WELT: „Fidesz über alles“

Der WELT-Kulturjournalist Paul Jandl schreibt in der WELT Online über ein „Land des rasenden Stillstands.“ Was hat Jandl mitzuteilen? Nun, das für die WELT übliche Zerrbild Ungarns, interviewt wurden diesmal Sándor Radnóti, Péter Eszterházy und (immerhin ein Lichtblick!) Krisztián Ungváry.

http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article13265110/Fidesz-ueber-alles.html

Nachfolgend einige Aussagen Jandls:

1. „Aufs Tuning kommt es an. Über Ungarns Landstraßen tuckern lang vor der Wende gebaute Autos, die mit dem noblen Privatwagen von Regierungschef Viktor Orbán wenigstens eines gemeinsam haben. Am Heck prangt ein Aufkleber mit den Umrissen Großungarns.“

Am Heck prangt. Wohlgemerkt im Präsens. Der Artikel beginnt mit einer nachweisbaren Unwahrheit. Nicht nur, dass Viktor Orbán derzeit keinen „noblen Privatwagen“, sondern ausweislich seines Vermögensberichtes überhaupt keinen Privatwagen besitzt. Er fährt mit seinem Dienstwagen herum, zuletzt war dies ein schwarzer VW-Bus. Weder auf dem (nicht existenden) Privatfahrzeug noch auf dem Dienstwagen befindet sich ein Aufkleber von Großungarn. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass Viktor Orbán – dies hatten linke Zeitungen und der Fernsehsender TV2 im Jahre 2005 „aufgedeckt“, auf seinem Golf 4 (Jandl: „nobles Privatfahrzeug“…) einen Aufkleber hatte, der Ungarn in den Grenzen vor Trianon abbildete. Dass man versucht, alte Kamellen wahllos in die Gegenwart zu übertragen, um das Bild des „geschichtsblinden Zynikers Orbán“ zu bestärken, belegt die Intention des Autors. Und obwohl es unnötig ist, darauf hinzuweisen: Nicht jeder Großungarn-Aufkleber ist zwingender Hinweis auf die irredentistische Haltung des Fahrzeughalters (auch wenn mich manch einer postwendend für diese These kritisieren wird). Dass Teile der Presse dies anders sehen, konnten wir am „Teppich-Skandal“ ablesen.

2. „Nationalstolz wird mit dem letzte Woche verabschiedeten neuen Grundgesetz zur Bürgerpflicht, ebenso wie Christentum und Familienerhalt.“

Das neue Grundgesetz schützt Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und enthält keine Aussage, aus der man ableiten könnte, „Nationalstolz“, insbesondere aber „Christentum und Familienerhalt“ würde zur Bürgerpflicht. Das Christentum wird in der Präambel in seiner nur schwer bestreitbaren historischen Rolle für Ungarn erwähnt, ebenso aber wird die Wertschätzung der anderen religiösen Traditionen des Landes betont. Eine Pflicht zum Familienerhalt findet sich selbstverständlich an keiner Stelle. Gehen derartige Behauptungen deswegen so leicht von der Hand, weil man weiß, dass die Leser diese wegen der Sprachbarriere schwer auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können?

Was steht denn in der Verfassung? Von einer „Pflicht zum Familienerhalt“ nichts. Wenden wir uns also gleich dem Thema Religion und Bekenntnis zu:

Die Präambel hierzu: „Wir anerkennen die Nation erhaltende Rolle des Christentums. Wir wertschätzen die verschiedenen religiösen Traditionen unseres Landes.“

Wer in dieser Passage eine Höherstellung des Christentums in der Gegenwart erkennen will, den könnte Artikel VI Absatz 1 beruhigen:

(1) Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und des Glaubensfreiheit. Dieses Recht umfasst die freie Wahl oder Änderung der Religion oder sonstigen Überzeugung und die Freiheit, seinen Glauben oder seine anderweitige Überzeugung durch religiöse Handlungen und Rituale oder auf sonstige Weise – sei es individuell oder mit anderen gemeinsam – öffentlich oder in seinem Privatleben zu bekennen, nicht zu bekennen, auszuüben, oder zu unterrichten.“

Bürgerpflicht zum Christentum? Wohl kaum. Und auch wenn die Präambel den „Stolz auf die Nation“ in ungewohntem und schwer verdaulichem Pomp hervorhebt, sind nach dem Wortlaut der Verfassung die Gedanken frei: Keiner kann also gezwungen werden, Nationalstolz zu empfinden.

3. „Das Parlament kann der aus Orbán-treuen Mitgliedern bestehende Haushaltsrat jederzeit auflösen, wenn auch nur der Verdacht besteht, dass das Budget nicht den neuen Verfassungsnormen entspricht.“

Ist die regierende Mehrheit in Ungarn von allen guten Geistern verlassen? Ein aus drei Personen bestehender „Haushaltsrat“, der das ganze demokratisch gewählte Parlament auflösen kann? Sehen wir uns doch einmal den Wortlaut der Verfassung an:

Artikel 44
(1) Der Haushaltsrat ist ein die Gesetzgebung des Parlaments unterstützendes Organ, der die Begründung des zentralen Staatshaushalts prüft.
(2) Der Haushaltsrat wirkt auf gesetzlich festgelegte Weise an der Vorbereitung des Gesetzes über den zentralen Staatshaushalt mit.
(3) Zur Annahme des zentralen Staatshaushalts ist die vorangehende Zustimmung des Haushaltsrats im Interesse der Einhaltung der Bestimmungen des Artikels 36 Absatz (4) und (5) erforderlich.
(4) Mitglieder des Haushaltsrats sind der Präsident des Haushaltsrats, der Präsident der Ungarischen Nationalbank und der Präsident des Staatsrechnungshofs. Der Präsident des Haushaltsrats wird vom Präsidenten der Republik für sechs Jahre ernannt.
(5) Die ausführlichen Regeln über die Arbeitsweise des Haushaltsrats werden durch Schwerpunktgesetz festgelegt.“

Der Haushaltsrat hat kein Recht, das Parlament aufzulösen. Jandls Behauptung ist falsch.

4. „Die Verfassungsrichter wurden ausgetauscht, die Medien einem strengen Mediengesetz unterworfen, über dessen Einhaltung Fidesz-Zensoren wachen.“

Die Kritik am Mediengesetz wurde lang und breit – auch hier – diskutiert. Wir wollen uns der Behauptung zuwenden, „die Verfassungsrichter“ seien ausgetauscht worden. Eine weitere Unwahrheit. Im Jahr 2010 wurden turnusmäßig zwei von elf Verfassungsrichtern ersetzt, weil ihre Amtszeit abgelaufen war. Der Staatspräsident ernannte daraufhin die beiden Juristen Stumpf und Bihari zu deren Nachfolgern. Dass „die“ Verfassungsrichter ausgetauscht worden seien, ist somit unzutreffend.

5. „Ein besonders paradoxes Bespiel, das den Erfindern des Mutterkreuzes Ehre gemacht hätte, war die Idee, Müttern doppeltes Wahlrecht zu geben. Sie wurde in letzter Minute aus dem Grundgesetz gekippt.“

Mutterkreuz? Ein plumper Versuch, Ungarns Regierung in die Nähe der Nationalsozialisten zu rücken. Die konsequente Fortsetzung der „Führerstaat Ungarn“ – Kampagne. Zwei Dinge sind von Bedeutung: Die ursprüngliche Idee, dass die Verfassung die Möglichkeit gibt, Müttern ein Mehrfachwahlrecht einzuräumen, wurde zu Recht kritisiert und – nach einem mehrheitlichen Votum der Bevölkerung gegen dieses Konstrukt – verworfen. Der Vergleich mit dem durch Adolf Hitler persönlich gestifteten (d.h. „erfundenen“) Mutterkreuz ist in Anbetracht der fehlenden Umsetzung dieser Idee nicht nur sinnlos, sondern auch böswillig. Niemand geringeres als die deutschen Grünen und die deutsche CDU/CSU hatten selbst einmal über derartiges (laut) nachgedacht. Die Nazivergleiche aus Wien blieben damals aus.

6. „Und manche Angst sitzt tief. Als vor zwei Wochen der schwedische Schriftsteller Per Olof Enquist Ehrengast bei der Budapester Buchwoche war, kam es zum Eklat. Eine Journalistin hatte ihn bei einer Podiumsdiskussion nach seiner Einschätzung der Lage in Ungarn gefragt und handelte sich dafür massive Drohungen des Veranstalters ein. Wer sich noch nicht fürchtet, dem wird schon einmal die Rute ins Fenster gestellt.“

Diese Horrorgeschichte konnte durch mich leider nicht nachvollzogen werden. Möglicher Weise können die Leser insoweit mehr Informationen entdecken, ich werde entsprechendes gerne posten. Von einer „Bedrohung“ gegenüber Journalisten spricht selbst die bekannt linksoppositionelle und sehr regierungskritische „Népszava“ in ihrem Beitrag zur Preisverleihung nicht. Ich gehe davon aus, dass die Népszava, wäre es tatsächlich zu einem „Eklat“ gekommen, dies feinsäuberlich aufgetischt hätte (ebenso wie die „Eklats“ in Berlin und Stockholm in den vergangenen Wochen).

7. „Fidesz schreckt vor nichts zurück, und alle anderen sollen sich fürchten. Ist das schon ein Programm? Für eine Gruppierung, die sich in den letzten zehn Jahren von einer braven bis liberalen politischen Marginalie zur zynisch-pragmatischen Führerpartei entwickelt hat, vielleicht.“

Fidesz als „Gruppierung“, die sich „in den letzten zehn Jahren von einer braven bis liberalen Marginalie“ zur „Führerpartei“ gewandelt hat? Bemerkenswert. Nun, wir schreiben das Jahr 2011. Der von Jandl angesprochene Zeitraum beginnt also 2001, als Fidesz und Orbán bereits einmal an der Regierung waren. Schon damals wurde Fidesz als „nationalistisch“, keineswegs aber als „brav bis liberal“ und schon gar nicht als „Marginalie“ bezeichnet. Versucht Jandl zu vertuschen, dass man Fidesz seit beinahe 15 Jahren das selbe vorwirft?
Dass eine Regierungspartei und danach als größte Oppositionsfraktion tätige Volkspartei eine „Marginalie“ gewesen sein soll, ist bestenfalls eine humoristisch wertvolle Anmerkung. Sie deutet an, dass der Autor von den politischen Verhältnissen in Ungarn keine Ahnung zu haben scheint. So bleibt natürlich auch die Ursache für den gewaltigen Erfolg des Fidesz im Jahre 2010 im Verborgenen. Tatsache ist, dass Fidesz bereits vor über zehn Jahren mit wüstem Nationalismusvorwürfen konfrontiert wurde. Wir befinden uns insoweit in der Phase 2.0. Die damalige Regierungszeit hat die Welt nicht zum Einsturz gebracht, sondern – it´s the economy, stuid! – einen Rückgang der Staatsverschuldung auf 53% des BIP; was die Sozialisten und Liberalen nicht davon abhielt, das Defizit bis 2010 wieder auf 80% des BIP explodieren zu lassen. Warum also wird Fidesz wohl erneut gewählt worden sein, Herr Jandl?

8. „Jetzt heißt es: Wer nicht durch und durch Ungar ist, der soll hier nicht sein. Es gibt den Feind im eigenen Land, die ethnischen Minderheiten, Roma und Juden. Wenn wir nicht schon in der EU wären, heute würde man uns nicht mehr hineinlassen“, sagt Sandór Radnóti und schaut aus dem Fenster seine (sic!) Arbeitszimmers hinüber aufs Budaer Ufer der Donau, wo sich die Monumente der ungarischen Geschichte friedlich aneinanderreihen. Tatsächlich stellt Ungarn mit seiner neuen Verfassung das EU-Prinzip entschärfter nationaler Gegensätze auf den Kopf.

Wie treffsicher sind derartigeVorwürfe, wenn man bedenkt, dass Ungarn ein sehr weit reichendes Minderheitenrecht hat, dass z.B. die Bildung von Selbstverwaltungskörperschaften auf beinahe allen Ebenen der Staatsverwaltung erlaubt? Ein Minderheitenrecht wie in Ungarn ist in keinem der umliegenden Länder in Kraft. Zudem werden die Minderheiten von der Verfassung ausdrücklich als „Teil der politischen Gemeinschaft“ bezeichnet. Ausgrenzungsvorwürfe, die Jandl jedenfalls nicht mit der geltenden Rechtslage belegen kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Wer die neue ungarische Verfassung kritisieren möchte, wird zahlreiche Punkte finden, die man an dem Text aussetzen kann. Christian Boulanger und Max Steinbeis haben dies in ihrem ZEIT-Beitrag bewiesen. Der Autor Jandl jedoch möchte, offenbar wegen seiner fehlenden Detailkenntnis, lieber die „große Story“ von der Diktatur erzählen. Dass es in Ungarn genug Menschen gibt, die man, wenn man diese Intention hat, als „Beleg“ anführen kann, mag sein. Recht haben muss Jandl mit seinem bedauerlicher Weise auch auf unwahren Tatsachenbehauptungen aufbauenden Zerrbild dennoch nicht. Die WELT hat es sich offenbar zum Ziel gesetzt, die Mär vom „Führerstaat Ungarn“ weiter zu pflegen – derartiges hat übrigens auch Péter Eszterházy als „haarsträubend“ bezeichnet.

6 Kommentare zu “WELT: „Fidesz über alles“

  1. Gut dass hungarian voice wenigstens C. Ungváry mag. Nun schrieb Jandl folgendes, was doch korrekt ist:
    „Was unter dem Stichwort der Evaluierung läuft, kann ökonomisch oder eben politisch begründet sein. Auch Ungvárys Job am Institut zur Erforschung der Geschichte des Jahres 1956 wird es bald nicht mehr geben. Das Haus wird wie bisher schon 39 andere Stiftungen geschlossen. Die Mitarbeiter werden von der Nationalbibliothek übernommen. In der neuen Verfassung mit ihrem amtlich festgeschriebenen Geschichtsbild sieht Ungváry einen Eingriff in die Forschungsfreiheit der Historiker. Die Behauptung von Fidesz, die bisherige Verfassung habe stalinistische Reste enthalten, sei lächerlich, sagt Krisztian Ungváry, das neue Grundgesetz erinnere jedenfalls in manchem an die autoritären Dreißigerjahre. Im Gefolge von Ungarns Reideologisierung herrscht am rechten politischen Rand reges Treiben. In den Fidesz-Medien gibt es von der Verherrlichung der Waffen-SS bis zum gewöhnlichen Antisemitismus alles, was sich auch die rechtsradikale politische Konkurrenz wünschen würde. “

    hungarian voice was meinen Sie dazu? Hat Ungváry übertrieben, oder Jandl nicht korrekt zitiert?

    • Zunächst müssen wir festlegen, was ein Ungváry-Zitat ist. Ich denke, nur diese Passage kommt hierfür in Betracht:

      Die Behauptung von Fidesz, die bisherige Verfassung habe stalinistische Reste enthalten, sei lächerlich, sagt Krisztian Ungváry, das neue Grundgesetz erinnere jedenfalls in manchem an die autoritären Dreißigerjahre.“

      Insbesondere die Passage ab „Im Gefolge“ ist m.E. keine Wiedergabe von Ungvárys Worten. Erkennbar am fehlenden wörtlichen Zitat bzw. an der fehlenden Verwendung des Konjunktivs. Da spricht also derselbe Jandl, der uns so viel Blödsinn auftischt. Auf Ihre Frage: Ich weiß nicht, ob Jandl Herrn Ungváry korrekt zitiert hat. Ich war bei dem Gespräch der Herren nicht dabei.

      Richtig ist, dass
      a) die aktuelle Verfassung nichts stalinistisches mehr in sich hat und
      b) das Geschichtsbild in der Präambel – was die Jahre 1944-1990 angeht – kritikwürdig ist, weil es der „Nation“ unangenehme Fragen vor der historischen Verantwortung ersparen will.

      Einen Eingriff in die Forschungsfreiheit sehe ich – anders als Ungváry – hierin nicht. Er wird weiterforschen können (und soll dies als einer der glaubwürdigsten Historiker Ungarns auch tun!). Wo die Verfassung an die 30er Jahre erinnern soll, weiß ich nicht. Jandl teilt es uns leider nicht mit.

  2. hungarian voice,
    vielleicht denkt jandl an den pathetischen stil während der dreißiger Jahre.
    allerdings habe ich noch etwas bei jandl gefunden was nicht korrekt ist. er meint Horthy wäre faschistisch gewesen. das glaube ich nicht, denn M.H. war ein produkt der k.u.k. und sein regime war halbfeudal und z.T. autoritär, jedoch nicht faschistisch. Denn mit gewissen Einschränkungen war die Sozialdemokratie legal in Ungarn und Népszava erschien bis zum Tag der deutschen Besatzung.
    Allerdings stimmt das, was Jandl über die fidesznahen Medien schreibt. Da ist manches nicht nur total verlogen, sondern der Stil einiger Schreiber dort erzeugt Brechreiz.

    • Was Ihre letzten beiden Sätze angeht, so gab und gib es zwischen uns in diesem Punkt keinen Dissens. Im Bezug auf den angeblichen „Horthy-Faschismus“ so stimme ich Ihnen ebenfalls zu. Viele der heutigen Antifaschisten sollten in diesem Punkt bei Ihnen eine Geschichtsstunde nehmen – die inflationäre Verwendung des Begriffes „Faschismus“ führt auf ein „vakvágány“ (für die nicht ungarisch Sprechenden: ein totes Gleis).

  3. Im jüngsten US State Department Menschenrechts-Bericht über Ungarn ist nicht nur Lob enthalten.
    Leider aber bemerkt nur die eine – eher rechte – Seite die argen Manipulationen des königlichen Fernsehens und der fidesznahen Medien während die andere Seite jeden Fehler der Fidesz kritisierenden Medien anmerkt.
    Per saldo habe ich bei ATV noch keine solchen Manipulationen bemerkt, wie bei der Berichterstattung über Cohn-Bendits Aussagen in Budapest.

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