Wie der Schweizer „Tages-Anzeiger“ heute sinngemäß konstatierte, geriet die Debatte um das Programm der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft zu einem Armutszeugnis. Die Mehrheit der Blätter, eben jener, die seit Wochen das ungarische Mediengesetz mit zum Teil unzutreffenden Argumenten attackiert hatteen, sahen – wen wundert es – das EU-Parlament als Sieger des Tages. Orbán sei „gegrillt worden“ (Spiegel). Klarer Punktsieg, zurück zur Tagesordnung? Nein. Es gibt auch eine andere Lesart.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass das ungarische Mediengesetz kritikwürdige Paragraphen enthält, über die eine sachliche inhaltliche Debatte geführt werden sollte. Genau dies wurde jedoch von Anfang an verfehlt. Die Verantwortlichen sitzen – wie so oft – in verschiedenen politischen Lagern oder fühlen sich diesen zugehörig. Und natürlich hält jeder die anderen für den wahren Täter.
Da wäre zum einen die ungarische Regierung, die das Gesetz mit ihrer parlamentarischen 2/3-Mehrheit durch das Hohe Haus boxte, ohne ernsthaften gesellschaftlichen Dialog hierüber zu suchen. Man sah sich nicht nur in schier überwältigender demokratischer Legitimität bestätigt, alles zu tun, was dem Programm der „nationalen Einheit“ diente, sondern hoffte offenbar, die Reform des Medienrechts ohne große Aufruhr umsetzen zu können. Der damalige Parlamentspräsident Pál Schmitt, heute Präsident der Republik, wartete mit der Ausfertigung des Gesetzes sogar ungewöhnlich lange ab, um eine präventive Normenkontrolle seines Vorgängers László Sólyom zu verhindern. Diese fehlende Dialogbereitschaft des Fidesz, gepaart mit einigen unklaren Regelungen im Gesetz, ließen Unruhe aufkommen. Als das Gesetz dann verabschiedet wurde und dies auch noch mit dem Beginn der Ratspräsidentschaft zusammenfiel, war das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Wohl selbst von der Kritik überrascht, versucht Ungarns Regierung seit Wochen einen Rückzug ohne Gesichtsverlust und verweist auf seine Bereitschaft, das Gesetz zu ändern, wenn es europarechtliche Bedenken aufwerfe. Gleichzeitig verbittet man sich Einmischung, Überheblichkeit und belehrende Töne. Mitunter durchaus zu Recht. Jedoch sollte man sich als Regierungschef davor hüten, jede Kritik an einer Arbeit als „Beleidigung der Ungarn“ zu qualifizieren, nur um seinen eigenen Wählern in Ungarn seine Kampfesbereitschaft zu demonstrieren. Insofern hat Orbán, selbst wenn er in Anbetracht der Ankündigungen zur heutigen Sitzung in Straßburg keine andere Möglichkeit sah, das EU-Parlament für ein innenpolitisches Schaulaufen zweckentfremdet („Seht, ich lasse mir nichts gefallen“).
Was uns zum zweiten Partizipanten und Mitverantwortlichen für das heutige Desaster im EU-Parlament führt: Zu Teilen der europäischen Presse. Seit 22.12.2010, zu einem Zeitpunkt also, als das Gesetz in seiner Endfassung (es wurden in letzter Minute ca. 150 Änderungsanträge eingebracht) weder auf ungarisch, geschweige denn auf englisch oder deutsch verfügbar war, berichteten die Agenturen, Zeitungen und sonstige Medien über die Normen, ohne den Gesetzestext überhaupt zur Kenntnis genommen haben zu können. Ein in der Tat seltener Vorgang, der nicht nur die Frage nach der Professionalität der Presse aufwirft, sondern auch danach, wer z.B. die Falschinformation, „unausgewogene Berichterstattung“ werde mit ruinösen Geldstrafen bedroht, lanciert hat. Letztere – spätestens seit 06.01.2011 widerlegte Falschmeldung hält sich, wie die ZDF-Heute-Sendung vom 19.01.2011 beweist, bis dato. Selbst die deutsche Botschaft teilte Ende Dezember 2010 mit, es könne mangels Kenntnis vom Gesetzestext noch keine inhaltliche Stellungnahme erfolgen. Gleichwohl berichtete die Presse vom „Führerstaat Ungarn“, der „Putinisierung Ungarns“ (beides WELT) und rückte Ungarns zweifellos demokratisch gewählte Regierung in die Ecke einer finsteren Diktatur. Bemerkenswert auch die Schmähkritik des ZDF-Chefredakteurs Peter Frey, der Staatsferne predigt, jedoch selbst im Jahr 2009 durch heftige Interventionen der CDU – gegen den Vorschlag des Intendanten – zu diesem Posten gekommen war. Wer Kritik in solch einem Tonfall äußert und die öffentliche Meinung beeinflusst, darf sich nicht wundern, dass 1) Ungarn mit Sturheit reagiert und 2) Politiker versuchen, auf diesen Zug aufzuspringen, um sich vor der eigenen Wählerschaft als Hüter der Demokratie zu profilieren. Zu einer Versachlichung der Debatte und einem europäischen Dialog haben die meisten großen europäischen Tageszeitungen also nichts beigetragen. Gepaart mit rechtlich nur wenig fundierter Kritik an der Krisensteuer und einer geradezu lächerlichen Skandalisierung eines im Foyer des Brüsseler Ratsgebäudes ausgelegten Teppichs, der – neben vielen anderen Motiven – das Königreich Ungarn in den Grenzen von 1848 zeigt, erweckte manch eine Redaktion den Eindruck, es gelte nur noch, etwas negatives über das Land zu berichten. Bad news sell.
Zuletzt: Die EU-Parlamentarier. Während es aus den Reihen der europäischen Volkspartei zunächst nur wenig wahrnehmbare Zeichen gab, äußerten sich nach und nach einige konservative Politiker kritisch, warnten jedoch vor einer Kampagne und mahnten zur Sachlichkeit (Brok, Posselt, Langen). Alle traten dafür ein, die Kommission prüfen zu lassen und das Ergebnis abzuwarten. Ganz anders die Reaktionen aus den Reihen der europäischen Linken, Liberalen und Grünen: Man bekam den Eindruck, als gäbe es niemanden, der sich nicht mit der Stellung eines Hüters der Demokratie brüsten wollte. Teilweise auf Grundlage falscher Berichterstattung, forderten Politiker, über eine Aussetzung des Stimmrechts, die Aberkennung der Ratspräsidentschaft und über Sanktionen nachzudenken. Dieses Urteil sprach man, ohne eine Prüfung durch die EU-Kommission abzuwarten. Die selbsternannten Verfechter des Rechtsstaats entpuppten sich in ihrer Forderung, auf ein Prüfungsverfahren der Kommission zu verzichten, nicht nur als doppelzüngig, sondern dienten der kraftlosen ungarischen Opposition als Handlanger: „Seht nur, Orbán macht das Land international zum Parias.“ Die ungarische oppositionelle Presse nahm den Ball dankbar auf.
Doch es kam schlimmer: Heute hat man den Antrittsbesuch des Ratspräsidenten im EU-Parlament und eine thematisch eindeutig definierte Sitzung zu einem Volkstribunal über das juristisch umstrittende Gesetz eines Mitgliedstaates werden lassen. Zeigen wir Ungarn, wie Demokratie funktioniert! Hierdurch wurde – trotz aller berechtigter Kritik, deren Äußerung jedoch zuvorderst Aufgabe der Kommission als „Hüterin der Verträge“ ist – das einzige direkt demokratisch legitimierte Organ der EU zu einem Apparat zur Durchsetzung oppositioneller Kritik an den Handlungen einer Mitte-Rechts-Regierung umfunktioniert. Die Österreicher wissen, wie man sich hierbei fühlt. Dass die Schreihälse von heute das skandalöse slowakische Sprachgesetz – verabschiedet von einer (zwischenzeitlich abgewählten) sozialistisch-nationalistischen Regierung – zuvor kaum kritisiert hatten, spielt natürlich keine Rolle. Wir leben ja im hier und jetzt.
Alle oben genannten Beteiligten mögen sich ihrer Verantwortung bewusst werden. Hätten wir die sachlich auftretende und nüchtern handelnde EU-Kommission nicht, sähe es wirklich düster aus. Wer hätte geahnt, dass es die oft geschmähten „Eurokraten“ sein würden, die uns zeigen, was demokratischer Umgang ist. Kritik gegenüber souveränen Staaten ist eben auch eine Frage des Tonfalls.