Krisztián Ungváry: Präambel enthält verfälschte Darstellung der Ereignisse von 1944

Eigene Übersetzung eines sehr lesenswerten Beitrages des Historikers Krisztián Ungváry zur neuen Verfassung.

Quelle: http://index.hu/velemeny/jegyzet/2011/04/15/1944_megitelese_a_fidesz_kdnp-alkotmanyban/

Vor nicht allzu langer Zeit unterschrieb ich mit 41 Gleichgesinnten eine Erklärung, in der wir unsere Bedenken im Zusammenhang mit dem Verfassungsentwurf von Fidesz/KDNP zum Ausdruck brachten. Auf die Problempunkte der Verfassungsgebungsprozesses haben schon zahlreiche Autoren hingewiesen, es wäre überflüssig, diese hier nochmals aufzuzählen. Ich will mich nachfolgend nur mit einer einzigen Behauptung in der Präambel auseinandersetzen, da diese, wie ein Tropfen Wasser im Meer, die Unbrauchbarkeit der Gesamtarbeit aufzeigt.

Die Präambel führt aus: „Wir datieren die Wiederherstellung der am 19. März 1944 verlorenen staatlichen Selbstbestimmung unseres Vaterlandes auf den zweiten Mai 1990, die konstituierende Sitzung der ersten frei gewählten Volksvertretung.“ Diese Feststellung ist unwahr, inakzeptabel und fachlich nicht zu begründen, denn es wird uns einfach ein Teil unserer nationalen Geschichte geraubt. Aber ich beginne am Anfang. Das täte ich sonst nicht, aber nun will ich mich bemühen, in der ersten Runde möglichst keine eigenen Bewertungen abzugeben, schließlich möchte ich gerade dagegen argumentieren, dass ein Gesetz vorschreibt, wie man sich über historische Fakten zu äußern hat.

Nach der Besetzung Ungarns durch die Deutschen war das Parlament weiterhin unverändert tätig. Die Maßnahmen der Regierung Sztójay wurden von eben diesem Parlament ohne jeden Zwang beschlossen. Auf den einzelnen Abgeordneten, die im Jahr 1939 in allgemeinen und geheimen Wahlen ihr Mandat erringen konnten, lastete kein äußerer Druck. Die Regierung bestand ausnahmslos aus solchen Ministern, die auch schon zuvor Minister gewesen waren – sie taten ihre Arbeit nicht wegen eines Zwangs, sondern aus innerer Überzeugung. Die Maßnahmen der Regierung führten nicht zu landesweiten Streiks, sie hatten keine massenhafte Unzufriedenheit oder bewaffneten Widerstand zur Folge. Im Gegenteil. As Folge der schon lange vorbereiteten und praktisch ohne deutsche Hilfe (Eichmanns 50 Mitarbeiter standen 200.000 Offizielle in Ungarn gegenüber) durchgeführten „Arisierung“  kam es eine Zeit lang zum Anstieg des Lebensstandards. Die ausländischen Devisen, die Edelmetalle, wie auch das Preisniveau von Immobilien oder beweglichen Sachen fiel infolge der Maßnahmen der Regierung Sztójay auf nie geahnte Tiefstände.  Das Vermögen von 437.000 Menschen wurde enteignet, und sehr viele erlangten auf diese Weise Vermögenswerte, von denen sie früher nicht einmal zu träumen gewagt hätten.

Ich könnte auch andere Maßnahmen aufzählen, bei denen es Ansichtssache ist, ob man für sie moralisch einstehen muss oder ob sie den Nutzen des Landes mehren, aber es ist eine Frage der Fakten, ob das ungarische Parlament bei souveräner Entscheidungsfindung mehrheitlich zugestimmt hat oder nicht. Hierzu gehört auch der Beschluss, dass die königliche ungarische Armee weiterhin auf Seiten des Dritten Reiches am Krieg teilnehmen soll.

Es ist völlig richtig, dass der deutsche Einmarsch die Handlungsfähigkeit des ungarischen Reichsverwesers Miklós Horthy nachhaltig beschränkt hat. Die Souveränität von Regierung und Staatsoberhaupt ist aber nicht dasselbe. Wie heute auch, hat das Staatsoberhaupt schon damals nur die bei Wahlen zustande gekommenen Kraftverhältnisse abgesegnet. Der aktuelle Staatspräsident brachte zum Ausdruck, dass er keine Bremse, sondern ein Motor im System der nationalen Zusammenarbeit sein wolle – aber trotz aller Defizite bei seiner Unabhängigkeit käme niemand darauf, dass hierdurch die Unabhängigkeit Ungarns in Gefahr wäre. Auch die Begründung, Ungarn habe seine Unabhängigkeit verloren, weil auf seinem Gebiet fremde Truppen stationiert waren, trifft nicht zu. Dies war auch nach 1990 der Fall, aber die Anwesenheit von NATO-Truppen führt ebensowenig  zu allgemeiner Empörung wie 1944, als Truppen des verbündeten Deutschen Reiches in Ungarn eintrafen.

Wie ich schon erwähnte, raubt uns der Entwurf der Präambel einen Teil unserer nationalen Geschichte. Wenn das Land nämlich seine Unabhängigkeit nach der deutschen Besatzung verloren hätte, dann gehören (die beschämenden) Taten unserer Politiker, an die wir uns heute bei historischer Betrachtung erinnern und welche die Zusammensetzung der ungarischen Bevölkerung ebenso wie das bewegliche und unbewegliche Vermögen stark verändert haben, eben nicht in den Verantwortungsbereich der handelnden Personen. Die Verantwortung könnte ein anderer tragen. Nun, genau das ist das Ziel.

Der Entwurf der Präambel ist auch bei Zugrundelegung seiner eigenen Logik inkonsequent. So ist die Behauptung, die gegen den Bolschewismus kämpfenden Soldaten seien „Die Helden Europas“ gewesen (Titelblatt der Demokrata, 5.2.2004), schwer damit in Einklang zu bringen, dass man zugleich als Soldat für ein Land kämpfte, dass die nationale Unabhängigkeit verloren haben soll. Die als Puppen eines anderen eingesetzten Soldaten sind eben keine Nationalhelden.

Ich muss hinzufügen, dass der Verfassungsentwurf auch zu den Absichten der Entscheidungsträger des Jahre 1944 in völligem Widerspruch steht, denn diese trafen ihre Entscheidungen aus tiefster Überzeugung; und all jene im rechten politischen Spektrum, die die damals Handelnden auch heute noch als „positive Persönlichkeiten“ umschreiben, stimmen offenkundig auch diesen Entscheidungen zu. Ferenc Schiberna, das Oberhaupt des Burgkomitates Veszprém, ließ am 25. Juni 1944 ein Te Deum, einen Dankgottesdienst in der Franziskanerkirche von Veszprém durchführen, um die „historischen Taten“ der Regierung zu feiern. Der Bürgermeister von Debrecen, Sándor Balogh beschloss unter dem Titel „Nationale Vermögensmehrung“, wie mit den Vermögenswerten umzugehen sei, die den verbliebenen Bürgern anvertraut worden waren. (…) Die Verteilung wurde als „soziale Aktion von großer Bedeutung“ dargestellt und kodifiziert. László Endre, Staatssekretär im Innenressort, sagte, dass die Maßnahmen der Regierung erst von der „künftigen Generation“ richtig eingeschätzt werden könnten. Hat das damalige Ungarn mit all dem wirklich gar nichts zu tun? Wäre das keine ungarische Schande? Sollen wir wirklich die heutigen Nachkommen der Rechten davor bewahren, den Tatsachen ins Auge zu sehen?

Das alles betrifft keinesfalls nur die Verbrechen des 2. Weltkrieges. Die 1945 in Ungarn durchgeführten Zwangsumsiedlungen zu Lasten der deutschen Bevölkerungsminderheit wurden von der damaligen Regierung  nicht nur beschlossen, die Mehrheit des Kabinetts berief sich sogar auf die öffentliche Meinung und hob diese hervor – genau so, wie andere Mitglieder der Regierung dies ein halbes Jahr zuvor mit den Juden getan hatten; das Argument war in beiden Fällen, dass eine nationale Schicksalsfrage gelöst werden müsse und hierfür eine einzigartige Gelegenheit bestünde. Árpád Szakasits forderte Gnadenlosigkeit, Imre Kovács hätte die verbliebenen Schwaben am liebsten in geschlossene Ortschaften gepfercht, Géza Teleki sprach von der Bewahrung der „ungarischen Rasse“, Ferenc Erdei hielt es für wesentlich, dass man jeden zwangsumsiedeln dürfe. All das geschah deutlich vor der Potsdamer Konferenz – die übrigens die Zwangsumsiedlungen nicht verhinderte, sondern der ungarischen Regierung erleichterte. Nach der neuen Verfassung ist für all das nicht Ungarn verantwortlich. Es ist zwar richtig, dass keine einzige während der sowjetischen Besatzung arbeitende Regierung souverän war, aber aus der neuen Präambel folgt eben auch, dass mangels Selbstbestimmungsrecht auch die Verantwortung gleich Null ist. Dabei kann davon gar keine Rede sein, denn jeder Politiker verfügte über eine gewissen Handlungsfreiheit.

Jeder hat das Recht, die Geschichte nach Belieben zu deuten. Es ist die Frage eines Werturteils, ob wir die politisch Verantwortlichen des Jahres 1944 für Massenmörder oder nationale Helden halten. Allerdings täten wir alle gut daran, uns nicht von einer Verfassung oder sonstigen Rechtsnorm vorschreiben zu lassen, wie die Geschichte zu deuten ist. Wenn eine Rechtsvorschrift, insbesondere eine Verfassung, die Geschichtsschreibung bestimmt, dann sind nicht mehr wir, sondern eben diese Verfassung für das daraus entspringende Werturteil verantwortlich.

Niemand anders als die Täter müssen für ihre strafrechtlich relevanten Handlungen zur Verantwortung gezogen werden, und nach 1945 ist dies größtenteils auch geschehen – unter rechtlich mehr als problematischen Umständen. Verantwortung tragen aber auch die nachfolgenden Generationen, wenn auch nicht strafrechtlich: Es geht darum, die Geschichte anständig gegenüber zu stehen. Dieser Verfassungsentwurf behindert das.“

32 Kommentare zu “Krisztián Ungváry: Präambel enthält verfälschte Darstellung der Ereignisse von 1944

  1. Hungarian Voice. Nun habe ich oft genug mit Ihnen diskutiert und auch gestritten, diesmal aber danke ich Ihnen herzlich für diese Übersetzung. Im Gegensatz zum Staatssekretär Gál, der kein Historiker ist und indirekt die Änderung einer von seriösen Historikern, darunter auch C. Ungváry gestalteten Ausstellung forderte, ist C. U. ein genau arbeitender Historiker. Daher ist das ein wichiger Beitrag.
    Über die Volksgerichte nach 1945 gibt es auch unter Historikern divergierende Ansichten. Wie es ja auch in anderen Fragen solche gibt.
    Ein interessantes Detail noch zum Vergleich Einleitung zum deutschen Grundgesetz und der ungarischen Präambel, die deutsche Einleitung besteht aus 79 Wörtern (in Wirklichkeit nur aus 59, denn der Rest ist die Liste der Bundesländer von Baden-Würtemberg bis Thüringen), während die ungarische Einleitung aus 461 Wörtern besteht.
    Als ich – lange ist es her – Ungarisch lernte, betonten die Lehrer immer wieder „in der Kürze liegt die Würze“. Dieses Prinzip haben die Verfasser der vorgeschlagenen ungarischen Präambel nicht beachtet.

  2. Wieder einmal: vielen Dank für die Mühe der Übersetzung. Das ist eine hochinteressanter historischer Analyse.

    • @ Boulanger: Gerne. Möglicher Weise bringt Ungvary seinen Beitrag selbst noch in deutsch, er spricht unsere Sprache nämlich ganz hervorragend. So lange wollen wir aber nicht warten. 🙂

  3. Herzlichen Dank hungarianvoice für Ihr Engagement im Allgemeinen und diese Übersetzung im Konkreten.
    Die Argumentation von Ungváry ist, bereits von Herrn Boulanger festgestellt, schlüssig und höchst interessant.
    Ich möchte nur auf einen, allgemeinen „Knick in der Optik“ oder gar auf eine potentielle Doppelmoral von Ungváry aufmerksam machen.
    1. Aspekt: Fast jede Präambel, die konkrete (historische) Feststellungen trifft, ist demnach böse und permanent hinterfragenswert. Das gilt für Präambeln (ehemals) sozialistischer Staaten -hier könnte man den Unwertgehalt auch anderwärtig feststellen- genauso wie für jene der (etwas schwülstigen) israelischen und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Bei Letzterem werden etwa der britischen Krone Vorwürfe gemacht, die von Historikern wohl auch (zumindest teilweise) in Frage gestellt werden könnten.
    2. Aspekt: Es gibt viele gesetzliche Bestimmungen, die historische Tatsachen normieren und deren Infragestellen sogar unter Strafe gestellt wird. Herr Ungváry hat also kein Problem damit, dass in vielen Ländern die Leugnung des Holocaust unter empfindliche Strafen gestellt ist. Wenn man seiner Logik folgt, wurde die politisch-moralische Verantwortung dafür auf ein Gesetz (das wir ja alle einhalten) out-ge-source-t.
    Wenn man die Präambel (sofern sie in dieser Form beschlossen wird) mit § 269c Btk (Verbot der Leugnung von national-sozialistischen und sozialistischen Verbrechen) in Verbindung bringt und gesetzeskonform/ geltundserhaltend betrachtet, kommt man zum Ergebnis, dass die Präambel im Gegensatz zum zitierten Strafgesetzbuch keine normative Kraft entfaltet. Die Feststellung, dass 1944 bereits National-Sozialismus in Ungarn ausgebrochen ist, kann jedoch rechtserhebliche Bedeutung in der Auslegung der Verfassung (und von anderen Gesetzen) zukommen. Daher ist die Leugnung der Enteignung von sehr vielen ungarischen Juden 1944 weiterhin unter Strafe.
    Es sei dahingestellt, ob Herr Ungváry im Ergebnis wirklich haben möchte, dass zwar offiziell das autoritäre Königreich Ungarn für das Unrecht verantwortlich ist, aber dass dieses Unrecht auch gleichzeitig geleugnet werden kann, weil es nicht national-sozialistischen Ursprungs ist.

  4. corvinus83
    Es gibt zwischen einer Verfassung und einem Gesetz ein Unterschied. In Österreich verbietet das Gesetz die Leugnung, Verharmlosung und Gutheißung der nationalsozialistischen Verbrechen. Da geht es nicht darum, historische Diskussionen zu verbieten oder zu behindern. Die Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen hat eine politische Motivation und so wie man nicht leugnen kann, dass es einen Ersten Weltkrieg gegeben hat, kann man auch nicht leugnen, das was durch viele Prozesse in Deutschland und in Österreich bewiesen ist, dass es einmalige nationalsozialistische Verbrechen gab.
    Warum also will jemand ausgerechnet diese Verbrechen leugnen? Hat das etwas mit seriöser Geschichtsschreibung zu tun? Gibt es einen seriösen Historiker, der die nationalsozialisitischen Verbrechen leugnet?

  5. Ich bin vollkommen ihrer Meinung, Herr Pfeifer. Warum muss man jedoch gesetzlich sanktionierte Denkverbote festschreiben, wenn es sich um notorisch bekannte Wahrheiten handelt? Ein anderes Beispiel: Warum soll ich nicht behaupten dürfen, dass die Erde keine Kugel ist? Der Spott meiner Mitmenschen wird mich ausreichend bestrafen.
    Die Gesetze, welche die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellen, sind juristisch bedenklich, weil sie nicht nicht nur gegen das Recht auf Meinungsfreiheit (das lässt sich noch argumentieren, siehe sogleich), sondern die staatliche Pflicht zur gleichen Behandlung von Gleichem verletzen. Warum dürfen in Österreich/ Deutschland/ Ungarn die Greueltaten von Mussolini oder Pinochet geleugnet werden, jene von Hitler aber schon?
    Eines der wenigen, stichhaltigen rechtswissenschaftlichen Argumente, welches die Notwendigkeit des Verbots der Holocaustleugnung rechtfertigt, ist der Opferschutz.
    Und genau da möchte ich mit meiner Kritik an der Ungváry-Argumentation anknüpfen (vielleicht habe ich vorher in der Eile zu verklausuliert geschrieben): Wenn die Enteignung bzw Deportation von ungarischen Juden 1944 nicht das (ideologische) Werk der Nazis ist, ist die Leugnung dieser Verbrechen nicht verboten, weil das Strafgesetzbuch nur die Leugnung/ Verharmlosung kommunistischer und national-sozialistischer Greueltaten verbietet. Da jedoch die Verfassungspräambel (die keinen eigenständigen normativen Wert hat, sehr wohl aber bei der Auslegung der Verfassung und der anderen Gesetze eine Maßschnur sein kann) diese Handlungen den Nazis zuschreibt, dürften ebendiese historischen Handlungen nicht geleugnet oder verharmlost werden.

  6. corvinus83
    ich habe meinen Standpunkt in einem langen englischsprachigen Artikel, den Sie auf

    http://www.engageonline.org.uk/journal/index.php?journal_id=10&article_id=40

    finden erklärt. Da ich annehme, dass sie diesen lesen können erspare ich mir auf ihr Posting im Detail einzugehen.

    Ich habe seinerzeit heftige Diskussionen mit einigen führenden SZDSZ Politikern darüber geführt. Die glaubten, die ungarische Gesellschaft sei mit der amerikanischen der USA gleich zu beurteilen. Sie lehnten es ab, dem österreichischen und deutschen Modell zu folgen. Das Resultat ist bekannt.

    Die Frage ist immer eine der Interessenabwägung. Ich bin noch immer für unser NS-Verbotsgesetz, hoffe aber, dass unsere Gesellschaft in nicht allzuferner Zukunft kein solches Gesetz braucht.

  7. Die Präambel ist als „identifitätsstiftend“ gemeint, laut Miklós Király (http://www.hungarianreview.com/article/constitutional_governance_and_the_common_good) ist „Identitätsstiftung“ mit eine Pflicht des Staates, da es zum Gemeinwohl beiträgt, und das Gemeinwohl zu fördern sei nun mal die zentrale Aufgabe des Staates.

    Da stellt sich angesichts des hier diskutierten Punktes die Frage, ob Geschichtsbeschönigung, also kollektiver Selbstbetrug, zum Gemeinwohl beitragen, also das Wir-Gefühl und die Ausrichtung an positiven Werten stärken kann.

    Vom Historischen her ist es ja klar – Ungarns Schuld ist leider gross, und die Passage der Präambel schneidet diesen Schandfleck aus der ungarischen Geschichte aus. (Ich kann aber auch das Gegenargument anerkennen: Ohne die Besetzung duch deutsche Truppen wäre die Geschichte anders gelaufen, und ebenso ohne die Besetzung durch sowjetische Truppen, insofern hat die Präambel einen legitimen Punkt).

    Meine Frage ist, ob Selbstbetrug unbedingt eine schlechte Sache ist. Ich möchte soweit gehen zu sagen, dass im Grunde jede Nation ihr Selbstverständnis auf irgendwelche Mythen aufbaut, die einem näheren Blick oft nicht ganz standhalten. Schlecht ist das nur dann, wenn aus dem Mythos Böses fliesst, in diesem Fall also, wenn der Selbstbetrug und die darauf bauende „Identität“ zu neuer Gewalt führen könnte. Ansonsten ist es harmlos und hat vielleicht sogar etwa Gutes.

    • Die Erfahrung Österreichs zeigt, dass Selbstbetrug sogar dann wenn andere Länder dagegen keinen Einwand erheben, am Ende dem Land Schaden zufügt.
      Denn einmal kommt die Wahrheit heraus und da kann man mit nationalem Narcismus (nicht Nazismus) bei Wahlen kurzfristig punkten, doch a la longue können Heilungsprozesse nur bei wahrheitsgetreuer Geschichtsschreibung erfolgen.
      Bekanntlich erkannten die Alliierten während der Moskauer Konferenz 1943 an, dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus war. Darauf basierte Österreich nach der Befreiung seine Staatsdoktrin. Doch 1986 während der Kampagne des späteren Bundespräsidenten Kurt Waldheim geriet die Doktrin ins Wanken.
      Freilich war der Staat Österreich, der ausgelöscht wurde Opfer. Doch nirgendwo sonst im von Deutschen besetzten Europa konnte die lokale Armee binnen 48 Stunden in die Wehrmacht eingegliedert werden. Von den 126 Soldaten und Offizieren des österreichischen Bundesheeres, die den Eid auf Hitler nicht leisteten, waren 123 jüdischer Abstammung.
      1991 erkannte der damalige sozialdemokratische Kanzler Vranitzky die Mitverantwortung von Österreichern dafür an, was in Österreich zwischen 1938 und 1945 geschah.
      Und nun zu Ungarn: Nachdem Staatssekretär Gál sein unglückliches Selbstinterview publizierte gab es nicht nur den Brief, den auch C. Ungváry unterschrieben hat, sondern auch die Überlegung bei einigen Fideszpolitikern, ob denn eine solche krude Geschichtsumschreibung – wie von Gál vorgeschlagen – ihrem Image nicht zusätzlichen Schaden verursachen würde, und nacheinander haben einige Fidesz Politiker bzw. Intellektuelle sich davon implizit distanziert.
      Kullancs hat lobenswerter Weise darauf hingewiesen, dass heuer der Staat den Gedenktag, den ja eine Fidesz-Regierung beschlossen hat, mit intensiven Einsatz begeht. Hoffentlich versucht man nicht den Weg des Selbstbetrugs zu gehen.

      • @ Karl Pfeifer: Das Problem der selektiven Geschichtswahrnehmung ist in Ungarn ein Problem. Ungváry hat einen hervorragenden Aufsatz „Belastete Orte der Erinnerung“ (ist über die Suchfunktion zur Bundeszentrale für politische Bildung verlinkt) geschrieben. Ich sehe die Ursache darin, dass insbesondere seit 1945 versucht wird, die Geschichte politisch zu instrumentalisieren (in gewisser Weise war das – soweit Trianon betroffen ist – auch schon unter Horthy der Fall).
        Ob „Arbeiterklasse“ oder „Nation“, der Feind war immer woanders. Leider kommt die Politik kommt bis heute nicht von dem Versuch davon weg, mitunter das große Kollektiv von Verantwortung freisprechen zu wollen. Nach 1945 galt die Arbeiterklasse in der offiziellen Variante als „rein von Schuld“, die Ungarndeutschen und die Deutschen sollten schuld am Krieg und auch am Massenmord gewesen sein. Bekanntlich waren massenhaft Pfeilkreuzler in die Kommunistische Partei eingetreten, so konnte man dieser Masse an Menschen unangenehme Fragen ersparen. Der Kampf gegen Faschismus war somit gleichzeitig ein Kampf gegen andere (Deutsche, Imperialisten, Kollaborateure usw.). Nach 1990 wollte man im Mainstream nichts mehr vom Kommunismus wissen, Wendehälse gab es auch hier. Die Sozialisten verharmlosen ihre eigene Geschichte, und von konservativer Seite betont man die Verbrechen des Kommunismus, und hebt das „Kollektiv“ Nation hervor. Denn die Nation habe ja mit dem Kommunismus nichts zu tun gehabt. Klingt für national eingestellte Menschen toll, ist aber falsch. Eine Gesellschaft und damit jedes Mitglied derselben muss sich mit der Vergangenheit befassen. Punkt. Über die Art und Weise gilt es zu streiten. Ich für meinen Teil fühle dabei weder eine strafrechtliche Verantwortung noch verkappte „Vorwürfe“. Interessant ist, dass die Debatten, die heute in Ungarn über das Thema Geschichtsbewältigung geführt werden, in Deutschland auch och in den 1990-er Jahren liefen.

  8. Hungarian Voice: Danke für den Hinweis auf den Ungváry-Artikel.

    Da ist viel Wahrheit in dem was Sie schreiben. Nur Geschichte wurde schon immer instrumentalisiert.
    Das tat schon das Horthyregime und vorher gab es das auch während der Monarchie.
    Fidesz sendet sich widersprechende Signale aus. Einerseits darf im ungarischen Parlament ein Abgeordneter von Jobbik ohne Widerspruch den Holocaust verharmlosen, wird in ein paar Tagen diese verlogene Präambel beschlossen. Anderseits sagen Fidesz Politiker diese Tage durchaus richtiges über diesen Gedenktag.

    Ich habe bei diesen Postings ein Problem: weise ich hin auf einen meiner Artikel, kommt der Vorwurf, ich mache mir selbst Reklame, tue ich es nicht, wird angezweifelt, dass ich diese Stellungnahme bereits vor Jahren, also vor dem April 2010 publizierte. Es ist eine Catch 22 Situation.

  9. Pingback: Krisztián Ungváry über die Judenverfolgung: Schieben wir nicht alles auf die Deutschen « Hungarian Voice – Ungarn News Blog

  10. 1.
    „Wenn das Land nämlich seine Unabhängigkeit nach der deutschen Besatzung verloren hätte, dann gehören (die beschämenden) Taten unserer Politiker, an die wir uns heute bei historischer Betrachtung erinnern und welche die Zusammensetzung der ungarischen Bevölkerung ebenso wie das bewegliche und unbewegliche Vermögen stark verändert haben, eben nicht in den Verantwortungsbereich der handelnden Personen. Die Verantwortung könnte ein anderer tragen. Nun, genau das ist das Ziel.“

    Das ist meiner Meinung nach ein gigantischer Trugschluss. Ich verstehe nicht, warum die Frage der moralischen und politischen Verantwortung direkt mit der Frage der Unabhängigkeit korrelieren soll. Nur weil Ungarn besetzt war (wenn man so will), beschränkt dies ja in keinster Weise die moralische und politische Verantwortung der Mitläufer und begeisterten Anhänger des Regimes.

    2.
    Eine interessante, sachliche Kritik von Ungvárys Artikel, leider nur auf ungarisch:

    http://toriblog.blog.hu/2011/04/19/1944_megitelese_ungvary_krisztian_cikkeben

  11. Da rate ich Rudolf das Selbstinerview von Staatssekretär András Levente Gál vom 19.3.2011 zu lesen. Der behauptet, die Annexionen, die Ungarn als Verbündeter von Hitlerdeutschland vorgenommen hat, hängen in keiner Weise mit der Deportation der von den ungarischen rassistischen Gesetzen (die strenger als die Nürnberger Gesetze waren) als Juden qualifizierten ungarischen Staatsbürger zusammen.
    42 Ungarische Historiker haben gegen die in diesem Dokument enthaltene historische Scharlatanerie protestiert:
    http://www.es.hu/print.php?nid=28377
    Nun habe ich den von Rudolf empfohlenen blog gelesen, bin aber nicht beeindruckt. Ich verlasse mich eher auf die Urteile von C. Ungváry, der Historiker ist.
    Es ist nämlich irrelevant, was der blogger getan oder nicht getan hätte, wäre er 1944 Abgeordneter des Parlaments gewesen. Relevant hingegen sind die Fakten, die C. Ungváry korrekt nennt.
    Relevant ist auch was der Historiker Szabolcs Szita bei einer Budapester Tagung über die Verantwortung der ungarischen Elite gesagt hat. Übrigens hat auch István Bibó über die Verantwortung der ungarischen Elite geschrieben.

    • Es ist mir ziemlich egal, was Levente Gál sagt, ich beurteile historische Fakten und moralische Fragen nicht anhand dessen, was Politiker sagen.
      Weiß auch nicht, was das Interview mit der von mir aufgeworfenen Frage und Kritik zu tun hat.

      Gerade Sie, sehr geehrter Herr Pfeifer, müssten meiner Kritik vollends zustimmen:

      Sie trennen ja die Frage der Verantwortung und die Frage der Unabhängigkeit auch immer:

      Erstens auch in dieser Frage:
      „In der Präambel, die einen Tag nach dieser Rede vom Parlament beschlossen wurde wird sinngemäß festgestellt, dass Ungarn zwischen dem 19.3.1944 und 1990 besetzt war. Das stimmt zwar, jedoch hat die von Horthy ernannte Regierung ohne Zwang und mit Begeisterung dafür gesorgt, dass die nach dem ungarischen Rassengesetz als Juden qualifizierten Personen außerhalb Budapests beraubt, konzentriert und dann deportiert wurden.“

      Zweitens auch sonst:
      Sie behaupten hier immer, die meisten Ungarn wären in irgendeiner Form Kollaboranten des Kádár-Regimes gewesen. Soweit ich das sehe, leiten Sie ja daraus moralische Konsequenzen ab. Dies durchaus zurecht. Ich bin auch der Meinung, dass Kollaboranten für ihre Taten verantwortlich sind.

      Gleichzeitig behaupten Sie, dass Ungarn zwischen dem 19.3.1944 und 1990 besetzt war.

      Wenn es für Sie klar ist, dass man moralische Verantwortung und Unabhängigkeit eines Landes trennen muss, ist Ihr Einverständnis mit Ungváry unerklärlich und unlogisch. Ungváry setzt ja in diesem Schreiben die zwei Fragen gleich.

      In der Präambel steht ja auch nichts über die Verantwortung. Lediglich eine juristische Feststellung über die Unabhängigkeit bzw. Selbstbestimmung des Landes.

      Wie Levente Gál das interpretiert, ist seine Sache. Nicht seine Interpretation steht in der Verfassung (zum Glück!). Lediglich der neutrale Satz.

      „Nun habe ich den von Rudolf empfohlenen blog gelesen, bin aber nicht beeindruckt. Ich verlasse mich eher auf die Urteile von C. Ungváry, der Historiker ist.“

      Der Blogger ist auch Historiker. 😉
      Außerdem verlässt man sich nicht auf die Urteile von irgendwem, weil er irgendwer ist, sondern weil die Fakten die er nennt und die Schlüsse, die er aus diesen Fakten zieht, stimmig sind.

      „Es ist nämlich irrelevant, was der blogger getan oder nicht getan hätte, wäre er 1944 Abgeordneter des Parlaments gewesen. Relevant hingegen sind die Fakten, die C. Ungváry korrekt nennt.“

      Relevant sind auch die Fakten, die der Blogger nennt.

      Relevant ist zum Bsp. der Umstand, dass mehrere Abgeordnete verhaftet wurden, dass antideutsch eingestellte Politiker in „Mauthausen Urlaub gemacht haben“, wie der Blogger schreibt.
      Relevant ist, dass man unter solchen Umständen wohl nicht davon sprechen kann, das Parlament sei „unverändert tätig gewesen“.
      Relevant ist, dass der bis dahin tätige Premierminister fliehen musste.
      Relevant ist, dass die Tätigkeit der neuen Regierung auf deutschen Druck hin sich geändert hat und dass Horthy tagelang über die Zusammensetzung der Regierung mit Reichsbotschafter Veesenmayer verhandelt hat, um z.Bsp. Imrédy zu vermeiden.
      Das sind ebenso relevante Fakten, wie auch die bedauerliche Tatsache, dass sehr viele begeisterte Anhänger des Regimes waren.

      Die Aufarbeitung der Geschichte wird sicherlich weder durch einseitige Selbstverdammung, noch durch die Abschiebung der Verantwortung geschehen.

      Der Blogger hat eine Menge an diskussionswürdigen sachlichen Argumenten gebracht. Ob sie richtig oder falsch sind, ob man mit diesen Argumenten einverstanden ist oder nicht, ist jedem selbst überlassen.

      Sie haben jedoch bis jetzt auf keine dieser Argumente reagiert, sondern mit Ihrem Kommentar für diejenigen, die kein ungarisch verstehen, den Anschein erweckt, der Blogger hätte lediglich geschrieben, „was er getan hätte“, ohne weitere Fakten zu nennen.

      Das stimmt jedoch nicht. Anstelle von derartigen,… – sagen wir mal höflich – … „Fehldeutungen“, wäre ich viel eher an Ihren SACHLICHEN Gegenargumenten interessiert.

      • Ich bin etwas in Zeitdruck, daher hier nur kurze Bemerkungen:
        Gál ist nicht irgendwer, sondern Staatssekretär und seine Meinung ist weit verbreitet.
        Wenn ich von Fakten schreibe, dann muss das nicht unbedingt mit einem moralischen Urteil einhergehen.
        Fakt ist die Mehrheit hat während der dt Besatzung und während der Kádárzeit keinen Widerstand geleistet.
        Wenn also auf das Risiko des Widerstands hingewíesen wird, und man Verständnis für die Zusammenarbeit hat, dann verstehe ich nicht die Entrüstung des Magyar Hirlaps und Heti Válasz heute, weil Agnes Heller 1959 die Ansicht der Kádárregierung gutgeheißen hat. Was man sich selbst zubilligt sollte man auch anderen zubilligen.
        Wer Widerstand leistet, der riskiert. Das weiß ich aus eigener Erfahrung nur zu gut. Und Menschen können auch ihr Verhalten ändern. Einige der Leute, die 1956 führend tätig waren, hatten eine stalinistische Vergangenheit. Schmälert das ihren Verdienst?
        Es gab auch Nazi, die zu Widerstandskämpfern wurden, z.B. der österr. Offizier Bernardis, der von den Nazi hingerichtet wurde.

        Dass der blogger Historiker ist, geht nicht aus seiner Stellungnahme hervor.
        Was die Verantwortung für die Ereignisse nach der dt. Besatzung angeht, hat das István Bibó 1948 in seiner Schrift über die Judenfrage nach 1944 bestens zusammengefasst.
        Natürlich könnte C. Ungváry auch irren, aber als Nichthistoriker akzeptiere ich in dieser Frage sein Urteil.
        Da ich unter Zeitdruck stehe, muss ich jetzt beenden.

      • Wenn Ihrer Meinung nach die Tatsache des Mitläufertums nichts mit der moralischen Verantwortung zu tun hat – weder im II. WK, noch im Kommunismus, dann… wo ist dann überhaupt das Problem? 😉

        „Und Menschen können auch ihr Verhalten ändern. Einige der Leute, die 1956 führend tätig waren, hatten eine stalinistische Vergangenheit. Schmälert das ihren Verdienst?“

        Nein, eh nicht.
        Wenn Sie die Sachen aber so sehen, dann versteh ich nicht so ganz, warum Sie andauernd darauf hinweisen und es Sie stört, dass Pozsgay bei der Verfassungsgebung mitgewirkt hat und in Fidesz auch Exkommunisten mitwirken. Sie haben halt ihr Verhalten geändert. 😉
        (Ich weiß, warum ich ein Problem mit dieser Situation habe.)

        „Natürlich könnte C. Ungváry auch irren, aber als Nichthistoriker akzeptiere ich in dieser Frage sein Urteil.“

        Das freut mich. Ich gehe somit davon aus, dass Sie ab jetzt als Nichtjurist das Urteil von Orbán Viktor, = diplomierter Jurist, über die Verfassung auch akzeptieren und dass Sie als Nicht-Volkswirtschaftler die Urteile von Matolcsy, = Diplom-Volkswirt, über die ungarische Wirtschaft ebenfalls akzeptieren. 😉

        Wenn Sie mal mehr Zeit haben, wäre ich weiterhin auf Ihre sachlichen Gegenargumente in Bezug auf jene Fakten, die der Blogger genannt hat, gespannt.

    • Da Sie Sympathisant von Frau Prof. Heller sind, bin ich neugierig, wie Sie auf den heute hier (ganz unten)

      TAZ-Blog: Ágnes Hellers „Objektivität“ hatte fatale Konsequenzen…

      online gestellten Kommentar von „terrier“ reagieren:

      „terrier
      Ohne Kommentar:

      http://www.magyarhirlap.hu//belfold/heller_helyeselte_a_veres_megtorlast.html

      Auf jeden Fall scheint es mir so zu sein, als hätten wir zumindest mal eine Person aus der von Ihnen immer erwähnten großen Menge jener Ungarn, die begeisterte Kollaboranten des Kádár-Regimes waren, gefunden.

      • An Hellers Auffassung, dass die „größte Gefahr in der konterrevolutionären bürgerlichen Restauration“ liegt, hat sich ja bis heute wenig geändert.

        Glücklich kann Frau Heller sein, deren Lebensgeschichte offenbar erst als „Dissidentin“ beginnt. Andere, mitunter gar die ganze ungarische Gesellschaft, genießen diese Gnade nicht. Und in Anbetracht dessen, wie Herr Pfeifer die ehemaligen Parteimitglieder im Fidesz kritisiert, wäre es interessant zu erfahren, was er zu Frau Hellers wenig rühmlicher Vergangenheit als Befürworterin des Niederschlagung des Aufstands sagt. Wäre Heller Fidesz-Politikerin, käme Herr Pfeifer aus dem Posten wohl nicht mehr heraus. 😉

  12. Rudolf man staunt, wenn in einer geschwätzigen Präambel die Geschichte umgeschrieben wird in dieser oder jener Form.
    Im Fall Pozsgay und anderer Kommunisten geht es nur um die Heuchelei, der Fidesz-Kommunistenriecher, die bei ihren politischen Gegnern beanstanden, dass dort ehemalige Kommunisten sind, während sie bei sich einige ehemalige Kommunisten und sogar ehemalige III/III und III/II Mitarbeiter haben.
    Wenn es um juristische Fragen gehen würde, dann würde ich mich an einen praktizierenden Juristen wenden und nicht an einen Politiker. Gegen mich wurden in Wien drei politische Prozesse geführt und ich führte dann vier Prozesse gegen meine Verleumder und am Schluss führte ich einen Prozess beim internationalen Menschengerichtshof gegen die Republik Österreich. Ich ließ mich von einem Juristen beraten und vertreten, nicht von einem Politiker.
    Natürlich spielt meiner Meinung nach Moral eine große Rolle in der Politik. Wenn Viktor Orbán versprochen hat, die Privatmiliz einer Partei mit zwei Ohrfeigen auseinanderzujagen und dies nicht tut, dann ist das, solange dies nicht geschieht ein gebrochenes Versprechen. Und diejenigen, die sich groß aufgeregt haben, weil Gyurcsány zugab das Volk belogen zu haben regen sich überhaupt nicht auf, wenn Fideszpolitiker dies tun.
    Wenn schon Moral, dann bitte nicht mit zweierlei Maß messen.
    Von den historischen Kirchen, die sich ja in erster Linie als moralische Institutionen verstehen, verlangen einige ihrer Mitglieder auch moralisches Verhalten.
    Und nun zu Frau Heller. Als Journalist habe ich mit Ihr zwei Interviews geführt. Ich habe einige Bücher von ihr gelesen und war davon beeindruckt. Die respektlose Art, wie man im Magyar Hirlap von ihr schreibt, wie man ihr Straftaten unterstellt und ihr sogar abspricht Wissenschaftlerin zu sein, sagt viel über das geistige Klima dort aus.
    Nun hat man entdeckt, sie schrieb wie so viele andere Ungarn 1959 einen Brief und bereute ihre Haltung zuvor. Das wird mit Schaum vor den Mund von Magyar Hirlap kritisiert. Würden die auch Sándor Csóori verurteilen, weil er Oden an Stalin schrieb? Und ist Agnes Heller als einzige damals zu Kreuz gekrochen? Wer sich mit der Geschichte des Kadarregimes befaßt hat, weiß dass nur ganz wenige die Position der radikalen Opposition durchhielten.
    Ich halte fest, Menschen ändern ihre Ansichten und man sollte eine aufrichtige Änderung auch akzeptieren. Ich selbst war bis 1979 überzeugt, dass Ungarn die lustigste….. Zufällig traf ich damals Mitglieder der demokratischen Opposition wie der allzufrüh verstorbene Soziologe Zoltán Zsille und der Historiker Miklós Szabó, die meine Augen öffneten und von denen ich – wie ich glaube – viel lernte.

    Was mir immer wieder auffällt, ist die Tatsache, dass die jetzigen Regierungspolitiker so tun, als wären sie noch immer im Wahlkampf und in einer Weise auf die geschlagene MSZP und sogar auf die nicht mehr existierende SZDSZ hinhauen, dass man staunt. Die grobe hemmungslose Sprache, die sie dabei verwenden spricht Bände.
    In Ungarn wurde viel Porzellan zerschlagen und es ist schon jetzt klar, dass auf Grund dieser Präambel sich kein nationaler Konsens us herstellen läßt, es sei denn der Wunsch die weltanschaulichen Gegner zu vernichten, würde verwirklicht werden.
    Jetzt ist es spät und ich hoffe Rudolf auf all die von Ihnen aufgeworfenen Probleme eingegangen zu sein.

    • Das Bemerkenswerte an Ihrer Haltung ist, dass Sie genau die Argumente zur Verteidigung Hellers bringen, die Sie gegen die „Wendehälse“ im rechten Spektrum anführen. Plötzlich ist Heller eine von vielen armen unterdrückten Menschen, die nur das getan haben, wie viele andere? Klingt nach Mitleid oder Entschuldigung. Diese Entschuldigung haben Sie aber, was die Ungarn im Allgemeinen angeht, nie gelten lassen. Die bezichtigen Sie des Mitläufertums. Irgendwie will dass nicht zusammen passen. Außer man folgt einer Logik: Die, die eine mir gefallende Auffassung vertrten, müssen um jeden Preis verteidigt werden.

      „Aufrichtigen“ Wandel in der Auffassung gestehen Sie Fidesz-Politikern nicht zu, so oft wie Sie das Wort III/III in ihrem Zusammenhang im Munde führen…

    • Ich versteh Sie nicht so ganz.
      Sie schreiben, die Geschichte sei in der Präambel umgeschrieben worden. Gleichzeitig schreiben Sie, es stimme, dass Ungarn vom 19.03.1944 bis 1990 besetzt war – das ist wortwörtlich dasselbe, was in der Präambel steht.

      Sie müssen sich schon für das eine oder das andere entscheiden.

      Okay, Frau Heller hat ihre Meinung aufrichtig geändert. Andere, vor allem fidesznahe Kommunisten, sind aber ein Problem.

      Ich bin da anderer Meinung. Für mich sind Menschen, die der kommunistischen Ideologie gefolgt sind, nicht die richtigen Personen für führende Positionen in der heutigen Demokratie. Egal, welcher Partei sie angehören.

      Um eines klarzustellen:
      Orbán Viktor hat niemals VERSPROCHEN, die Ungarische Garde mit zwei Ohrfeigen auseinanderzujagen. Er hat gesagt, man müsse mit der Garde so verfahren. Das war eine interne Rede, die damals sogar von der MSZP und SZDSZ als „geheime Öszöd-Rede von Orbán“ gehandhabt wurde. Ich weiß nicht, warum Sie sich bemühen, dies als offenes, offizielles Versprechen darzustellen.

      Das ändert natürlich nichts daran, dass es gut wäre, diese unsäglichen Garden ein für allemal aufzulösen bzw. zu verbieten.

      Wie auch immer, gute Nacht.

  13. Hungarian Voice und Rudolf also noch einmal von vorne.
    Ich habe mich gegen doppelte Maßstäbe gewandt. Die Tatsache, dass Fidesz bei seinen Gegnern Kommunistenriecherei betreibt, bei sich aber Kommunisten fördert finde ich heuchlerisch.
    Die Forderung alle ehemaligen Mitglieder der KP aus dem öffentlichen Leben auszuschalten ist unter diesen Umständen irrealistisch. Wer strafbare Tatbestände setzte, der gehört vor ein ordentliches Gericht. Für alle anderen gilt die Unschuldsvermutung. D.h. gleiches Recht für Alle.
    Und das gilt auch für Agnes Heller, die jetzt Opfer einer unglaublichen Schmutzkampagne ist. Wer die diesbezüglichen Texte von Magyar Hirlap liest und noch nicht auf jede Spur von Anständigkeit verzichtet hat, der wird darüber empört sein. Kein Wunder wenn auch eine Anzahl konservativer Ungarn sich vor Heller und die anderen Philosophen stellen. Ich will hier nicht wiederholen müssen, was ich anderen Ortes darüber geschrieben habe.
    Und es zählt für mich nicht, ob sie tatsächlich den Brief 1959 geschrieben hat oder nicht. Nach 1956 wurden nur „urbane“ Schriftsteller in das Gefängnis gesteckt. G. Illyés (Illés) hat vielleicht das wichtigste Gedicht „Ein Satz über die Tyrannei“ 1956 geschrieben, trotzdem ist ihm nicht ein Haar gekrümmt worden und Tatsache ist, dass G. Aczél die meisten ungarischen Intellektuellen – insbesondere die vom „népi“ oder völkischen Lager nach der Niederschlagung der Revolution 56 um seinen Finger gewickelt hat.
    Nur wenige wie Sándor Márai haben das Land verlassen und bis zum Schluß jeden Kompromiß abgelehnt. Wollen Sie aus dem bequemen Lehnstuhl heraus eine ganze Generation von ungarischen Intellektuellen verurteilen? Werfen Sie mir vor, dass ich dies nicht tue.

    Heute aber leben wir in der EU und es besteht kein Grund Verstöße gegen Menschenrechte hinzunehmen. Und auf die Umtriebe der Privatmilizen und Jobbik-Gendarmerie habe ich hingewiesen. Da kann das Schweigen und Wegschauen durch nichts gerechtfertigt werden.

    Im Gegensatz zu einigen, die hier posten, finde ich dafür keine Entschuldigungsgründe und kein Verständnis. Und die Diskussion darüber was Orban versprochen oder nicht versproche hat ist ein Nebengeleise. Die Frage ist doch warum die jetzige Regierung diese Umtriebe duldet. Sie wollte doch Ordnung schaffen und für die öffentliche Sicherheit sorgen. Wo in der EU gibt es noch rassistische Privatmilizen, die landauf landab marschieren und vom Staat geduldet werden?

    Was die Präambel betrifft rate ich den offenen Brief der 42 ungarischen Historiker, der am 1.4. in Élet és Irodalom publiziert wurde zu lesen. Deren Argumente finde ich stichhaltig.

    Ich hoffe, dass jetzt alles geklärt ist.

    • Der Antwort von hungarianvoice kann ich nicht viel hinzufügen, nur die zusätzlich Frage stellen, ob es nicht auch ein doppelter Maßstab ist, wenn eine Person, die 1959 die Niederschlagung der „Konterrevolution“ begrüßt hat (zu diesem Zeitpunk waren die Konsequenzen ja hinlänglich bekannt) und die jetzt auch das rechtswidrige Vorgehen der Polizei in bestimmten Fällen leugnet, als die große Beschützerin der Menschenrechte und des Rechtsstaates dargestellt wird und sie in dieser Position ihre Tournee durch Europa macht.
      Ist es kein doppelter Maßstab, dieses Verhalten als aufrichtige Wandlung vom Saulus zum Paulus zu bezeichnen, bei anderen Personen und bei der „großen Mehrheit der Ungarn“ diese Wandlung nicht zuzulassen und dabei als einziges Entscheidungskriterium ihre jetzige politischen Präferenzen zu benützen?

      „Wollen Sie aus dem bequemen Lehnstuhl heraus eine ganze Generation von ungarischen Intellektuellen verurteilen?“

      Wollen wir ja nicht. Sie sind ja derjenige, der die „große Mehrheit der Ungarn“ ganz pauschal des Mitläufertums beschuldigt (und anscheinend bei Heller und diversen anderen Personen, die tatsächlich tatkräftig Mitläufer waren, auch ENTschuldigt).
      Wobei mir immer noch nicht klar ist, was Sie mit Mitläufertum bzw. „haben sich nicht gewehrt“ meinen,…

      Dass die Jobbik-Privatmilizen marschieren können, ist höchst bedauerlich. Hieraus lässt sich jedoch kein Schluss auf die Ideologie von Fidesz ableiten, außer, wenn man annimmt, die Vorgängerregierung hätte dieselbe Ideologie gehabt. Unter dieser sind die Garden nämlich überhaupt entstanden und auch intensiver marschiert.

  14. @ Karl Pfeifer:

    Auch ich finde doppelte Maßstäbe kritikwürdig. Genau aus diesem Grund finde ich Ihre Unversöhnlichkeit gegenüber der ungarischen Gesellschaft, die ich aus Ihren Postings teilweise heraushöre, nur schwer vereinbar mit der Schutzhaltung gegenüber Menschen, die vielleicht Ihre heutige politische Aufassung über Ungarn teilen (Heller, Lendvai), aber ebenfalls Fehler gemacht haben könnten.

    Die Gesellschaft besteht eben nicht aus einem bloßen Kollektiv, das man – ohne einzelne konkret anzusprechen – kritisieren kann, sondern aus Individuen, deren Fehler man sich konkret ansehen kann.

    Zwei konkrete Beispiele: Jubelrufe auf die Kommunisten im Jahre 1959 (Heller) oder die Versorgung des Staates mit Informationen über Dissidententreffen bis in die 80er Jahre (Lendvai) sind für mich jedenfalls von höhrem Gewicht als die Lethargie (oder wie es ausdrücken: das Mitläufertum) eines Arbeiters in seinem Plattenbau in einem Budapester Außenbezirk. Wer die Lethargie und die Mitschuld der ungarischen Gesellschaft zu Recht brandmarkt, der muss meiner Auffassung nach auch die Hellers und Lendvais einer moralischen Betrachtung unterziehen. Sonst haben wir genau diesen doppelten Maßstab, der uns beide völlig zu Recht stört.

  15. HV
    „Auch ich finde doppelte Maßstäbe kritikwürdig. Genau aus diesem Grund finde ich Ihre Unversöhnlichkeit gegenüber der ungarischen Gesellschaft, die ich aus Ihren Postings teilweise heraushöre,“
    Sie sind anscheinend gehörgeschädigt oder identifizieren die ungarische Gesellschaft mit Orban, Bayer oder noch schlimmer mit den Rassisten von Jobbik. Ich finde, dass diejenigen, die mich auf unglaubliche Weise im regierungsnahen Magyar Hirlap beschimpfen unversöhnlich sind. http://pusztaranger.wordpress.com/2011/01/28/nachwehen-eines-artikels/
    Die können mir nicht verzeihen, dass ich schon als Jugendlicher einem aufgeblasenen ungarischen Nationalismus mißtraute und dass ich nicht so wie viele meiner Verandten von der königl. Ungarischen Gendarmerie in einen Viehwaggon gepeitscht werden konnte, damit ich mein Leben in Auschwitz-Birkenau ende.
    Ich finde es ziemlich gewagt, wenn ausgerechnet
    mir jemand Unversöhnlichkeit gegenüber Ungarn unterstellt. Ich habe als es riskant war, der ungarischen demokratischen Opposition Hilfe geleistet und mich für die katholischen Pazifisten in Ungarn eingesetzt, die lange Gefängnisstrafen verbüßen mußten. Sie werden mir hoffentlich nicht unterstellen, dass ich dies getan habe, weil mir diese Leute weltanschaulich nah waren. So wie Sie mir unterstellen, ich verteidige Heller und Lendvai weil die mir politisch nahestehen, nach Ihrem Urteil.
    Und wenn Sie noch hundert Mal die verlogenen zum Teil mit antisemitischen Tönen geführte Kampagnen gegen Heller und Lendvai rechtfertigen, bin ich zuversichtlich, dass solange es noch unabhängige ungarische Gerichte gibt – und da bin ich mir gar nicht sicher, ob es die noch lange geben wird – die ihr Urteil sprechen werden, die Wahrheit herauskommt. Schon haben einige Philosophen in erster Instanz gewonnen und hoffentlich wird das auch in zweiter Instanz passieren.
    Nun hoffe ich, dass jetzt alles klar ist.

    • „Sie sind anscheinend gehörgeschädigt oder identifizieren die ungarische Gesellschaft mit Orban, Bayer oder noch schlimmer mit den Rassisten von Jobbik.“

      Da ist er wieder, der Pfeifer´sche Diskussionsstil. Ich habe zu dem Thema alles gesagt.

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