann, haben die vergangenen 20 Jahre unter Beweis gestellt. Auch und gerade die Regierungsjahre der sich mit großen Sonntagsreden, aber wenig Taten für die Roma einsetzenden Sozialisten und Liberalen. Vorläufiger Höhepunkt jahrelangen staatlichen Versagens war im März/April dieses Jahres die Übernahme der „Hoheitsgewalt“ durch rechtsradikale Milizen namens „Bürgerwehr für eine bessere Zukunft“, „Wehrmacht“ oder „Betyarenarmee“, die sich anmaßten, für „Recht und Ordnung“ in Gyöngyöspata zu sorgen (Hungarian Voice berichtete). Das eigentlich Erschütternde ist, dass dieser Einmarsch in den Augen vieler Menschen tatsächlich zu einer Verbeserung „ihrer eigenen“ Sicherheit geführt hat; nun waren es jedoch die Roma, die sich fürchteten. Erst nach kritischen Berichten im In- und Ausland reagierte die Regierung Orbán und trat entschlossen gegen die Rechten auf.

Hungarian Voice möchte, anknüpfend an die einleitenden Worte, einen Artikel der Heti Válasz in deutscher Sprache zur Verfügung stellen, der die Situation in Gyöngyöspata, auch die Ursachen für die Eskalation, von einer anderen Seite beleuchtet. Das Wochenblatt hat Bálint Losonci besucht und ein Interview mit ihm gefertigt. Wenn der Artikel auch nicht alle Leser überzeugen wird und auch nicht soll, so wünsche ich jedermann wenigstens die Fähigkeit, sich einmal in die Situation von Bálint Losonci und den von ihm geschilderten Alltag der Menschen vor Ort hinein zu versetzen; in den Alltag recht unpolitischer Menschen, die eigentlich nur in Ruhe und Frieden leben möchten.

Parallel hierzu hat Peter Klingler, der Urheber des borwerk-Weinblogs, einen Beitrag über den Winzer Losonci veröffentlicht.

http://borwerk.de/2011/05/09/sieh-das-gute-liegt-so-nah-am-fuse-der-matra-bei-szecsko-und-losonci/

Viele gehören schon längst ins Gefängnis

Das Dorf der Hetze

Bálint Losonci wurde in der vergangenen Woche auf der Veranstaltung „Winzer der Winzer“ zur Neuentdeckung des Jahres gekürt. Der 30-jährige Winzer aus Gyöngyöspata war sich der Gefahren bewusst, als er vor sieben Jahren als junger Mann aus Budapest seine Tätigkeit im Ort aufnahm, heute würde er nicht mehr gegen ein Grundstück in der Tokajer Weinregion tauschen wollen

Von András Stumpf

– Wenn es stimmt, dass auch guter Wein eine effektive Werbung braucht, können Sie zufrieden sein. Gyöngyöspata kann sich der internationalen Aufmerksamkeit sicher sein.
– Auf diesen Werbeeffekt könnten wir gut verzichten. Natürlich kann es sein, dass man auch auf die Weine achten wird, aber ich zweifle daran, wenn die Medien nur über ethnische Zusammenstöße berichten. Wir sind ein Dorf der Hetze geworden.

– Sie sind ein junger Mann aus Budapest mit einem Abschluss in Außenhandel, trotzdem kamen Sie vor sieben Jahren hierher, um Winzer zu werden. War Gyöngyöspata damals noch ein besserer Platz?
Wir haben es der Politik zu verdanken, dass Gyöngyöspata das überall präsentierte veterinäre Pferd geworden ist. Es gibt mehrere hundert Ortschaften, wo es noch schlimmer aussieht, Gyöngyöspata ist kein Teil der Dritten Welt, es ist nicht hoffnungslos.

Wenn Gábor Vona nicht aus Gyöngyös käme, wären die „Bürgerwehren“ auch nicht in Gyöngyöspata.
Das spielt offenkundig auch eine Rolle. Als wir unser Grundstück hier erwarben, sah ich zwar die Risikofaktoren, aus önologischer Sicht jedoch ist das, was hier unter der Erde ist, ein wahres Wunder; alle Gegenargumente wurden hiervon verdrängt. Der Boden ist andesitisch und kalkig, das ist einzigartig. Die Kalkparameter sind mit denen der Champagne vergleichbar. Ich lernte die regionalen Weine von Tamás Szecskö und Gábor Karner kennen, und sie überzeugten mich davon, dass man hier außergewöhnliche Weine mit individuellen Charakteristika  herstellen kann. Nach unserer Meinung entsteht guter Wein nicht im Keller, sondern am Rebstock. Bei unseren besten Weinen lassen wir zwischen 500 Gramm und einem Kilo Trauben auf dem Rebstock – es gibt keine Kompromisse.

Nun, Gyöngyöspata ist aber doch ein wenig der Kompromiss. Zuerst wollten Sie ja nach Tokaj.
Heute würde ich nicht mehr tauschen, aber es ist richtig, zuerst zog es mich nach Erdöbénye. Aber es ist weit, und der Boden kostet das Zehnfache. Unsere Familie hatte ein kleines Häuschen in Kutas (Komitat Nógrád), meine Frau und ich dachten zuerst, wir lassen uns dort nieder, das Weingut ist hier, 30 Kilometer kann man pendeln. Wir irrten uns, auch das ist weit. Vor drei Jahren sind wir hergezogen. Der wesentliche Teil der Gemeinde besteht aus fleißigen Menschen, die sich gegenseitig helfen und stolz auf ihre Vergangenheit sind…

Ihr Bürgermeister ist jüngst zurückgetreten.
Es war nicht gerade seine Stärke, in ernsten Situationen Entscheidungen zu treffen. Wir brauchen eine strengere Führung.

Bewerber gibt es genug. Ein Vertreter von Jobbik und Tamás Eszes, der Leiter der Bürgerwehr „Wehrmacht“, streiten sich um den Posten.
Es kann gut sein, dass de beiden Kandidaten im Wettstreit stehen werden.

Gyöngyöspata ist ein Nazikaff – diese Schlussfolgerung drängt sich auf.
Dieser Stempel wurde uns schon oft aufgedrückt, und es wird weiterhin passieren. Aber man sollte zur Kenntnis nehmen: Was jetzt passiert, ist kein Normalzustand. Wir werden auf jeden Fall einen „kämpferischen“ Bürgermeister bekommen, einen, der sich um die Krisensituation kümmern muss.

Wollen Sie nicht kandidieren?
Als Winzer und Vater zweier kleiner Kinder hätte ich hierfür keine Kraft; außerdem kann ich nicht mit erzürnten Menschen umgehen. Mir ist wichtiger, dass ich mit meinem Wein zum guten Ruf der Gemeinde beitrage, und zeige, dass man durch so etwas auch Familien ernähren kann.

Sie haben aber schon vor einigen Wochen in einem Brief – auch im Namen des Gemeinderates – die wahre Situation in Gyöngyöspata beschrieben. Gleichwohl können Sie nicht wissen, wie es zu den Problemen kam.
Jeder erzählt mir, dass es bis zum Systemwechsel 189 ein harmonisches Verhältnis zwischen Zigeunern und Magyaren gab. Sogar der örtliche Jobbik-Chef erzählt, dass er als Kind mit den Zigeunern auf dem Deich gespielt hat; damals wurde die Integration bei der Erziehung zur Wirklichkeit. Man brauchte ach Verputzer und Musiker, Zigeuner übten oftmals auch einfache Hilfstätigkeiten aus. Vor 15-20 Jahren begannen die Probleme, mit einer Umsiedlung. Wie ich höre, holte man in der Zeit des Systemwechsels unter fragwürdigen Umständen Familien aus den umliegenden Ortschaften hierher. Solche, die jene Dörfer loshaben wollten. Die benahmen sich dann anders, als die alteingesessenen Einwohner von Gyöngyöspata. Sie setzten ihr kriminelles Verhalten hier fort: Diebstähle, Raub…es ist alarmierend, dass sie für die jüngere Generation schon wie der Normalfall aussehen. Fünf- bis Siebenjährige machen es sich zum Hobby, sich zu prügeln, physische Gewalt wird zur einzigen Möglichkeit, Konflikte zu lösen. Der fürchterlichste Vorfall geschah im vergangenen November: Ein achtjähriger Junge wurde bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschlagen und musste im Krankenhaus behandelt werden. Die Täter waren etwa 3-4 Jahre älter als das Opfer, sie taten es aus Spaß.

Werden Sie ihre Kinder hier in den Kindergarten und in die Schule schicken?
– Im Moment entscheiden wir gerade über den Kindergarten. Wenn meine Frau ein Auto hätte, würden wir sie wahrscheinlich nach Gyöngyöstarján bringen.

Ist die Situation dort besser?
– Eine praktisch rein ungarische Gemeinde, wohingegen der Zigeuneranteil in Gyöngyöspata bei 18 Prozent liegt. In der Schule sind es schon 50 Romakinder. Aber wir werden es mit dem Kindergarten versuchen, mit der Schule, glaube ich, eher nicht. Es ist tragisch, denn es handelt sich um eine bestens ausgestattete Einrichtung, sogar mit Schwimmbad. Aber all das ist keinen Pfifferling wert, wenn ich mir Sorgen darum machen muss, ob mein Kind nach der Schule unversehrt nach Hause kommt. Und das müsste ich, denn die Täter vom vergangenen Jahr sind auch hier. Ich glaube nicht daran, dass nach so einem Vorfall nichts weiter geschieht, es gibt keine Behörde, die eingreifen würde.

Man bräuchte ein Vormundschaftsamt, nicht wahr?
– Richtig. Der Bürgermeister von Érpatak besuchte uns, und sagte, das sei keine Schelmerei. Schon die geltenden Rechtsvorschriften lassen eine Handhabung der Probleme zu, man muss die Behörden nur dazu bewegen, zu handeln. In Érpatak geschah etwas, die Folge war ein wahres Wunder. Zwanzig Interessierte fuhren hin, um sich selbst zu überzeugen, und ihre Erfahrungen waren die folgenden: Man kann spazierengehen, sogar im Ortsteil der Zigeuner, man wird nicht gleich von hundert Menschen umzingelt, wie es hier der Fall ist.

War es hier im Ort nicht ratsam, den Ortsteil der Zigeuner zu besuchen?
– Nicht wirklich. Einmal allerdings wagte ich mich hin, als man die Babydecke meines sechs Monate alten Sohnes in der Arztpraxis gestohlen hatte. Ein paar Wochen später sah ich die Decke wieder, schon bei ihrem neuen „Eigentümer“. Meine Mutter wurde bei der Kellerei bestohlen, Mobiltelefon, Schlüssel, Geld. Ein Schaden von 50.000 Forint, die Decke war nur ein Bruchteil davon. Aber dass man sogar einen Neugeborenen beklaut, das war zu viel, ich sagte mir, Du musst etwas tun.

Kann es nicht sein, dass die armen Zigeunerkinder die Decke nötiger hatten?
– Das kann ich mir nicht vorstellen. Ihr Haus verfügt über zwei Parabolantennen, sie tragen Markenklamotten, haben ein Auto – so viel zur schlimmen Armut. Der SZDSZ-Begriff der „Überlebenskriminalität“ hat sehr viel kaputt gemacht. Die Straftäter kennen ihre Rechte, auch die  Bagetellgrenzen. Es ist weit verbreiteter Aberglaube, dass sie zum Beispiel die Bäume deshalb in Hüfthöhe abschneiden, weil sie zu faul sind, sich zu bücken. Aber so ist es nicht: Wenn man 80 Zentimeter stehen lässt, zählt es nur als „Verstümmelung“, die Strafe ist geringer. Es ist in Ordnung, dass die Regierung gegen die „Kriminalität in Uniform“ vorgeht, aber nur dann, wenn auf der anderen Seite ebenfalls so entschlossen gehandelt wird. 90 Prozent der Menschen in Gyöngyöspata erwarten die Hilfe der Behörden. Allerdings ist es – wenn wir nicht gerade als Kriegsschauplatz gelten – so, dass es im Ort nur einen einzigen Polizisten gibt, und für den ist nicht einmal genug Geld vorhanden, dass er den ganzen Monat lang sein Auto volltanken könnte.

Die Hauptursache für die Spannungen waren die Diebstähle?
– Der Umstand, dass sie das ehemalige Erholungsviertel, den Ziegenhügel, faktisch bis auf den letzten Gartenzaun abgebaut haben, ist nur einer der schmerzhaften Punkte. Das alltägliche Benehmen, die Anmache gegenüber Frauen, das Erheben von Wegezoll  an der Brücke oder in der Schule – das ungarische Kind kann dann passieren und seine Arbeit tun, wenn es zahlt. Das ist es, was vielen Anwohnern ihren Alltag schwer, fast unerträglich gemacht hat. Und auch, dass man Menschen vom Gehweg drängt. Selbst alte Damen und Kinder. Sollen sie doch im Straßengraben laufen und sehen, wer der Herr ist. Das war Alltag.

Bestimmt nur viele Jahre der Ausgrenzung, das Leben als Minderheit, Frustration, ist doch verständlich…
– Natürlich, sie fürchteten sich gewiss schon damals sehr. Wie letzte Woche, nicht wahr? Seit der „heiße Frühling von Gyöngyöspata“ andauert, kamen sechs Menschen physisch zu Schaden. Fünf davon sind keine Zigeuner. Man kann hier schlichtweg nicht von Gewalt gegen Zigeuner sprechen. Nach meiner Lesart handelt es sich, wenn 80 mit Eisenstangen Bewaffnete vier Menschen zusammenschlagen, nicht um eine Massenschlägerei, sondern um Lynchjustiz. Man muss wissen, dass die Zigeuner schon lange Rückenwind bekommen. Ein führender Romavertreter, István Mezei, kommt aus Gyöngyöspata, die Idee der „Evakuierung“ durch das Rote Kreuz zu Ostern dürfte auf seine Idee zurückzuführen sein – seine Freundin ist führende Mitarbeiterin des Roten Kreuzes auf Komitatsebene. Sie haben schon früher gut zusammen gearbeitet. Von Seiten führender Mitglieder der Zigeunergemeinde wird oft gesagt, dass die ganzen Probleme nur von drei Familien verursacht werden, und dass Kinderstreiche von den Rechtsradikalen aufgeblasen würden. Meine Erfahrungen sagen mir: Die Einschüchterung, die Raubstraftaten waren häufiger. Viele von ihnen müssten schon längst im Gefängnis sitzen. Auf der anderen Seite dient das Gefängnis vielen als Sanatorium und Ausbildungsplatz: Ich habe denjenigen, der meine Mutter bestohlen hat, nach seiner Entlassung kaum wiedererkannt. Innerhalb eines halben Jahres konnte er dort drin 15 kg Muskalmasse zulegen.

– Und die Lösung?
Sieht so aus wie in Érpatak. Der Bürgermeister ging hinaus in die Ortschaft, sprach mit den Menschen, sie sollten die Kinder in die Schule schicken, und der Hauseingang möge sauber bleiben. Das dürfte nicht zu viel verlangt sein. Wo die Umstände eine gesunde Erziehung von Kindern nicht zulassen, wo das Kind nicht in die Schule geht, aggressiv wird und herumflucht, sollte man das Kind nach der dritten Ermahnung von den Eltern wegholen – im eigenen Interesse. Natürlich ist das nicht alles: Man sollte diejenigen unterstützen, die in der Lage und willens sind, in der Gemeinde Werte zu schaffen. Und man sollte ihnen helfen: Die kostenlose Vergabe von Pflanzsamen bringt etwas, in Érpatak produzieren die Zigeuner nicht mehr nur für sich selbst, sondern haben genug, um ihre Produkte zu verkaufen. Und sie sind mitterweile stolz auf ihren kleinen Garten, auf die Ordnung im Vorgarten, und darauf, dass die Kinder in die Schule gehen. Das Bodenprogramm ist schon deshalb wichtig, weil es die Menschen zeitlich einbindet; wenn 15-20 Menschen in einer Bruchbude leben, sind sie nicht den ganzen Tag dort, treiben sich herum und machen wenig Sinnvolles. Auch die Halbierung der Zeit für öffentliche Arbeit ist ein Problem. In der freien Zeit werden die Betroffenen zu Hause kaum Dostojewski lesen. Wobei: Die bisherige öffentliche Arbeit war eher eine Olympiade aus den Disziplinen „Auf der Schaufel lehnen“, „Zigarettenrauchen“ und „Herumliegen“. Ich hoffe, dass für den Fall der Verwirklichung der Regierungspläne echte Arbeit geschaffen wird an Stelle vom Herumkratzen in Rosenbeeten – letzteres ist für einen im Saft stehenden Mann in den besten Jahren doch eine Demütigung. Straßen- und Kanalbau, wir haben diesbezüglich Bedarf, und wer hier in diesen Bereichen tätig ist, der kann sich wahrlich als nützliches Mitglied der Gemeinschaft fühlen.

Wen beschäftigen Sie zur Weinlese?
Überwiegend ältere Menschen, in den 60ern und 70ern. Die Bereitschaft zu körperlicher Arbeit ist auch bei den Ungarn katastrophal. Die jüngeren mit Talent gehen häufig weg, nicht selten ins Ausland. Wer unter 40 ist und in der Landwirtschaft als Erntehelfer arbeitet, ist zumeist Alkoholiker. Ausnahmen gibt es nur wenige. Auf die ältere Generation kann man besser bauen. Allerdings gibt es zwei Zigeuner in Gyöngyöspata – Vater und Sohn – mit denen es sich lohnt, zusammen zu arbeiten. Sie sind von Kopf bis Fuß zuverlässige, fleißige und sympathische Menschen. Es wäre toll, wenn sie diejenigen wären, die in der Zigeunergemeinde tonangebend wären. Leider melden sie sich nicht zu Wort. Der Umstand, dass die Uniformierten auch ihnen Angst einjagen, ist schmerzhaft und ungerecht, aber leider ist ihr Lebensstil unter den Zigeunern die Ausnahme.“

Manch ein Bericht der vergangenen Wochen muss Menschen wie Losonci wie Hohn und Spott vorkommen. Die Selbstzensur braucht bei Standard, Süddeutsche und TAZ offenbar nicht einmal ein ungarisches Mediengesetz.

Den Vogel schießt letztgenanntes Blatt mit folgender Aussage ab:

Bezahlt, so sind sich die Roma sicher, würden die Milizionäre von der örtlichen Bevölkerung. Von 47 Millionen Forint, also etwa 180.000 Euro, ist die Rede. „Sie werden bezahlt, damit sie uns töten“, glaubt ein etwa zehnjähriges Mädchen im rosa T-Shirt.“

Es wäre einer zielführenden Debatte über die Situation der Roma in Ungarn gewiss förderlich, wenn man auch Stimmen wie die von Bálint Losonci zu Wort kommen ließe. BorWerk und Hungarian Voice möchten gerne ihr Scherflein dazu beitragen.

Links:

http://borwerk.de/2011/05/09/sieh-das-gute-liegt-so-nah-am-fuse-der-matra-bei-szecsko-und-losonci/

https://hungarianvoice.wordpress.com/2011/01/19/roma-radiointerview-mit-autor-und-fotograf-rolf-bauerdick/

https://hungarianvoice.wordpress.com/2011/03/14/wo-ungarn-aufgehort-hat-zu-existieren-ein-beitrag-von-index-hu-zum-nazi-aufmarsch-in-gyongyospata/

https://hungarianvoice.wordpress.com/2011/04/29/post-aus-gyongyospata-lagebeschreibung-in-der-heti-valasz/