Post aus Gyöngyöspata: Lagebeschreibung in der Heti Válasz

Der Ort Gyöngyöspata in Mittelungarn ist vor einigen Wochen zum Beispiel für Rassismus und Antiziganismus geworden. Nach zahllosen Berichten im In- und Ausland, bei denen bislang kaum Ortsansässige zu Wort kamen, möchte Hungarian Voice einen Beitrag in der regierungsnahen Wochenzeitung Heti Válasz wiedergeben. Es handelt sich um einen anonymen Brief. Er könnte ein wenig verständlich(er) machen, weshalb die Menschen vor Ort  das Auftreten der rechtsradikalen „Bürgerwehren“ zum Teil begrüßt haben.

Überraschender Brief zu den wahren Verhältnissen in Gyöngyöspata

Wir erhielten einen Brief aus Gyöngyöspata. Die Ortschaft geriet in den vergangenen Wochen in das Zentrum der landesweiten Aufmerksamkeit, allerdings wurde wenig darüber gesprochen, dass die angespannte Situation im Dorf nicht jetzt, sondern schon seit vielen Jahren im Entstehen ist. Der nachstehend wörtlich wiedergegebene Brief möchte die Aufmerksamkeit auf diese Entstehungsgeschichte und mögliche Lösungen lenken.

Die Mehrheitsgesellschaft von Gyöngyöspata hält es für wichtig, die ungarische Öffentlichkeit in Anbetracht der oftmals einseitigen, oberflächlichen Nachrichten und Stellungnahmen darüber in Kenntnis zu setzen, welche Vorgänge und Ereignisse zu der in den letzten Wochen entstandenen Situation geführt haben, und zugleich darauf hinweisen, was mögliche Lösungen für die Entspannung der Situation sein könnten.

Im Ort lebte die ungarische Mehrheit und die Roma-Minderheit über mehrere hundert Jahre friedvoll zusammen. Über Generationen hinweg bestimmte die Agrarproduktion das Bild der Ortschaft und gab den hier Lebenden das tägliche Brot. Die ersten Probleme entstanden vor 15-20 Jahren, und wurden seitdem schlimmer. Ein Gruppe von Ortsbewohnern wurde immer aggressiver (es handelte sich größtenteils um Menschen, die man von anderswo angesiedelt hatte), und für viele Familien und Menschen wurde wurden Beleidigungen und Vermögensdelikte zu einem immer alltäglicher werdenden Phänomen. Es geht somit nicht um Stimmungsmache oder ein politisches Theater, wie dies von vielen behauptet wurde. Die Probleme sind keineswegs neu!

Wir möchten verdeutlichen, was  die von einem wesentlichen Teil der Presse als „Kinderstreiche“ und Kleindiebstähle betitelten „Angelegenheiten“ alles umfassen. Die ständige Angst und das Sich-Bedroht-Fühlen sowie die Demütigung wurde zum Alltag vieler älterer Menschen, gerade in denjenigen Ortsteilen, die in der Nähe der die gesellschaftlichen Normen missachtenden Familien liegen. Es hat sich ein Netz des Angstmachens und von Straftaten entwickelt: Kinder und Teenager, die zu der Gruppe von Abweichlern gehören, gehen am helllichten Tage auf ältere Menschen los, die gerade von der Heiligen Messe oder aus dem Laden zurückkommen, oftmals werden sie sogar angespuckt, an ihren Taschen wird herumgezogen, sie werden mit Steinen beworfen. Nachts gehen sie in die Gärten und stehlen dort kleinere oder auch größere Dinge.

Man kann dies als „Kleindiebstahl“ bezeichnen, aber diese Handlungen sind so häufig und auch organisiert, dass das Endergebnis tragisch ist:  Viele, am Existenzminimum lebende Menschen kommen in unmögliche Situationen, wenn ihr Brennholz gestohlen oder ihr Garten so oft verwüstet wird, dass die Betroffenen mit der Produktion aufhören müssen. Das schmerzhafteste ist aber die psychologische Folge: durch die ständige Angst wurde – an Stelle eines verdienten ruhigen Rentenalters – Existenzangst und Unsicherheit zum Alltag vieler, vieler Menschen.

Wir möchten auch darauf hinweisen, dass die Zerstörung auch dann Zerstörung bleibt, wenn sie das Ergebnis vieler kleiner Bewegungen ist. Wegen dieser, die Gemeinschaft zerstörende Gruppe verschwanden innerhalb von 15 Jahren 30 Hektar  des früher mit Hobbygärten, Kellern und Obstanpflanzungen ausgestatteten Ortsteils „Kekcske-Kö“ („Ziegenstein“), der früher als Erholungsviertel gegolten hatte. Die Gartenzäune wurden als Brennholz mitgenommen, die Keller wurden aufgebrochen, in vielen Fällen wurden neben den Dachziegeln auch die Dachsparren entwendet, die Obstdiebstähle bedeuteten oft genug das Abbrechen ganzer Äste. Der Ort sieht nun aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Wegen der still stehenden Produktion entstand riesiger finanzieller Schaden, nach vorsichtigen Schätzungen in Höhe von 30 Millionen Forint pro Jahr (Anmerkung: ca. 100.000 EUR), jedenfalls ist der Verlust aber so schmerzhaft, dass Gyöngyöspata innerhalb kurzer Zeit eine der für die Gemeinschaft wichtigsten Flächen verlor.

Die sich zwei Wochen lang im Ort aufhaltende „Bürgerwehr für eine bessere Zukunft“ löste landesweite Empörung aus, aber die Medaille hat auch eine Kehrseite: der Großteil der Ortsbewohner empfand es so, dass eine seit zwei Jahrzehnten nicht bekannte  Ruhe und ein Sicherheitsgefühl feststellbar waren (hierfür waren zweifellos auch die anwesenden Polizisten verantwortlich). Auf der Brücke in der Ortsmitte hörten die Kinderbanden auf, „Wegezoll“ zu nehmen (für viele verständlich!), die Älteren konnten in Ruhe zur Messe, zur Post oder in den Laden gehen, ohne angespuckt zu werden, und sie konnten nachts ruhig schlafen.

Es gibt auch kleinere Dinge, aber auch das übliche Herumgebrüll und Geschrei endete, ebenso verschwand der durch das Verbrennen von gestohlenen Kabeln hervorgerufene krebserregende Rauch. Es ist ein Zeichen des Standpunktes der Bevölkerung und des seit Jahren bestehenden Drucks, dass in einem Ort mit 2800 Einwohnern in wenigen Tagen 1005 Personen eine Petition unterzeichneten, die dafür eintrat, dass die „Bürgerwehr für eine bessere Zukunft“ vor Ort bleibt, als die Behörden ankündigten, die Bürgerwehr wegzuschicken.

Uns ist klar und auch wichtig zu betonen, dass nicht die ganze Zigeunerschaft für die oben beschriebenen Probleme verantwortlich ist, es leben viele anständige und für die Gemeinschaft wichtige Familien unter ihnen. Aus diesem Grund verstehen und bedauern wir, wenn ihnen in diesen zwei Wochen irgendetwas angetan wurde. Wir möchten aber die Öffentlichkeit davon in Kenntnis setzen, dass viele hundert Menschen, unter ihnen ältere Menschen und Kinder, nicht erst seit zwei Wochen, sondern seit vielen Jahren in vergleichbarer Angst lebt und Opfer von Demütigungen wurde. Wir möchten erreichen, dass ihre Probleme weder bagatellisiert noch unter den Teppich gekehrt werden, vielmehr sollen die Behörden, die Politik und die Medien auch ihnen helfen.

Im Dezember wurde ein Kind von drei Kindern ohnmächtig geprügelt, die Eltern verlegten das Kind in eine andere Schule. Als die Täter nach ihrem Motiv gefragt wurden, sagten sie, dass sie zum Spaß gehandelt hätten. Warum ist so etwas für die Nachrichten oder die Rechtsschützer nicht von Interesse?  (…).

Nur echte Integration und die Aufrechterhaltung der Ordnung können helfen. Allerdings nur die Art von Integration, die einen Unterschied macht zwischen denen, die die Gemeinschaft bauen, und denen, die sie zerstören, und zwar unabhängig davon, welcher Ethnie sie angehören. Denjenigen, die bedürftig sind, muss geholfen werden, wenn das Ziel darin besteht, ein friedvolles Zusammenleben und die Einhaltung grundlegender Normen des Zusammenlebens sicher zu stellen. Allerdings muss man mit allen Mitteln gegen diejenigen auftreten, die anderen durch ihr Verhalten und ihre Lebensweise Schaden zufügen.

Das Dorf möchte Ruhe und Ordnung, wir bitten jedermann um Hilfe, dieses Ziel zu erreichen. Wir glauben, einen Wendepunkt erreicht zu haben: Entweder die bisherigen Vorgänge verschärfen sich weiter, und nach dem „Ziegenstein“ kommen die Keller der Wohnhäuser in den nächsten 5-10 Jahren dran, wie es in Teilen von Ózd der Fall war (…).

Das Dorf stellt Plänen zufolge Grundstücke und Samen denjenigen Zigeunerfamilien zur Verfügung, die zusammenarbeiten wollen (…).

Gyöngyöspata wartet auf Hilfe. Mehr und effektivere Polizeipräsenz, härtere Justiz- und Jugenschutzpraxis, Ruhe und Ordnung für jedes Mitglied der Dorfgemeinschaft, auch nachdem das Presseecho verklungen ist! Wir möchten helfende Hände, damit wir einander die Hände zur Hilfe reichen können.

Im Namen der Mehrheit von Gyöngyöspata, mit Genehmigung des Gemeinderates, ein Bewohner von Gyöngyöspata“

http://hetivalasz.hu/itthon/megdobbento-level-a-gyongyospatan-evek-ota-fennallo-valodi-allapotokrol-36563/?cikk_ertekel=1&ertekeles=3

Anmerkung: Derjenige, der eine solche verzweifelte Stimme als Rassist abtun möchte, hat – so die Auffassung von Hungarianvoice – nichts verstanden. Dass sich die Menschen von der Politik und von der Presse, die das Treiben in Gyöngyöspata und andernorts keines Blickes gewürdigt hat, im Stich gelassen fühlen, liegt auf der Hand. Ebenso wie die Tatsache, dass man in solchen Situationen den „Law and Order“ – Versprechungen falscher Freunde auf den Leim geht.

Dass ein Politiker wie Ferenc Gyurcsány, der im vergangenen Jahrzehnt nichts zur Verbesserung der Situation getan hat, nun sogar eine Privatspende von 1 Mio. Forint angeboten hat, um bedrohte Roma zu „evakuieren“, kann man nur noch als unerträglichen politischen Katastrophentourismus bezeichnen.

Bürgerwehren: Regierung plant Verschärfung des Strafrechts

Nach dem seit Samstag gültigen bußgeldbewehrten Verbot, Tätigkeiten einer Bürgerwehr ohne Genehmigung auszuüben, plant die ungarische Regierung nunmehr auch eine Verschärfung des Strafrechts. Einem Bericht auf Index.hu zufolge soll das Auftreten als Bürgerwehr in einer „furchteinflößenden Weise“ mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden.

http://index.hu/belfold/2011/04/27/harom_evvel_buntetne_a_kormany_az_egyenruhas_bunozest/

Die Modifikation (hier der Link zum Regierungsentwurf) könnte bereits am kommenden Montag vom Parlament beschlossen werden. Die Schaffung eines neuen Straftatbestands dient dazu, rechtsradikale „Bürgerwehren“ effektiver bekämpfen zu können. Gerichte hatten in den vergangenen Wochen zweimal Verfahren wegen Rowdytums eingestellt, da die Betroffenen keine Straftaten begangen hätten. Durch die Einführung eines neuen Straftatbestands könnte sich diese Beurteilung ändern.

Nach Auffassung von Hungarianvoice muss fest damit gerechnet werden, dass die rechtsradikale Partei Jobbik, welche die „Bürgerwehren“  unterstützt, das Verfassungsgericht anrufen wird, um ein Verbotsgesetz auf Vereinbarkeit mit Grundrechten hin zu überprüfen.

Gyöngyöspata: Wie kam es zur Schlägerei?

Einem aktuellen Bericht der MTI zufolge, den die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Nemzet übernommen hat, wurde die gestrige Schlägerei in Gyöngyöspata durch das Verhalten eines Betrunkenen ausgelöst. Der Bericht in deutscher Übersetzung:

http://mno.hu/portal/780511

Erst Wasser gelassen, dann provoziert – so kam es zur Schlägerei in Gyöngyöspata

Den Bildern der Überwachungskamera nach zu urteilen, brach die Schlägerei am Dienstagabend in Gyöngyöspata (Komitat Heves) aus, weil ein betrunkener Mann an der Bem-Gasse urinierte – berichtete die Polizei gegenüber dem MTI.

Die vor Ort wohnenden Roma sprachen das Verhalten des Mannes an. Daraufhin provozierte der Mann aus Petöfibánya die Roma und ging zwischen sie, woraufhin die Schlägerei ausbrach – dies berichtete der Pressesprecher der Polizeikommandatur des Komitats Heves. Ein anderer Mann, der am Ort des Geschehens verletzt wurde, sagte aus, er gehöre zur „Bürgerwehr für eine bessere Zukunft“ – fügte Bálint Soltész hinzu.

Schon zuvor hatte Szoltész bekannt gegeben, dass wegen der Geschehnisse in Gyöngyöspata vom 26. April wegen Verdachts des gemeinschaftlichen und bewaffneten Rowdytums ermittelt würde. Die Polizeikommandatur nahm einen 36-jährigen und einen 53-jährigen Ortsansässigen fest. Weitere sechs Personen wurden bis Mittwoch Nachmittag festgenommen. Dem Bericht zufolge geriet eine mit Werkzeugen bewaffnete Gruppe von 40-50 Personen mit vier Personen aneinander, die in Richtung Romasiedlung gingen. Ein Schwerverletzter und zwei Leichtverletzte wurden ins Krankenhaus gebracht. Szoltész zufolge wurde die besondere Beobachtung des Ortes durch die zuständige Polizei bis Ende April 2011 verlängert.

Gewaltausbruch in Gyöngyöspata

Wie das Handelsblatt unter Berufung auf Agenturen berichtet, kam es in Gyöngyöspata am Dienstag Abend zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Rechtsradikalen und den Mitgliedern der Roma-Minderheit.

http://www.handelsblatt.com/politik/international/neue-gewalt-zwischen-roma-und-rechten/4101658.html

Erst am Osterwochenende hatte die Polizei ein „Trainingslager“ der rechtsradikalen Gruppe „Véderö“ (dt. „Wehrmacht“) aufgelöst, Verfahren wegen Rowdytums eingeleitet und mehrere Personen festgenommen. Das zuständige Gericht in Eger hob diese Maßnahmen wieder auf, da die Uniformierten (die sich auf einem Privatgrundstück aufgehalten haben) keine Straftaten begangen hätten – der Vertreter der Polizei legte Rechtsmittel gegen die Entscheidung ein. Von dem Gerichtsbeschluss in Eger bestärkt, hielten sich bereits am Ostermontag wieder Mitglieder rechtsradikaler Gruppen in dem Ort auf.

Der „Kommandant“ der Gruppe Véderö hat zwischenzeitlich angekündigt, für den Posten des Bürgermeisters von Gyöngyöspata zu kandidieren. Der bisherige Bürgermeister war im Zuge der Naziaufmärsche – angeblich wegen gesundheitlicher Gründe – zurückgetreten.

Weitere Meldungen:

http://diepresse.com/home/panorama/welt/653411/Ungarn_Massenschlaegerei-zwischen-Roma-und-Rechten?_vl_backlink=/home/panorama/welt/index.do

http://diepresse.com/home/panorama/welt/653611/Alarmstufe-Rot-nach-Kaempfen-zwischen-Roma-und-Rechtsextremen

Das Parlament: Beitrag zur neuen ungarischen Verfassung

Die Zeitschrift „Das Parlament“ befasst sich mit der neuen ungarischen Verfassung:

http://www.das-parlament.de/2011/16-19/EuropaWelt/34243824.html

Das Dokument wurde am 18.04.2011 beschlossen und am gestrigen Ostermontag von Staatspräsident Schmitt unterzeichnet. Die neue Verfassung tritt am 01.01.2012 in Kraft.

Ab 01.01.2012 zwei Verfassungen?

Die österreichische Tageszeitung „Die Presse“ schreibt unter Bezugnahme auf den Verfassungsrechtler György Kolláth, dass Ungarn ab dem kommenden Jahr zwei Verfassungen habe. Die gestern vom Staatspräsidenten unterzeichnete Verfassung setze die alte nicht ausdrücklich außer Kraft (allerdings enthält die Präambel eine Aussage dazu, dass die „Fortgeltung der alten Verfassung“ abgelehnt wird).

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/653184/Ungarn-hat-ab-kommendem-Jahr-zwei-Verfassungen?_vl_backlink=/home/politik/aussenpolitik/index.do

Der Jurist Kolláth wirft ein weiteres interessantes Thema auf, das die Verfassungsrechtler beschäftigen dürfte. Im Zusammenhang mit der neuen Verfassung wurde – neben den zum Teil kritikwürdigen Inhalten – auch auf handfeste handwerkliche Fehler und juristische Unklarheiten hingewiesen.

Besonders streitbehaftet dürfte folgende Frage sein: In der noch gültigen alten Verfassung war für die Verfassungsänderung eine 4/5-Mehrheit vorgesehen. Die Fidesz-Mehrheit hob diese Regelung mit 2/3 der Stimmen auf und sah für die Verfassungsänderung wieder 2/3 vor. Es lässt sich mit guten rechtssystematischen Argumenten vertreten, dass die vorgenannte Verfassungsänderung (Rückkehr zur 2/3-Änderungsbefugnis) sowie alle weiteren Modifikationen, bis hin zur Inkraftsetzung der neuen Verfassung, juristisch angreifbar sind.

WELT: „Fidesz über alles“

Der WELT-Kulturjournalist Paul Jandl schreibt in der WELT Online über ein „Land des rasenden Stillstands.“ Was hat Jandl mitzuteilen? Nun, das für die WELT übliche Zerrbild Ungarns, interviewt wurden diesmal Sándor Radnóti, Péter Eszterházy und (immerhin ein Lichtblick!) Krisztián Ungváry.

http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article13265110/Fidesz-ueber-alles.html

Nachfolgend einige Aussagen Jandls:

1. „Aufs Tuning kommt es an. Über Ungarns Landstraßen tuckern lang vor der Wende gebaute Autos, die mit dem noblen Privatwagen von Regierungschef Viktor Orbán wenigstens eines gemeinsam haben. Am Heck prangt ein Aufkleber mit den Umrissen Großungarns.“

Am Heck prangt. Wohlgemerkt im Präsens. Der Artikel beginnt mit einer nachweisbaren Unwahrheit. Nicht nur, dass Viktor Orbán derzeit keinen „noblen Privatwagen“, sondern ausweislich seines Vermögensberichtes überhaupt keinen Privatwagen besitzt. Er fährt mit seinem Dienstwagen herum, zuletzt war dies ein schwarzer VW-Bus. Weder auf dem (nicht existenden) Privatfahrzeug noch auf dem Dienstwagen befindet sich ein Aufkleber von Großungarn. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass Viktor Orbán – dies hatten linke Zeitungen und der Fernsehsender TV2 im Jahre 2005 „aufgedeckt“, auf seinem Golf 4 (Jandl: „nobles Privatfahrzeug“…) einen Aufkleber hatte, der Ungarn in den Grenzen vor Trianon abbildete. Dass man versucht, alte Kamellen wahllos in die Gegenwart zu übertragen, um das Bild des „geschichtsblinden Zynikers Orbán“ zu bestärken, belegt die Intention des Autors. Und obwohl es unnötig ist, darauf hinzuweisen: Nicht jeder Großungarn-Aufkleber ist zwingender Hinweis auf die irredentistische Haltung des Fahrzeughalters (auch wenn mich manch einer postwendend für diese These kritisieren wird). Dass Teile der Presse dies anders sehen, konnten wir am „Teppich-Skandal“ ablesen.

2. „Nationalstolz wird mit dem letzte Woche verabschiedeten neuen Grundgesetz zur Bürgerpflicht, ebenso wie Christentum und Familienerhalt.“

Das neue Grundgesetz schützt Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und enthält keine Aussage, aus der man ableiten könnte, „Nationalstolz“, insbesondere aber „Christentum und Familienerhalt“ würde zur Bürgerpflicht. Das Christentum wird in der Präambel in seiner nur schwer bestreitbaren historischen Rolle für Ungarn erwähnt, ebenso aber wird die Wertschätzung der anderen religiösen Traditionen des Landes betont. Eine Pflicht zum Familienerhalt findet sich selbstverständlich an keiner Stelle. Gehen derartige Behauptungen deswegen so leicht von der Hand, weil man weiß, dass die Leser diese wegen der Sprachbarriere schwer auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können?

Was steht denn in der Verfassung? Von einer „Pflicht zum Familienerhalt“ nichts. Wenden wir uns also gleich dem Thema Religion und Bekenntnis zu:

Die Präambel hierzu: „Wir anerkennen die Nation erhaltende Rolle des Christentums. Wir wertschätzen die verschiedenen religiösen Traditionen unseres Landes.“

Wer in dieser Passage eine Höherstellung des Christentums in der Gegenwart erkennen will, den könnte Artikel VI Absatz 1 beruhigen:

(1) Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und des Glaubensfreiheit. Dieses Recht umfasst die freie Wahl oder Änderung der Religion oder sonstigen Überzeugung und die Freiheit, seinen Glauben oder seine anderweitige Überzeugung durch religiöse Handlungen und Rituale oder auf sonstige Weise – sei es individuell oder mit anderen gemeinsam – öffentlich oder in seinem Privatleben zu bekennen, nicht zu bekennen, auszuüben, oder zu unterrichten.“

Bürgerpflicht zum Christentum? Wohl kaum. Und auch wenn die Präambel den „Stolz auf die Nation“ in ungewohntem und schwer verdaulichem Pomp hervorhebt, sind nach dem Wortlaut der Verfassung die Gedanken frei: Keiner kann also gezwungen werden, Nationalstolz zu empfinden.

3. „Das Parlament kann der aus Orbán-treuen Mitgliedern bestehende Haushaltsrat jederzeit auflösen, wenn auch nur der Verdacht besteht, dass das Budget nicht den neuen Verfassungsnormen entspricht.“

Ist die regierende Mehrheit in Ungarn von allen guten Geistern verlassen? Ein aus drei Personen bestehender „Haushaltsrat“, der das ganze demokratisch gewählte Parlament auflösen kann? Sehen wir uns doch einmal den Wortlaut der Verfassung an:

Artikel 44
(1) Der Haushaltsrat ist ein die Gesetzgebung des Parlaments unterstützendes Organ, der die Begründung des zentralen Staatshaushalts prüft.
(2) Der Haushaltsrat wirkt auf gesetzlich festgelegte Weise an der Vorbereitung des Gesetzes über den zentralen Staatshaushalt mit.
(3) Zur Annahme des zentralen Staatshaushalts ist die vorangehende Zustimmung des Haushaltsrats im Interesse der Einhaltung der Bestimmungen des Artikels 36 Absatz (4) und (5) erforderlich.
(4) Mitglieder des Haushaltsrats sind der Präsident des Haushaltsrats, der Präsident der Ungarischen Nationalbank und der Präsident des Staatsrechnungshofs. Der Präsident des Haushaltsrats wird vom Präsidenten der Republik für sechs Jahre ernannt.
(5) Die ausführlichen Regeln über die Arbeitsweise des Haushaltsrats werden durch Schwerpunktgesetz festgelegt.“

Der Haushaltsrat hat kein Recht, das Parlament aufzulösen. Jandls Behauptung ist falsch.

4. „Die Verfassungsrichter wurden ausgetauscht, die Medien einem strengen Mediengesetz unterworfen, über dessen Einhaltung Fidesz-Zensoren wachen.“

Die Kritik am Mediengesetz wurde lang und breit – auch hier – diskutiert. Wir wollen uns der Behauptung zuwenden, „die Verfassungsrichter“ seien ausgetauscht worden. Eine weitere Unwahrheit. Im Jahr 2010 wurden turnusmäßig zwei von elf Verfassungsrichtern ersetzt, weil ihre Amtszeit abgelaufen war. Der Staatspräsident ernannte daraufhin die beiden Juristen Stumpf und Bihari zu deren Nachfolgern. Dass „die“ Verfassungsrichter ausgetauscht worden seien, ist somit unzutreffend.

5. „Ein besonders paradoxes Bespiel, das den Erfindern des Mutterkreuzes Ehre gemacht hätte, war die Idee, Müttern doppeltes Wahlrecht zu geben. Sie wurde in letzter Minute aus dem Grundgesetz gekippt.“

Mutterkreuz? Ein plumper Versuch, Ungarns Regierung in die Nähe der Nationalsozialisten zu rücken. Die konsequente Fortsetzung der „Führerstaat Ungarn“ – Kampagne. Zwei Dinge sind von Bedeutung: Die ursprüngliche Idee, dass die Verfassung die Möglichkeit gibt, Müttern ein Mehrfachwahlrecht einzuräumen, wurde zu Recht kritisiert und – nach einem mehrheitlichen Votum der Bevölkerung gegen dieses Konstrukt – verworfen. Der Vergleich mit dem durch Adolf Hitler persönlich gestifteten (d.h. „erfundenen“) Mutterkreuz ist in Anbetracht der fehlenden Umsetzung dieser Idee nicht nur sinnlos, sondern auch böswillig. Niemand geringeres als die deutschen Grünen und die deutsche CDU/CSU hatten selbst einmal über derartiges (laut) nachgedacht. Die Nazivergleiche aus Wien blieben damals aus.

6. „Und manche Angst sitzt tief. Als vor zwei Wochen der schwedische Schriftsteller Per Olof Enquist Ehrengast bei der Budapester Buchwoche war, kam es zum Eklat. Eine Journalistin hatte ihn bei einer Podiumsdiskussion nach seiner Einschätzung der Lage in Ungarn gefragt und handelte sich dafür massive Drohungen des Veranstalters ein. Wer sich noch nicht fürchtet, dem wird schon einmal die Rute ins Fenster gestellt.“

Diese Horrorgeschichte konnte durch mich leider nicht nachvollzogen werden. Möglicher Weise können die Leser insoweit mehr Informationen entdecken, ich werde entsprechendes gerne posten. Von einer „Bedrohung“ gegenüber Journalisten spricht selbst die bekannt linksoppositionelle und sehr regierungskritische „Népszava“ in ihrem Beitrag zur Preisverleihung nicht. Ich gehe davon aus, dass die Népszava, wäre es tatsächlich zu einem „Eklat“ gekommen, dies feinsäuberlich aufgetischt hätte (ebenso wie die „Eklats“ in Berlin und Stockholm in den vergangenen Wochen).

7. „Fidesz schreckt vor nichts zurück, und alle anderen sollen sich fürchten. Ist das schon ein Programm? Für eine Gruppierung, die sich in den letzten zehn Jahren von einer braven bis liberalen politischen Marginalie zur zynisch-pragmatischen Führerpartei entwickelt hat, vielleicht.“

Fidesz als „Gruppierung“, die sich „in den letzten zehn Jahren von einer braven bis liberalen Marginalie“ zur „Führerpartei“ gewandelt hat? Bemerkenswert. Nun, wir schreiben das Jahr 2011. Der von Jandl angesprochene Zeitraum beginnt also 2001, als Fidesz und Orbán bereits einmal an der Regierung waren. Schon damals wurde Fidesz als „nationalistisch“, keineswegs aber als „brav bis liberal“ und schon gar nicht als „Marginalie“ bezeichnet. Versucht Jandl zu vertuschen, dass man Fidesz seit beinahe 15 Jahren das selbe vorwirft?
Dass eine Regierungspartei und danach als größte Oppositionsfraktion tätige Volkspartei eine „Marginalie“ gewesen sein soll, ist bestenfalls eine humoristisch wertvolle Anmerkung. Sie deutet an, dass der Autor von den politischen Verhältnissen in Ungarn keine Ahnung zu haben scheint. So bleibt natürlich auch die Ursache für den gewaltigen Erfolg des Fidesz im Jahre 2010 im Verborgenen. Tatsache ist, dass Fidesz bereits vor über zehn Jahren mit wüstem Nationalismusvorwürfen konfrontiert wurde. Wir befinden uns insoweit in der Phase 2.0. Die damalige Regierungszeit hat die Welt nicht zum Einsturz gebracht, sondern – it´s the economy, stuid! – einen Rückgang der Staatsverschuldung auf 53% des BIP; was die Sozialisten und Liberalen nicht davon abhielt, das Defizit bis 2010 wieder auf 80% des BIP explodieren zu lassen. Warum also wird Fidesz wohl erneut gewählt worden sein, Herr Jandl?

8. „Jetzt heißt es: Wer nicht durch und durch Ungar ist, der soll hier nicht sein. Es gibt den Feind im eigenen Land, die ethnischen Minderheiten, Roma und Juden. Wenn wir nicht schon in der EU wären, heute würde man uns nicht mehr hineinlassen“, sagt Sandór Radnóti und schaut aus dem Fenster seine (sic!) Arbeitszimmers hinüber aufs Budaer Ufer der Donau, wo sich die Monumente der ungarischen Geschichte friedlich aneinanderreihen. Tatsächlich stellt Ungarn mit seiner neuen Verfassung das EU-Prinzip entschärfter nationaler Gegensätze auf den Kopf.

Wie treffsicher sind derartigeVorwürfe, wenn man bedenkt, dass Ungarn ein sehr weit reichendes Minderheitenrecht hat, dass z.B. die Bildung von Selbstverwaltungskörperschaften auf beinahe allen Ebenen der Staatsverwaltung erlaubt? Ein Minderheitenrecht wie in Ungarn ist in keinem der umliegenden Länder in Kraft. Zudem werden die Minderheiten von der Verfassung ausdrücklich als „Teil der politischen Gemeinschaft“ bezeichnet. Ausgrenzungsvorwürfe, die Jandl jedenfalls nicht mit der geltenden Rechtslage belegen kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Wer die neue ungarische Verfassung kritisieren möchte, wird zahlreiche Punkte finden, die man an dem Text aussetzen kann. Christian Boulanger und Max Steinbeis haben dies in ihrem ZEIT-Beitrag bewiesen. Der Autor Jandl jedoch möchte, offenbar wegen seiner fehlenden Detailkenntnis, lieber die „große Story“ von der Diktatur erzählen. Dass es in Ungarn genug Menschen gibt, die man, wenn man diese Intention hat, als „Beleg“ anführen kann, mag sein. Recht haben muss Jandl mit seinem bedauerlicher Weise auch auf unwahren Tatsachenbehauptungen aufbauenden Zerrbild dennoch nicht. Die WELT hat es sich offenbar zum Ziel gesetzt, die Mär vom „Führerstaat Ungarn“ weiter zu pflegen – derartiges hat übrigens auch Péter Eszterházy als „haarsträubend“ bezeichnet.

Gesetzesänderung soll illegale „Bürgerwehren“ mit Geldbuße belegen

Nach einer am Freitag, den 22.04.2011 im Gesetzes- und Verordnungsblatt (Magyar Közlöny) veröffentlichten und am Samstag, den 23.04.2011 (0 Uhr) in Kraft getretenen Gesetzesänderung wird die illegale Betätigung in einer Bürgerwehr fortan mit einer Geldbuße von bis zu 100.000 Forint geahndet.

http://kozlony.magyarorszag.hu/pdf/8926

(„Verordnung Nr. 67/2011. der Regierung vom 22.04.2011 betreffend die Änderung der Verordnung über einzelne Ordnungswidrigkeiten Nr.  218/1999. vom 28.12.1999„)

§ 2 der jetzt beschlossenen Verordnung im Wortlaut:

Unberechtigte Ausübung von Aufgaben der Öffentlichen Sicherheit
§ 10/D

(1) Wer auf öffentlichem Grund oder in der Öffentlichkeit eine Tätigkeit ausübt, die auf die Aufrechterhaltung der Öffentlichen Ordnung abzielt, ohne über die hierfür erforderliche gesetzliche Befugnis zu verfügen, kann mit Geldbuße bis zu 100.000 Forint belegt werden.
(2) Das Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten nach Absatz (1) fällt in die Zuständigkeit der Polizei.

Die Verordnung dient dazu, dem Treiben rechtsradikaler „Bürgerwehren“ ein Ende zu bereiten. Anfang März 2011 hatten mehrere hundert Personen aus der rechtsextremen Szene Ungarns den Ort Gyöngyöspata „besetzt“, um dort – wie sie selbst kundtat – gegen die „Zigeunerkriminalität“ vorzugehen. Das Treiben der „Bürgerwehren“ hatte im In- und Ausland große Aufmerksamkeit erregt.  Für das Osterwochenende hatte die Gruppierung „Véderö“ („Wehrmacht“) zu einer militärischen Übung auf einem Privatgrundstück im Ort aufgerufen. Die Polizei intervenierte und löste das Treffen auf.

Weitere Quelle:

http://mti.hu/cikk/2011/04/22/penzbirsaggal_sujthato-_aki_jogosulatlanul_vegez_kozbiztonsagi_tevekenyseget-540465