Ungewohnte, geradezu großkapitalistische Worte von der TAZ. Ungarn wird für pleite erklärt („dazu muss man nicht gut rechnen können„), es habe nur noch eine Chance auf frisches Geld, wenn es „zu EU-Standards“ (bzw. zu dem, was einige Parteien als EU-Standards definieren) zurückkehre. Bei Fuß!
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Autorin Ulrike Herrmann ist bestechend treffsicher in ihrem Urteil: Ungarn ist pleite, basta. Anders sehen es die Analysten der Royal Bank of Scotland, die das Geschrei um die drohende Zahlungsunfähigkeit und die aktuellen Marktreaktionen (Käuferstreik bei den Anleihen, Druck auf die Landeswährung) für übertrieben halten. Bekanntlich sind Finanzmärkte (den Linken viel zu) unpolitisch, Unsicherheiten führen zu Kapitalabflüssen, wenn es bessere Alternativen für die Kapitalallokation gibt. Politische Gründe haben Finanzentscheidungen meist nicht, sonst wäre China längst erledigt.
Woran liegt der Unterschied in der Bewertung? Eine Vermutung: Der politische Wunsch, Druck auf Orbán auszuüben, beschert uns neue Koalitionen: TAZ meets global capital. Bemerkenswert, dass die Sozialisten auf EU-Ebene sonst über zu große Macht von US-Rating-Agenturen sprechen, und mit dem Gedanken spielen, man müsse die Finanzmärkte einbremsen. Die LINKE, der TAZ definitiv näher als Fidesz, spricht gar von Bankenverstaatlichung.
Der Wunsch nach einer gewissen Unabhängigkeit Ungarns von den Bewegungen an den Finanzmärkten endet jedoch an den politischen Trennungslinien: Plötzlich wird in der TAZ über die ausländische Krisensteuer schwadroniert, und darüber, dass Ungarn es gewagt habe, die Banken bei der Beseitigung der von ihnen mitverursachten Kreditkrise privater Schuldner heranzuziehen.
Ein wenig anders als Ulrike Hartmann sieht es der Chefredakteur des Pester Lloyd. Er gesteht trotz der durchgehend Orbán-kritischen Linie seines Blattes der Regierung wenigstens zu, beim Thema „Finanzmärkte“ die richtigen Fragen gestellt zu haben, wenn er auch Probleme mit der Antwort Orbáns hat. Marco Schicker im DRadio-Interview:
„Weil was Brüssel jetzt macht, ist ja im Prinzip, mit den Instrumenten eines alten, abgewirtschafteten Systems – also diesem System, was auf Schuldenlogik, auf Zins und Zinseszins beruht – Ungarn wieder unter Druck zu setzen. Orbán hat ja nicht umsonst die Systemfrage aufgeworfen und gestellt, die darin besteht zu sagen, kann es immer so weitergehen, dass wir uns abhängig machen vom internationalen Finanzmarkt, dass wir uns abhängig machen von völlig abgehobenen globalisierten Mechanismen, die gar nichts mehr mit dem eigentlichen demokratischen Prozess und dem Volkswillen zu tun haben.“
Dank Frau Hartmann wissen wir nun, dass die sonst von links so kritisch beäugten Finanzmärkte wenigstens noch als Drohkulisse taugen. Wer nicht spurt, soll kein Geld bekommen. Bei diesem Wunschdenken (das wohl kaum Realität wird) interessieren die vielen Millionen Ungarn, die keine Fidesz-Anhänger sind, offenbar nicht die Bohne: Sie wären es, die unter der Zahlungsunfähigkeit des Landes, sollte sie wirklich eintreten, ebenso leiden würden wie die Anhänger der Regierung. Aber wen interessiert das, die TAZ sitzt ja nicht in Budapest. Das Ziel entscheidet, und das steht fest: Orbán muss fallen, um jeden Preis. Der in Ungarn geborene Politologe Charles Gati, ein Bewunderer von Ex-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsánys brachte sogar die Aussage, notfalls gebe es Wege, die demokratisch gewählte Regierung Orbán auf „anderem als demokratischem Wege“ zu entfernen. Ganz wie bei den Streitkräften: Wir müssen die Demokratie bewahren, nicht selbst praktzieren. Schön, zu wissen, was wir von der Anti-Orbán-Koalition zu erwarten haben.
Die ungarischen Sozialisten haben gestern ebenfalls ihr „verantwortliches“ Handeln zum Wohl des Landes bewiesen: Sie stellten urplötzlich in den Raum, die Spareinlagen seien nicht mehr sicher. Heute widersprach die Ungarische Nationalbank – dabei ist ihr Präsident kein Orbán-Jünger. Ökonomisches Zündeln der Opposition, das unentschuldbar ist – und zeigt, warum die Menschen noch immer kein neues Vertrauen in diejenigen zurückgewinnen, die das Land von 2002-2010 abgewirtschaftet haben (Anstieg der Staatsschulden von 52% auf ca. 80% des BIP).
Wer die Realwirtschaft betrachtet, wird sehen, dass die Lage keineswegs so aussichtslos erscheint, wie die Weltuntergangsapostel behaupten:
http://www.ahkungarn.hu/fileadmin/ahk_ungarn/Dokumente/Wirtschaftsinfos/HU/Statistik/INFO_HU_Prognosen.pdf