Verfassungsentwurf: Stellungnahme der Venedig-Kommission verfügbar

Die Stellungnahme der Venedig-Kommission, dem für Verfassungsfragen zuständigen Beratungsorgan des Europarates, zum ungarischen Grundgesetzentwurf ist online verfügbar:

http://www.venice.coe.int/docs/2011/CDL-AD(2011)001-e.pdf

Die Kommission betont, dass es legitimes Ziel Ungarns sei, sich eine neue Verfassung zu geen. Gleichwohl übt das Gremium, dem auch der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem angehört, Kritik: Dies gilt im Wesentlichen für das hohe Tempo des Verfassungsgebungsprozesses, die aus Sicht der Verfassungsexperten fehlende Transparenz sowie die Beschneidung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtes. Zudem gibt das Gremium zu bedenken, ob die Abschaffung der „Popularklage“ zur Beschränkung der Arbeitsbelastung des Verfassungsgerichtes im Lichte der Verfassungstradition Ungarns sinnvoll sei – eine Abschaffung der actio popularis stelle zwar keine Verletzung europäischer Verfassungsstandards dar, es sei jedoch sinnvoll, für gleichwertigen Ersatz des wegfallenden Rechtsschutzinstruments zu sorgen.

Neue Verfassung: Was geschieht mit den bisherigen Entscheidungen des Verfassungsgerichtes?

Es ist eine der juristisch interessantesten Fragen rund um die neue Verfassung: Was geschieht mit den Entscheidungen des Verfassungsgerichts , die in den vergangenen 22 Jahren ergangen sind? Gelten sie weiter, so müssten sie – im Rang den einfachen Gesetzen gleichgestellt – weiterhin vom Gesetzgeber beachtet werden. Zweifel an der Fortgeltung wirft die Präambel der neuen Verfassung selbst auf, in der die bisherige Verfassung als Relikt aus dem Jahre 1949 abgelehnt wird. Aber trifft diese Wertung auch für die Entscheidungen des Gerichts zu? Die vollständige Außerkraftsetzung wäre aus Sicht des Juristen mit der Formatierung einer Festplatte vergleichbar, die wertvolle Arbeit von mehr als zwei Jahrzehnten ginge mit einem Schlag verloren.

Bislang gibt es – trotz der kurz vor dem Ende stehenden Beratungen – noch keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob die Arbeit des Verfassungsgerichtes auch für die Zukunft fruchtbar gemacht werden kann. So etwa bei der Auslegung von Grundrechten.  Rechtssystematisch festzustehen scheint nur, dass Entscheidungen auf Basis von Verfassungsregelungen, die es im neuen Grundgesetz nicht mehr gibt, nicht mehr weiter gelten.

Das Online-Portal Origo.hu hat einen längeren Beitrag zum Thema verfasst, der nachfolgend größtenteils in deutscher Sprache wiedergegeben werden soll:

Werden die bisherigen Entscheidungen des Verfassungsgerichts unter den Teppich gekehrt?

Die Verabschiedung der neuen Verfassung stellt die Gültigkeit von 22 Jahren verfassungsrechtlicher Praxis grundsätzlich in Frage.  Nach einer Auffassung sollte man die über Jahre angehäuften, als Präzedenzrecht geltenden Entscheidungen  aufheben, allerdings sind diese Entscheidungen zum Teil ohnehin in den Grundgesetzentwurf der Regierungsparteien   eingebaut worden. Nach einer anderen Meinung brächte die Aufhebung nur wenig, die Verfassungsrichter würden zu Hause trotzdem in den alten Entscheidungen blättern.

„Das Verfassungsgericht muss seine Arbeit fortsetzen, die darin besteht, die Verfassung und die in ihr verkörperten Rechtsgrundsätze in seinen Entscheidungen auszulegen, und es muss mit seinen Entscheidungen ein koheräntes System errichten“ – mit diesen Worten umschrieb László Sólyom, der erste Präsident des Verfassungsgerichts (VerfG), in seinem Sondervotum zur Entscheidung über die Abschaffung der Todesstrafe, im Jahre 1989 den Grundsatz der „unsichtbaren Verfassung“.

Das VerfG hat seit 1989 eine riesige Menge an Entscheidungen erlassen und daraus ein eigenes Fallrecht entwickelt.  Das Organ greift auf dieses in seiner täglichen Praxis zurück: Die Richter berufen sich – bei internen Meinungsverschiedenheiten – zumeist auf diese Entscheidungen, und auch die Begründungen enthalten Zitate früherer Entscheidungen. Obwohl es schon Beispiele dafür gab, dass das Gericht seine frühere Praxis änderte, beruhen die Entscheidungen zumeist – auch in den alltäglichen, von der Öffentlichkeit nicht bewusst wahrgenommenen Verfahren – automatisch auf vorangegangenen.

Obwohl der für die Annahme durch das Parlament vorgesehene Grundgesetzentwurf der Regierungsparteien im seinen grundlegenden Punkten auf ähnlichen Grundsätzen aufbaut wie die aktuell in Kraft befindliche Verfassung, werden sich die Grundrechte und die Regelungen zum Staatsorganisationsrecht in einigen Punkten ändern. Dies wirft die Frage auf, was mit den früheren Entscheidungen des Verfassungsgerichts geschieht: Dürfen die Verfassungsrichter in Zukunft darauf zurückgreifen, oder muss man ein neues Kapitel aufschlagen und die Bewertung der Verfassung völlig von Neuem beginnen?

„Wir brauchen den Bruch“

Bereits zu Beginn der Verfassungsgebung meldeten sich die Kritiker des VerfG zu Wort, und traten dafür ein, die in den letzten 22 Jahren ergangenen Entscheidungen zu entsorgen. Deutlichster Befürworter dieses Ansatzes war der Universitätsprofessor Béla Pokol, ein ehemaliger Abgeordneter der Kleinlandwirtepartei, der im vergangenen August in der Magyar Nemzet schrieb: „Wenn das Parlament es mit der neuen Verfassung ernst meint, muss man auf irgendeine Weise sicherstellen, dass es einen Bruch mit den alten Entscheidungen gibt.“

Nach der Auffassung Pokols habe das VerfG nichts anderes getan, als unter Berufung auf den Rechtsstaat die Bewegungsfreiheit des demokratisch gewählten Parlaments und der Regierung zu beschränken. Im März 2011 schrieb er, dass bereits zu Beginn der 1990-er Jahre „die Legislative auf Grundlage abstrakter Theorien und Grundrechte zurückgedrängt worden sei, die auf den Sichtweisen der linksliberalen Opposition basierten, und die von Beratern des VerfG in seine Entscheidungen aufgenommen wurden.“

Als Beispiel verwies Pokol darauf, dass das VerfG schon in einem seiner ersten Entscheidungen den Grundsatz der Gewaltenteilung betont hatte und sich seitdem auf diesen beruft, obwohl dieser Grundsatz in der geschriebenen Verfassung nicht genannt wird. Das VerfG leitete diesen Grundsatz aus dem Umstand ab, dass die Republik Ungarn ein Rechtsstaat sei, wie es auch das Grundgesetz zum Ausdruck bringe, und auch andere parlamentarische Systeme so funktionierten. Der von den Regierungsparteien eingebrachte Verfassungsentwurf legt übrigens selbst  fest, dass „der Staat Ungarn auf dem Grundsatz der Gewaltenteilung basiert.“

Chaos droht

„Im Augenblick gibt es keinen Anhaltspunkt bezüglich der Frage, was mit den alten Entscheidungen passiert“ – sagte der ehemalige Verfassungsrichter Géza Kilényi, der die Ansicht vertritt, dass es in jedem Fall die Aufgabe des Gesetzgebers sei, diese Frage zu beantworten, andernfalls drohten ernsthafte Unsicherheiten. Als Beispiel nannte er Rumänien, wo bereits zu Beginn der 1990-er Jahre in der neuen Verfassung ausgesprochen worden sei, dass jede der Verfassung widersprechende Entscheidung ihre Gültigkeit verliere. Allerdings wusste niemand, welche frühere Rechtsvorschrift der Verfassung widersprach.

Kilényi sprach davon, dass er als Verfassungsrichter seine Kollegen in Bukarest besucht habe, wo säckeweise Anträge eingegangen seien, in denen die Frage aufgeworfen worden sei, ob bestimmte Vorschriften noch angewendet werden dürften. Das rumänische Gericht jedoch wies die Anträge zurück mit der Begründung, dass es nur befugt sei, diejenigen Rechtsvorschriften zu prüfen, die nach Inkrafttreten der Verfassung verabschiedet wurden. Nachdem die Regierung keine Hilfe leistete, beherrschte Chaos und Rechtsunsicherheit die juristische Praxis.

Dem früheren Verfassungsrichter zufolge wäre es korrekt, es dem VerfG zu überlassen, seine eigenen Entscheidungen einer Überprüfung zu unterziehen. Selbst dann, wenn dies eine riesige Aufgabe wäre, denn in den vergangenen mehr als 20 Jahren wurden ganze LKW-Ladungen an Entscheidungen getroffen. Kilényi zufolge könne ein Teil davon ohne weiteres in Kraft bleiben, nachdem der Grundgesetzentwurf vieles wörtlich übernimmt, was in der heutigen Verfassung steht. Es werde jedoch zweifellos auch solche Entscheidungen geben, die man auf Grundlage des neuen Grundgesetzes nur teilweise oder auch gar nicht verwerten könne.

Logische Kontinuität

Der Grundgesetzentwurf der Regierungsparteien beschränkt bzw. modifiziert an mehreren Stellen den Zuständigkeitsbereich des VerfG, regelt aber nicht, was mit den früheren Entscheidungen geschehen soll. Es scheint möglich, dass diese Frage von einem heute noch nicht bekannten Gesetz über das Verfassungsgericht geregelt werden wird, offiziell hat sich mit dieser Frage aber bislang noch niemand beschäftigt. So scheint es am wahrscheinlichsten, dass das VerfG in jedem Fall zu prüfen haben wird, ob die in früheren Entscheidungen herangezogenen Argumente auch zukünftig verwertet werden dürfen.

László Salamon, der christdemokratische Vorsitzende des mit der Vorbereitung der Verfassung befassten Ausschusses erklärte auf Nachfragen von Origo.hu, dass die früheren Entscheidungen dann nicht verwertet werden dürften, wenn diese auf konkrete Paragraphen Bezug nehmen, denn diese hätten sich verändert, jedenfalls seien sie im neuen Grundgesetz an anderer Stelle zu finden. Seiner Meinung nach werden jedoch voraussichtlich die logischen Schlüsse des VerfG weiter Geltung entfalten, in denen  das Gericht einzelne Grundrechte oder die Vorschriften über die Funktion des Staates ausgelegt hat.

Salamon verwies auch darauf, dass der Grundgesetzentwurf mehrere Elemente der bisherigen VerfG-Praxis enthalten und diese dem Wortlaut nach in die neue Verfassung aufgenommen würden. Dazu gehöre etwa die Verhältnismäßigkeitsprüfung,  der zufolge man Grundrechte nur beschränken dürfe, wenn dies im Lichte anderer Grundrechte und des Schutzes der  verfassungsmäßigen Ordnung vertretbar sei; zudem dürfe der Eingriff nicht über das notwendige Maß hinausgehen und müsse im Hinblick auf das zu erreichende Eingriffsziel verhältnismäßig sein. (…)

Gerichte

Das Verbot, auf seine früheren Entscheidungen zurückzugreifen, könnte nicht nur die Arbeit des VerfG erschweren, denn auch die übrigen Gerichte greifen in ihren Urteilen unmittelbar auf die Urteile des VerfG zurück. Bei Prozessen um die Verletzung von Persönlichkeitsrechten oder im Zusammenhang mit Verleumdung kommt regelmäßig jene Entscheidung aus 1994 zum Vorschein, in der das Gericht zum Ausdruck brachte, dass Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträger schärfere Kritik vertragen müssen als andere Menschen. Kelényi glaubt, man müsse abwarten, was das Grundgesetz selbst regelt, wenn der Text gleich bleibe, könne man voraussichtlich auch in Zukunft die bisherigen Entscheidungen verwerten.

Obwohl der Grundgesetzentwurf dazu führen könnte, dass die Richter sich auf einen Teil von VerfG-Entscheidungen nicht mehr berufen können, sind diese längst Teil der Rechtsprechungspraxis geworden. Des öfteren nehmen die Gerichte gar nicht mehr auf VerfG-Entscheidungen, sondern auf solche des Obersten Gerichtshofes und die Rechtsmittelgerichte Bezug, die wiederum auf VerfG-Urteilen aufbauten. (…)

„Es geschieht wohl im Verborgenen“

Die grundlegendsten Rechte werden wörtlich in das neue Grundgesetz übernommen: Es schützt das Leben und die Menschenwürde und legt fest, dass Ungarn ein „unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat“ ist. Bei der Bewertung dieser Aussagen wird man auch zukünftig auf die Rechtsprechung des VerfG und die darin enthaltenen Argumente zurückgreifen können. Auf einer zu Beginn des Jahres abgehaltenen Konferenz namhafter Juristen wurde davon gesprochen, dass die Richter jedenfalls zu Hause, „unter der Bettdecke“, die früheren Entscheidungen des VerfG lesen werden, denn von irgend einem Punkt muss man die neue Bewertung beginnen. (…)

Änderungen bei der Tragung der öffentlichen Lasten

Im Grundgesetzentwurf gibt es ein Sachgebiet, die öffentliche Lastentragung, in dem die Regierungsparteien Begriffe verwenden, die zu der aktuellen Praxis des VerfG im Gegensatz steht. Nach der aktuellen Verfassung muss sich jedermann entsprechend seiner „Vermögens- und Einkommenssituation“ an der Tragung der öffentlichen Lasten beteiligen, wohingegen in dem Entwurf die „Fähigkeit zur Lastentragung“ hervorgehoben wird. Wenn bislang Steuergesetze für nichtig erklärt wurden, geschah dies in der Regel nicht wegen der Steuerlast, seit 2006 hat sich jedoch hier eine Änderung ergeben. (…) Im Jahr 2010 mischte sich das Gericht auch in den Steuersatz ein, als es urteilte, dass die auf Abfindungen erhobene 98%-Sondersteuer „einen enormen Umfang erreicht und einer Bestrafung gleichkommt“. Im Grundgesetzentwurf engt sich der Spielraum für solche Entscheidungen ein, denn den Plänen zufolge soll das Gericht im Rahmen der nachträglichen (abstrakten) Normenkontrolle nicht mehr über Haushaltsgesetze entscheiden können.